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Ausgabe:

April/2001

Spalte:

397–402

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lang, Manfred

Titel/Untertitel:

Johannes und die Synoptiker. Eine redaktionsgeschichtliche Analyse von Joh 18-20 vor dem markinischen und lukanischen Hintergrund.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999. 413 S. gr.8 = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 182. Lw. DM 138,-. ISBN 3-525-53866-9.

Rezensent:

Hartwig Thyen

Diese sorgfältige Untersuchung gehört fraglos zu den gewichtigsten neueren Beiträgen nicht nur zur spezifischen Frage nach dem literarischen Verhältnis des Johannesevangeliums zu den synoptischen Evangelien, sondern darüber hinaus zu dessen Interpretation überhaupt. Von einem sehr breiten Konsensus der kritischen Forschung getragen, galt den meisten die Unabhängigkeit des vierten von den drei älteren Evangelien als definitiv erwiesen. Insofern war die Frage lange buchstäblich gegenstandslos. Das gilt jedenfalls für die Forschung auf dem europäischen Kontinent. Denn wie die Kommentare von Hoskyns, Barrett u. a. zeigen, ist die Frage in England niemals derart ,totgesagt' worden. Vielmehr ist sie dort nicht nur äußerst virulent geblieben, sondern sie hat sich, wie die genannten Kommentare zeigen, darüber hinaus als höchst fruchtbar erwiesen. Und es mag ein positives Zeichen der zunehmenden Globalisierung auch der Exegese sein, dass die Frage nach dem Verhältnis des Johannes zu den Synoptikern zunächst in dem polyglotten Leuven unter der Ägide von F. Neirynck und M. Sabbe eine neue kontinentale Heimstatt und von diesem ,Brückenkopf' aus inzwischen eine weite Verbreitung gefunden hat; vgl. dazu etwa die Beiträge in A. Denaux (ed.), John and the Synoptics. BETL 101, Leuven 1992. Manfred Langs Buch ist ein beredtes Zeugnis dieser neuen Virulenz einer uralten Frage.

Das Werk ist "die leicht überarbeitete Fassung" (5) einer unter der Ägide von Udo Schnelle entstandenen Hallenser Dissertation. Von dem Gewicht seiner Inhalte abgesehen ist es zudem ein reines Lesevergnügen, und ich würde es jedem, der sich ernsthaft mit dem Johannesevangelium beschäftigen will, als Pflichtlektüre anraten. Es hat drei Teile, nämlich zunächst eine Einleitung, in der "Fragestellung und Methodik" der Untersuchung erörtert werden (11-60), danach - unter der Überschrift: "Redaktionsgeschichtliche Analyse" - den Hauptteil der Arbeit (61-306) und endlich, unter dem Titel "Der Auferstandene als der Gekreuzigte", eine thematische Erörterung wesentlicher Motive und Personenkonstellationen des Evangeliums im Licht der vorausgegangenen Analyse (307-342). Es folgen dann noch: (1) ein Ausblick auf die "Gesamtgliederung" des Evangeliums unter der Perspektive der zuvor aus der Erörterung der johanneischen Passions- und Ostererzählung gewonnenen Ergebnisse (343-347), (2) eine graphische Darstellung der Analyseergebnisse des Hauptteils (349-353), (3) ein überaus breites Literaturverzeichnis, in dem ich keine Lücken zu entdecken vermag (355-404), und endlich "(in Auswahl)" ein "Stellenregister" (405-413).

L. eröffnet seine Untersuchung mit einem "musikalischen Auftakt", nämlich mit Gedanken zum Eingangschor und zum Ende von Bachs Johannespassion, durch die er Bach nicht nur als einen wahrhaft kongenialen Interpreten dieses Evangeliums erweist, sondern zugleich die immer noch erschließende Kraft dieser Passion für jede dem Johannesevangelium angemessene Interpretation erweist. Außerdem präsentiert L. dem Leser mit diesem ungewöhnlichen Auftakt zugleich ein Stück des ,impliziten Autors' der folgenden Ausführungen und macht ihn gespannt auf die Lektüre.

Danach führt der Autor dann an den Gestalten dreier Exegeten, die als Repräsentanten des komplexen Feldes der Behandlung seiner Fragestellung im 19. Jh. glänzend ausgewählt und prägnant dargestellt sind, "Fragestellung und Methodik im 19.Jh." vor. Als ersten nennt er Bruno Bauer, der in schroffer Absage an alle apologetische Evangelienauslegung Johannes nicht nur allen Quellenwert abspricht, sondern auch jegliche literarische Qualität des Evangeliums bestreitet, und behauptet, Johannes habe sich seinen gesamten Stoff - und dazu noch höchst unbeholfen - aus allen drei synoptischen Evangelien und aus der Apostelgeschichte zusammengeklaubt. Als zweiten in der Reihe führt L. dann Chr. H. Weiße vor, der zum ersten Mal einen "Schülerkreis" des "Apostels" (!) ins Spiel bringt, der die nachgelassenen "Studien" des Meisters bearbeitet und sie Jesus und/oder Johannes dem Täufer in den Mund gelegt haben soll. Die gelegentliche Nähe zu den Synoptikern führt Weiße auf die diesem Schülerkreis und den drei ersten Evangelisten vermeintlich gemeinsame Kenntnis der "mündlichen Tradition" zurück.

Als Dritten im Bunde nennt L. endlich Ferdinand Christian Baur, dessen Untersuchungen insofern einen Wendepunkt darstellen, als Baur die altkirchliche Überlieferung, dass der Zebedaide Johannes der reale Verfasser des nach ihm benannten Evangeliums sei, entschlossen in Epoche versetzt, um zunächst "die innere Struktur und den Aufbau" des Evangeliums zu erkunden (vgl. 18 ff.). Dazu sieht der Tübinger völlig sachgemäß im Prolog die alles Folgende bestimmende Leseanweisung, wobei ihm - ähnlich wie ein Jahrhundert später und unter Berufung auf den großen Tübinger Vorgänger Ernst Käsemann- der Satz: "Und wir sahen seine Herrlichkeit, nämlich die Herrlichkeit des Einziggeborenen vom Vater, voller Gnade und Wahrheit" (1,14b), als die entscheidende Aussage gilt, der gegenüber die Rede von der Inkarnation (1,14a) "nur als eine Nebenbestimmung, als ein bloßes Accidens des substantiellen Daseyns des Logos" verstanden werden könne (Kritische Untersuchungen über die kanonischen Evangelien, ihr Verhältnis zu einander, ihren Charakter und Ursprung. Tübingen 1847, 96 f.).

In dieser Akzentuierung der Herrlichkeit des in der Hülle des irdischen Jesus als ein Gott über die Erde schreitenden Logos sieht Baur den entscheidenden und gewiss nicht zufälligen Schritt des vierten Evangelisten über seine ihm wohlvertrauten drei älteren Vorgänger hinaus. So erkennt Baur an vielen Stellen des Evangeliums, namentlich in den Passagen 2,22 ff.; 4,46 ff.; 5,1 ff.; 6,7 ff.; 9,1 ff., eine derart absichtsvolle Auswahl synoptischen Stoffes, dass "die Vermuthung nicht für unbegründet gehalten werden [kann], daß er [sc. Joh] nicht blos mit der synoptischen Tradition im Allgemeinen, sondern speciell mit unseren kanonischen Evangelien, namentlich dem zweiten und dritten, bekannt gewesen sey" (Untersuchungen 280; vgl. Lang 19). Obwohl Baurs Herrlichkeitschristologie sie allen substantiellen Gewichtes beraubt, gilt dieses Verhältnis zu den Synoptikern natürlich auch und erst recht für die johanneischen Passions- und Ostererzählungen.

Dieser Rückschau auf die im 19. Jh. erfolgte Weichenstellung folgt die Beschreibung der "Fragestellung und Methodik im 20.Jh." (21-56). Nach einem Blick auf die durch Namen wie Wellhausen, Schwartz, Wendt, Heitmüller, Spitta u. a. geprägte Blütezeit der Literarkritik und der Quellentheorien (21 ff.) wendet sich L. ausführlicher Bultmanns Johannesinterpretation und der ihr zu Grunde liegenden literarischen Theorie zu (24-28). Seiner spezifischen Fragestellung entsprechend gilt sein besonderes Interesse dabei natürlich vor allem dem von Bultmann rekonstruierten "vorjohanneischen Passionsbericht" und dessen vermeintlicher Bearbeitung durch den Evangelisten. Doch das Interesse wird enttäuscht, und die Darstellung von Bultmanns Behandlung der johanneischen Passions- und Oster-Erzählungen muss darum in L.s resignierter und um nichts weniger berechtigter Feststellung gipfeln: "Ein theologisches Gewicht kann dem johanneischen Passionsbericht von daher also nicht zugemessen werden. Religionsgeschichtliche Einordnung, hermeneutisches Vorgehen und methodische Prämissen sind derart übergewichtig, daß die literarische Gestalt und der theologische Gehalt von Joh 18-20 stark vernachlässigt werden" (28). Es folgen dann Darstellung und Kritik der von Dauer, Hahn, Mohr, sowie Baum-Bodenbender versuchten Rekonstruktion einer vermeintlich vorjohanneischen Passionserzählung.

Von den Versuchen und Versuchungen, die vermeintlichen "Quellen" des Evangelisten aufzuspüren und zu rekonstruieren, um sodann aus deren mutmaßlicher "Bearbeitung" durch ihn seine auktorialen "Intentionen" als den Sinn des Textes zu erschließen, hat sich das Gewicht deutlich auf eine Lektüre verlagert, die die Kohärenz des überlieferten Evangeliums als eines literarischen Werkes voraussetzt und versucht, diese Voraussetzung durch dessen Interpretation einzuholen und zu bestätigen. Die Frage, ob und inwieweit man diese Entwicklung einen "Paradigmenwechsel" im Sinne von Th. S. Kuhn (Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, stw 25, Frankfurt 21976) nennen kann, erörtert L. mit skeptischem Resultat in einem Exkurs (36-42). Wenn auch aus anderen Gründen teile ich seine Skepsis. Und zwar nicht nur, weil man von einem "Paradigmenwechsel" erst sprechen kann, wenn das alte Paradigma gänzlich aus dem Spiel ist, sondern vor allem, weil ich mich frage, ob man im Falle der biblischen Hermeneutik, die hier ja zur Debatte steht, von einer "wissenschaftlichen Revolution" sprechen kann. Denn derartige "Revolutionen" ereignen sich immer dann und nur dann, wenn ein bis dahin bewährtes Theoriegebäude nicht mehr in der Lage ist, neue empirische Beobachtungen zu erklären und intersubjektiv verständlich zu machen. Und die alte Frage, ob Theologie sich wirklich einen Dienst tut, wenn sie sich als Wissenschaft begreift und sich auf "wissenschaftliche Revolutionen" beruft, scheint mir durchaus noch offen zu sein (vgl. dazu J. Fischer, Glaube als Erkenntnis, BEvTh 105, München 1989, 58 ff. und 144 ff.).

Sofern nach Julia Kristeva und vielen anderen alle literarischen Texte stets Texte über Texte sind, ist L.s Konzept des Textes als eines "Reliefs" (56) natürlich ganz korrekt. Nur sollte man diese "Prätexte" des Evangeliums weniger als seine "Quellen" im Sinne der synoptischen "Zwei-Quellen-Theorie" ansehen - einer Theorie, die ihre Entstehung ja der Frage nach dem historischen Jesus verdankt -, sondern sollte sie wirklich als "Prätexte" begreifen, die der Erzähler mitsamt ihren jeweiligen Kontexten absichtsvoll ins Spiel bringt. Damit hat sich aber die alte, einst von Windisch gestellte Frage, ob Johannes die Synoptiker ersetzen oder wenigstens verdrängen wollte, erledigt. Denn wenn er seine Botschaft im Spiel mit deren Texten entfaltet, setzt er sie offenbar als gültige Texte voraus und in Kraft, so dass sein Kerygma nur in diesem "Zwischen" (Inter) und ohne diese Prätexte gar nicht lesbar ist.

Im Anschluss an den besagten Exkurs behandelt L. zunächst noch die extrem literarkritisch orientiereten Arbeiten von J. Becker, W. Schmithals, M. W. G. Stibbe, W. Reinbold und M. Myllykoski, die alle "den direkten Einfluß eines oder mehrerer synoptischer Evangelien [ablehnen]", um endlich noch neuere Beiträge kurz vorzustellen, die der alten Literarkritik mit äußerster Skepsis begegnen (51 ff.). Es handelt sich dabei vornehmlich um die Arbeiten von F. Neirynck, M. Sabbe und neuerdings den Kommentar von F. J. Moloney.

Aus diesem Überblick über die Behandlung der Frage nach dem Verhältnis des Johannes zu seinen drei älteren Vorgängern zieht L. sodann die folgenden Konsequenzen für "Fragestellung und Methodik" seiner eigenen Untersuchung: "(1) Redaktionsgeschichte ist als Exegese des kohärenten Textes im Sinne der Stoffanordnung zu verstehen; (2) Redaktionsgeschichte beschreibt die Entstehungsgeschichte im Sinne des Auswahlverfahrens des Autors; (3) Redaktionsgeschichte nimmt als Exegese des Gesamtrahmens den Anfang, die Mitte und das Ende des JohEv (1,1-20,31) in den Blick" (60).

Doch bleibt der Terminus "Redaktionsgeschichte" m. E. deshalb problematisch, weil ihm seine Genese aus der Behandlung der synoptischen Frage schier unverlierbar anhaftet - zumal der zweite von L.s oben zitierten drei "Leitgedanken" ja klar zeigt, dass er absichtsvoll an der von Bultmann und Becker gewiesenen Linie einer primär am Autor orientierten Aufklärung der "Entstehungsgeschichte" des Evangeliums festhält und allein darum natürlich nicht von einem "Paradigmenwechsel" sprechen kann. Problematisch erscheint mir auch die allzu selbstverständliche Rede von Joh 20,31 als "Ende des JohEv". M. E. muss man das 21. Kapitel, ohne das unser Evangelium nach Ausweis seiner handschriftlichen Überlieferung öffentlich nie existiert hat, aber als einen konstitutiven Teil des Werkes begreifen. Denn wer Joh 21 einer sekundären Redaktion zuschreiben will, der muss, wie das Becker und Schmithals denn auch konsequent tun, dieser Redaktion zugleich alle Texte zuweisen, die von "dem Jünger" reden, "den Jesus liebte", weil dieser Jünger ja von vornherein zu keinem anderen Zweck in das Evangelium eingeführt wird, als dazu, dass er am Ende als derjenige vorgestellt werden kann, der als der "Exeget Jesu" (vgl. 13,23 mit 1,18) "dieses Buch geschrieben hat" (21,24 f.) und dazu von keinem geringeren als von seinem sterbenden Herrn selbst autorisiert ist (19,25-27).

Wie die drei oben zitierten "Leitgedanken" und zumal die Überschrift des ihnen folgenden Hauptteils, nämlich "Redaktionsgeschichtliche Analyse", zeigen, ist L. der hermeneutischen Maxime entsprechend, "etwas zu verstehen heiße zu verstehen, wie es geworden ist", primär an der Genese des Evangeliums, an seinen mutmaßlichen Quellen und an deren Bearbeitung durch den Evangelisten interessiert. Aber obgleich uns diese Suche nach den "Quellen" des Evangeliums allzu konservativ erscheint und wir sie lieber in einem an der Text-Leser-Relation orientierten Konzept der Intertextualität aufgehoben sähen, ist L.s Untersuchung dennoch insofern ein Glücksfall, als es ihm gelingt, auf eben dem Felde (oder innerhalb jenes "Paradigmas"), wo die Unabhängigkeit des vierten von den drei älteren Evangelien als ein nahezu unumstößliches Dogma galt, Schritt um Schritt den überzeugenden Nachweis dafür zu erbringen, dass zu den "Quellen" des Joh auch und vor allem zumindest das Markus- und das Lukasevangelium gehören (m. E. aber auch das Matthäusevangelium, dessen Einfluss L. wohl unterschätzt).

Nach den Arbeiten von Neirynck und Sabbe sowie dem Kommentar von U. Wilckens zeigt nun auch L.s Untersuchung, dass Johannes nicht nur mit der sogenannten "synoptischen Tradition", sondern mit den konkreten literarischen Werken unserer synoptischen Evangelien vertraut ist, dass er dieses Vertrautsein - zumindest mit den Evangelien nach Markus und nach Lukas - auch bei seinen potentiellen Lesern voraussetzt. Denn nur unter dieser Voraussetzung vermögen sie ja sein intertextuelles Spiel mit deren Texten wahrzunehmen und sich daran zu beteiligen. In diesem Sinn kann L. (114) etwa zu Joh 18,12-27 erklären: "Bevor nun der Evangelist joh. Sondermaterial verwendet, formuliert er einen leserorientierten Hinweis, daß das nun Folgende in dem aus dem MkEv bekannten Rahmen zu lesen und zu verstehen ist (Joh 18,13b.14; vgl. 11,49 ff.)". Angesichts dieser Nähe zu den synoptischen Prätexten muss man sich aber nun doch fragen, ob sich dann die Rede von einer spezifisch "johanneischen Gemeinde", die vom übrigen Urchristentum isoliert an dessen Rand unter der Ägide eines "Ketzers" (Käsemann) existiert haben soll, überhaupt noch aufrechterhalten lässt. Wir bezweifeln das und sehen in den Evangelien, die dem Genre der antiken Biographie angehören, auktoriale Werke für alle Christen und solche, die es werden wollen. Und es scheint uns, dass sich die seit Jülicher aus der Exegese zu Recht verbannte Allegorese mittlerweile durch eine Hintertür wieder eingeschlichen hat, wenn diese Jesus-Biographien jetzt weithin gelesen werden, als handele es sich um Biographien, sei es einer markinischen, matthäischen, lukanischen, johanneischen oder gar einer "Q-Gemeinde", über welche wir keinerlei externe Zeugnisse besitzen. Und angesichts des bis ins dritte Jahrhundert bestehenden lebendigen Austauschs zwischen Kirche und Synagoge erscheint uns darum auch der Satz höchst problematisch, dass "die Gemeinde" - nämlich diese vermeintliche ,johanneische Gemeinde' - "bereits auf die Trennung vom Judentum" zurückblicke (300). Denn solch ein pauschaler Synagogenausschluss einer ganzen Gemeinde oder gar einer Gruppe von Gemeinden ist aus dem dreifachen Gebrauch des Syntagmems àÔÛÓÁÁÔ ÔÈÂÖÓ bzw. ÁÂÓÛÈ (Joh 9,22; 12,42; 16,2) schwerlich zu erschließen und historisch nicht zu belegen.

Neben Markus und Lukas glaubt L. noch weitere Quellenschichten erweisen und von ihrer Bearbeitung durch den "Evangelisten" unterscheiden zu können. Als diese "Quellen" nennt er nur sehr vage, weil seine Arbeit nicht auf dessen detailierte Rekonstruktion "abziele" (298), einen vermeintlich ältesten und noch vormarkinischen "Passionsbericht" (vgl. 298 ff.) und darüber hinaus - nicht minder vage - "johanneisches Material" (64 u. pass.) oder "Gemeindegut" (65 u. pass.). So kann er zu Joh 18,1 etwa erklären, bis auf das redaktionelle ÙÜÙ ÂåÒÓ entstamme der gesamte Vers "johanneischer Gemeindetradition" (64). Wenn sich aber einzelne Syntagmeme von dieser Tradition unterscheiden lassen sollen, dann muss sie dem Evangelisten ja in schriftlicher Gestalt vorgelegen haben. Ob und inwieweit L. diesem "Material" auch den älteren "Passionsbericht" zurechnet, wird nicht so recht klar. Jedenfalls hat er aber Umfang und Verteilung all dieser vermeintlichen "Quellen" sowie der redaktionellen Beiträge des Evangelisten in dem bunten Flickenteppich der graphischen Darstellung der Ergebnisse seiner Analyse auf den Seiten 351-353 eindrucksvoll vor Augen geführt.

Doch bei nahezu allen, die von ihm reden, liegt der Konstruktion eines vermeintlich "vormarkinischen Passionsberichts" die unhinterfragte Voraussetzung zu Grunde, dass Johannes von den Synoptikern unabhängig sei und dass darum beide aus derselben Quelle geschöpft haben müssten. Dieser frühe Passionsbericht, den Theißen in das Jerusalem der Jahre 41-44 datiert (Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien. Ein Beitrag zur Geschichte der synoptischen Tradition. NTOA 8, Göttingen 21992, 177 ff.; vgl. Lang 298 ff.), erscheint deshalb stets als eine synthetische Konstruktion aus Markus und Johannes. Da nun aber L. selbst diese Voraussetzung auf der ganzen Linie als pures Vorurteil erwiesen und der Hypothese dieses "Passionsberichtes" damit den Boden entzogen hat, fragt man sich doch, warum er sein solides Ergebnis hinsichtlich des Verhältnisses des Johannes zu den Synoptikern durch diese nicht nur überflüssige, sondern darüber hinaus noch höchst fragwürdige Zusatzhypothese derart belastet und angreifbar macht. Für die Johannesinterpretation ist die Aufdeckung seines intertextuellen Spiels mit den synoptischen Passionserzählungen völlig ausreichend. Und selbst wenn dem Markusevangelium eine ältere Passionserzählung zu Grunde liegen sollte, was durchaus möglich, wenn auch umstritten ist, lässt sich deren Gestalt und Struktur jedenfalls nicht mehr ermitteln, vor allem dann nicht, wenn es sich dabei um mündliche Tradition handeln sollte. Dafür, dass Johannes bei seiner Aufnahme von Mk 14,43-16,8 von dem "Interesse geleitet" sei, "das ganze Leiden und Sterben Jesu Christi antidoketisch zu schildern" (301), wie bereits der Doktorvater meinte (U. Schnelle, Antidoketische Christologie im Johannesevengelium. FRLANT 144, Göttingen 1987), vermag ich allerdings in dem ja nicht zuerst von Käsemann, sondern bereits seit Heracleons Kommentar immer wieder gerade doketistisch interpretierten Evangelium keinerlei Indiz zu entdecken. Denn dazu genügt es ja nicht, auf die Realität der Inkarnation und des Leidens und Sterbens Jesu zu verweisen: Vielmehr käme es darauf an, im Evangelium explizit doketistische Positionen und deren ausdrückliche Zurückweisung auszumachen. Das dürfte jedoch in einem Evangelium zumindest schwierig sein, dessen Antagonisten ständig gerade das bloße Menschsein Jesu ausspielen gegen seinen Anspruch, dass er und der Vater Eines seien (10,30), und darin eine todeswürdige Blasphemie sehen.

Will man aus dem Evangelium dennoch "antidoketische Akzente" herauslesen, dann muss man drei Voraussetzungen machen, die allesamt höchst fragwürdig sind. Man muss nämlich (1) die Existenz einer über eine längere Zeit aktiven "johanneischen Schule" samt einem entsprechenden "Schulhaupt" postulieren. (2) Man muss wie Strecker (Die Anfänge der johanneischen Schule, NTS 32, 1986, 31-47), dem Schnelle darin folgt (Antidoketische Christologie, 65 ff.), die Abfassung der Johannesbriefe derjenigen des Evangeliums zeitlich vorordnen. (3) Und endlich muss man in den Johannesbriefen eine doketistische christliche Häresie bekämpft sehen. Dass und warum keine dieser drei Voraussetzungen einer kritischen Überprüfung standhält, kann hier (leider) nicht begründet werden (vgl. dazu aber Thyen, Noch einmal: Joh 21 und "der Jünger, den Jesus liebte", den Art. Johannesevangelium, TRE 17, Berlin-New York 1988, 200-225, sowie Art. Johannesbriefe, ebd., 186-200).

Ähnliches wie zu dem "Passionsbericht" ist auch zu den vermeintlichen "johanneischen Materialien" zu sagen, die in L.s analytischer Rekonstruktion, wie die Grapheme (350-353) zeigen, ja einen überaus breiten Raum einnehmen. Obgleich der Autor diese "Materialien" von ihrer Bearbeitung durch den Evangelisten meint unterscheiden zu können, muss er doch zugestehen: "Über die Herkunft und vor allem die Struktur dieser joh. Materialien lassen sich m. E. kaum präzise Auskünfte geben: Das hängt vor allem daran, dass diese Materialien im Blick auf die Struktur keinerlei zusammenhängenden, längeren Bericht erkennen lassen. Vielmehr handelt es sich bestenfalls um kurze diskontinuierliche Episoden ..." (300). Stilistisch sind diese Partien jedenfalls nicht von denen zu unterscheiden, worin sich der ,Evangelist' zu Wort melden soll (vgl. E. Ruckstuhl/P. Dschulnigg, Stilkritik und Verfasserfrage im Johannesevangelium, NTOA 17, Freiburg/Schweiz und Göttingen 1991).

Doch diese kritischen Anmerkungen dürfen und sollen auf keinen Fall verdecken, dass L. - von der Fülle selbständiger und weiterführender exegetischer Beobachtungen zu Joh 18-20 ganz abgesehen - voll eingelöst hat, was der Titel seiner Untersuchung "Johannes und die Synoptiker" verspricht. Er hat deren Verhältnis zueinander nämlich ein neues und tragfähiges Fundament verliehen und solide begründet, dass nicht nur der Evangelist selbst mit den Texten der älteren Evangelien eng vertraut war, sondern solches Vertrautsein - nach L. zumindest mit Markus und Lukas - auch bei seinen potentiellen Lesern voraussetzt. Darum kommt, wer weiterhin die Unabhängigkeit des Johannes von den Synoptikern behaupten will, an der Auseinandersetzung mit diesem Buch nicht vorbei und wird die damit errichtete Hürde schwerlich überspringen können.