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Ausgabe:

April/2001

Spalte:

404–406

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Niebuhr, Karl-Wilhelm [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Grundinformation Neues Testament. Eine bibelkundlich-theologische Einführung.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000. 418 S. mit 8Abb. 8 = UTB für Wissenschaft, 2108. Kart. DM 48,-. ISBN 3-525-03251-X.

Rezensent:

Jürgen Roloff

Heutige Theologiestudierende finden bekanntlich nur schwer einen Zugang zu den biblischen Fächern. Das liegt nicht nur daran, dass sie keinen zureichenden Fundus an Bibelkenntnissen mehr mitbringen. Auch die Ausdifferenzierung der Exegese in höchst spezielle Fragestellungen und die Subtilität der dabei angewandten Methodik wirkt eher abschreckend als ermutigend. In den letzten Jahren sind darum vor allem im Bereich des Neuen Testaments Arbeits- und Methodenbücher in wachsender Zahl erschienen, die versuchen, diesem Missstand abzuhelfen - dies allerdings mit recht unterschiedlichem Erfolg. Nicht selten stand bei ihnen ein angestrengt demonstrierter wissenschaftlicher Anspruch dem angestrebten Ziel einer Elementarisierung im Wege. Das ist bei dem vorliegenden Buch anders. In ihm hat die Elementarisierung absolute Priorität. Sie wird nicht als ein opus alienum, als eine lästige Nebenaufgabe der Wissenschaft betrieben, sondern in der Überzeugung, dass es sich dabei um eine zentrale Aufgabe handelt, die höchster Mühe wert ist.

K.-W. Niebuhr, der Herausgeber, konnte dabei Erfahrungen einbringen, die er während seiner - der Ausbildung von "Theologen im Nebenamt" dienenden - langjährigen Lehrtätigkeit im "Kirchlichen Fernunterricht" der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen gesammelt hatte. Dass es ihm gelungen ist, Mitautoren mit ähnlichen Voraussetzungen zu gewinnen und mit ihnen in mehrjähriger intensiver Gemeinschaftsarbeit ein kohärentes, in sich schlüssiges Arbeitsprogramm zu entwickeln, kann man wohl als Glücksfall bezeichnen.

Bereits der Aufbau des Buches zeigt, in welchem Maße es auf die Situation des vorausgesetzten Leserkreises eingeht. Er ist weder an Methodenproblemen, noch an theologischen Sachthemen, sondern an der kanonischen Reihenfolge der neutestamentlichen Schriften orientiert. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass "den meisten Menschen auch heute die ntl. Schriften als Teil der christlichen Bibel begegnen, nicht in der Perspektive wissenschaftlicher, insbesondere historisch-kritischer Exegese" (6). Die Bibelkunde hat also klaren Vorrang. Damit soll der naheliegenden Gefahr begegnet werden, wissenschaftliche Hypothesen ohne den Umweg über Bibelkenntnisse als Ergebnisse der Exegese mehr oder weniger passiv zu rezipieren. Von der Bibelkunde her werden dann freilich Schritt für Schritt jene historischen und theologischen Probleme erschlossen, die auf der Tagesordnung heutiger Exegese stehen.

Vorangestellt sind drei einführende Abschnitte. Der erste, "Das Neue Testament als Schriftensammlung" (K.-W. Niebuhr), informiert über Vielfalt und Verschiedenheit der neutestamentlichen Schriften hinsichtlich ihrer Verfasserschaft, Adressaten und Zielsetzung sowie über unterschiedliche literarische Formen und sprachliche Gestaltungsmittel. Aber auch die Einheit in der Vielfalt, die sich aus dem gemeinsamen Verweis dieser Schriften auf Jesus von Nazaret ergibt, wird hier ebenso zur Sprache gebracht wie die enge Zusammengehörigkeit von AT und NT samt dem dadurch implizierten Problem des Verhältnisses von Christen und Juden. Der zweite Abschnitt, "Vom Lesen des Neuen Testaments" (M. Bachmann), wertet die Ergebnisse heutiger sprachwissenschaftlicher und rezeptionsästhetischer Einsichten didaktisch geschickt aus, indem er von ihnen her methodische Hinweise für eine sachgemäße Bibellektüre entwickelt. Ebenso locker wie anschaulich leitet er auch zum Gebrauch von wissenschaftlichen Hilfsmitteln wie Wörterbüchern, Synopsen und Konkordanzen an. Der dritte Einführungsabschnitt, "Die Welt des Neuen Testaments" (R. Feldmeier), skizziert unter politischem, soziologischem, kulturellem, philosophischem und religiösem Aspekt den Kontext, in dem sich das früheste Christentum entwickelt hat. Dabei erfährt vor allem das Judentum eine höchst differenzierte Darstellung, die geeignet ist, herkömmliche pauschalisierende Klischees zu widerlegen. Die verschiedenen Gruppierungen werden vorgestellt, und ebenso wird über seine Neuorientierung nach 70 informiert, deren Ergebnis das "formative Judentum" war.

Das zentrale Corpus des Buches besteht aus sieben Abschnitten, in denen die verschiedenen neutestamentlichen Schriften bzw. Schriftengruppen vorgestellt werden: Synoptische Evangelien (R. Feldmeier), Johannesevangelium (M. Rein), Apostelgeschichte (F. W. Horn), Paulusbriefsammlung (K.-W. Niebuhr), Hebräerbrief (M. Bachmann), Katholische Briefe (F. W. Horn), Johannesoffenbarung (M. Bachmann). Die einzelnen Abschnitte sind jeweils nach dem gleichen Grundschema aufgebaut: (A) Bibelkundliche Erschließung - (B) Geschichtliche Einordnung- (C) Theologisches Profil - (D) Wirkungsgeschichtliche Hinweise.

Die bibelkundliche Erschließung (A) setzt jeweils mit einem knappen tabellarischen Aufbauschema ein, das anschließend kommentiert wird, so dass sich ein erster Eindruck des inhaltlichen Gefälles ergibt. Sodann werden die einzelnen Abschnitte nach Schwerpunktsetzung und Duktus charakterisiert, wodurch sich eine Art Kurzkommentar ergibt.

Die geschichtliche Einordnung (B) ist den Fragen nach Verfasser, Adressaten, Entstehungssituation, Einheitlichkeit bzw. Quellenlage, den klassischen Einleitungsfragen also, gewidmet. Sie ist durchweg sehr kurz gehalten und beschränkt sich auf die nötigsten Informationen. Kontroverse Sichtweisen werden in ihrem Für und Wider angedeutet, die von den Autoren selbst vertretenen Positionen deutlich herausgestellt und begründet. Diese Positionen können sich fast durchweg auf einen breiten kritischen Konsens berufen. (Ein wenig verwundert hat mich lediglich das Plädoyer für paulinische Authentizität des 2. Thessalonicherbriefs!) Das Bestreben, den Leserinnen und Lesern Anleitung zu kritischem Problembewusstsein zu geben, ohne sie durch die Diskussion zahlloser Hypothesen unnötig zu verwirren, ist durchweg spürbar.

Sehr viel stärker gewichtet ist die Behandlung des theologischen Profils (C). Hier geht es um die Herausarbeitung der jeweils zentralen Themen. Diese werden nicht nur hinsichtlich ihres sachlichen Gehalts beschrieben, sondern auch auf ihre Implikationen hin abgehorcht und innerhalb des Ganzen des Neuen Testaments verortet.

Beim Matthäusevangelium ergeben sich z. B. Ethik und Ekklesiologie als thematische Schwerpunkte. Dabei wird die Problematik der Forderung nach der "besseren Gerechtigkeit" angesprochen: Ergibt sich nicht aus der "Betonung der eigenen heilsgeschichtlichen und ethischen Überlegenheit" geradezu die Notwendigkeit des Nachweises "einer entsprechenden doppelten Unterlegenheit des pharisäisch-schriftgelehrten Gegenübers" (90)? Hier schließt die weiterführende Frage an, wie sich das Gerechtigkeitsverständnis des Matthäus zu dem des Paulus verhält (95 f.).

Als maßgeblich für das theologische Profil des Lukasevangeliums werden herausgestellt: die Darstellung Gottes als Anwalt der Opfer und Richter über Hochmut, Machtgier und Habsucht (119 ff.), die Geistchristologie, die Jesu Auftreten als Erfüllung der endzeitlichen Gegenwart des Geistes deutet (121), eine an Gebet und Umkehr orientierte Ethik (123), sowie eine zugleich paränetisierte und individualisierte Eschatologie (124f.). - Für die beiden Korintherbriefe werden als Schwerpunkte benannt: das Gegenüber von altem und neuem Bund (231) sowie die Auferstehung der Toten (233); für den Epheserbrief: die Kirche als "Leib Christi" (253).

Hilfreich und originell sind die wirkungsgeschichtlichen Hinweise. Sie nämlich enthalten Vieles, was dem intendierten Leserkreis beim Brückenschlag zwischen bereits Gewusstem und Erfahrenem mit der noch fremden Welt des NT helfen dürfte. Die Auswahl ist breit. Sie reicht von dogmatisch-theologischen Wirkungen über die Bedeutung einzelner Texte und Motive in Liturgie und Kirchenjahreskalender, in bildender Kunst, Dichtung und Musik bis zum Film. Auch hierzu ein paar Beispiele:

Als markante Positionen der Wirkungsgeschichte des Matthäusevangeliums werden die Franziskusregel und die von ihr bestimmten radikalen Armutsbewegungen des Mittelalters, die Gerichtsdarstellungen in den Tympana romanischer Kirchen (mit Abbildung!) sowie das Nachfolge-Motiv in seiner frömmigkeitsgeschichtlichen Bedeutung (bis hin zu D. Bonhoeffer) genannt. Dankenswerterweise wird aber auch die "Abqualifikation Israels" durch die Kirche als "dunkle Seite" dieser Wirkungsgeschichte zur Sprache gebracht (98). - Beim Lukasevangelium wird auf die Marienverehrung ebenso wie auf die Kapitalismuskritik der lateinamerikanischen Befreiungstheologen und die monastischen Stundengebete hingewiesen (126). - Der Römerbrief gibt nicht nur Anlass zur Bezugnahme auf Luthers reformatorischen Durchbruch, sondern auch auf K. Barth und die Anfänge der Dialektischen Theologie. - Die frömmigkeitsgeschichtliche Wirkung des Christushymnus Phil 2,5-11 wird anhand des Lutherliedes "Lobt Gott, ihr Christen alle gleich" (EG 27) und dessen Weiterinterpretation in der Bachkantate BWV 121 veranschaulicht, und 1Thess 2,15 f. wird zum Anlass, auf Möglichkeiten zu einem verantwortlichen Umgang mit einem "antijüdischen" Text des NT hinzuweisen.

Manches an dieser Auswahl ist gewiss subjektiv. Wie könnte es auch anders sein? Hin und wieder vermisst man Naheliegendes und Zentrales. So trifft man zwar anlässlich des Johannesevangeliums auf den sicher interessanten Hinweis auf M. Bulgakows Roman "Der Meister und Margarita" (172). Unerwähnt bleibt jedoch die Wirkung des JohEv auf die gnostische Bewegung und auf modernes Sektierertum. Bei der Johannesoffenbarung schließlich hätte man gern etwas über deren Bedeutung für chiliastische Bewegungen gelesen. Insgesamt jedoch sind die wirkungsgeschichtlichen Beobachtungen überwiegend treffsicher, informativ und anregend.

Der abschließende Abschnitt "Vielfalt und Einheit der neutestamentlichen Botschaft" (F. W. Horn) ist hermeneutischen Erwägungen gewidmet. Der biblische Kanon wird hier in seiner theologischen Bedeutung gewürdigt, und die viel diskutierte Alternative zwischen "Theologie des NT" und "Religionsgeschichte des Urchristentums" wird mit plausiblen Argumenten im ersten Sinne entschieden.

Viel Mühe und Überlegung haben die Autoren auch an formale Details gewandt. Das gilt zunächst für die übersichtliche graphische Gestaltung. Schaubilder, Überblicksschemata und Zeittafeln dienen der Veranschaulichung; Informationsblöcke fassen wichtige Ergebnisse zusammen; Definitionen einzelner Begriffe erscheinen in drucktechnisch hervorgehobenen kleinen quadratischen Kästen jeweils am Rand. Es gilt auch für die sich zielbewusst auf Zentrales beschränkenden Anmerkungen sowie für die treffsicher ausgewählten Literaturangaben.

Das Buch ist - alles in allem - ein runder, überzeugender "Wurf". Durchweg wird deutlich: Die Elementarisierung, wie sie in ihm scheinbar locker und unangestrengt geleistet wird, verdankt sich einem hohen wissenschaftlichen Reflexionsniveau. Es ist zwar ohne absichernde Seitenblicke auf die Fachkollegen geschrieben. Aber - so wenigstens die Erfahrung des Rez. - auch Fachkollegen können aus ihm manches lernen und sich dabei von der Freude der Autoren an ihrem Fach, die es ausstrahlt, anstecken lassen.