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Ausgabe:

Oktober/1998

Spalte:

969–971

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Bammel, Ernst

Titel/Untertitel:

Judaica et Paulina. Kleine Schriften II. Mit einem Nachwort von P. Pilhofer.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1997. X, 384 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 91. Lw. DM 198,-. ISBN 3-16-146541-5.

Rezensent:

Folker Siegert

Einer der letzten "christlichen Talmudisten", Religionsgeschichtler und lutherischer Theologe zugleich, hat "sein Haus bestellt". Nach dem ersten, Judaica benannten, Band mit gesammelten Aufsätzen zum Judentum (1986, WUNT 37) erhalten wir in diesem zweiten und letzten Band das Vermächtnis des 1996 verstorbenen Gelehrten, der in Erlangen und in Cambridge lehrte (dort Early Christian and Jewish Studies) und zuletzt kurzzeitig Direktor des Institutum Judaicum Delitzschianum in Münster gewesen ist. Festschriften erschienen zu seinem 60. Geburtstag 1983 (JSNT 19, 1983) und zu seinem Eintritt in den Ruhestand 1991 (s. u.).

Die hier gesammelten und um einige neuen Stücke vermehrten Aufsätze sind geschliffen, meist sehr kurz (um die 10 Seiten) und an wahren Problemen orientiert, nicht an den bekanntlich jedes Komma des Neuen Testaments betreffenden "Dissensen der Forschung". Sie unterscheiden sich wohltuend vom repetitiven Schwulst der derzeitigen exegetischen Profilierungsliteratur. Schwächen sind höchstens persönlicher Art: Archaismen des Ausdrucks, aenigmatische Titel, Anspielungen an Bibelstellen, die doch besser genannt wären, sowie an deutsches Bildungsgut, das recht schulmeisterlich als bekannt vorausgesetzt wird. Gegenüber einer Vorliebe des Autors für die exegetische Literatur des 19. Jh.s sind neuere und durchaus seriöse Arbeiten vernachlässigt, etwa die Johann Maiers zu Qumran (der den more-Beruf wieder zum Vorschein gebracht hat - unerwähnt auf 216) oder die Nautins zu Origenes (zu bedauern auf 162).

Neuere Arbeiten zum apokalyptischen Denken des Paulus (z. B. H. H. Schade, 1980) sind so wenig rezipiert wie die vom Rez. 1980 herausgegebenen ps.-philonischen Synagogenpredigten, die doch wohl mehr über das hellenistische Judentum aussagen als der vom Autor gern zitierte Jude des Celsus (dem 57-61 gewidmet sind). Übrigens hegt Bammel gerne Sondermeinungen, z. B. betreffs der Echtheit von 2Thess 2,6 ff. (300). Mit der sprachlichen Ästhetik des Haupttextes kontrastiert die Unsitte mehrerer Anmerkungen zum selben Wort (171; 224 u. ö.), die auch in den neu gesetzten Beiträgen fortdauert (z. B. 201 zweimal; 221).

Um einen Eindruck vom Inhalt und den Qualitäten des Bandes zu geben, besprechen wir vorzugsweise die größeren Aufsätze, sodann die noch unveröffentlichten Teile. Zwei Aufsätze ragen durch ihre Länge hervor. "Judenverfolgung und Naherwartung. Zur Eschatologie des Ersten Thessalonicherbriefs" (237-259, mit einem Nachtrag am Ende). 1Thess 2,15 f. - wir geben hier eine Leseprobe - wurde "zur Arena für den Kampf um die Echtheit des Briefs und zum Tummelplatz für Interpolationshypothesen. Die letzteren haben bei der gegenwärtigen Stimmung der Forschung an Bedeutung verloren, und über die Echtheitsfrage ist mindestens ein Ermüdungsfriede zustande gekommen. Aber die Interpretationsschwierigkeiten sind geblieben". Bammel geht mit ihnen so um, daß er den apokalyptischen Topos, wonach nicht nur die Bedrängnis des Gottesvolkes, sondern auch sein inneres Zerwürfnis Zeichen des nahen Endgerichts sein müßte, abpuffert durch den Hinweis auf die allgemeine Elastizität der jüdisch-christlichen Eschatologie, die um so größere Zeiträume zur Verfügung stellt, als sich das Denken vom engen geographischen Raum Palästinas löst. - Der andere großen Aufsatz behandelt gleichfalls einen notorischen Problemtext "Romans 13" (286-304). Dort wendet Bammel die in 1Thess 5,3 ironisch zitierte Formel "Sicherheit und Friede" im Hinblick auf Röm 13,1-7 ins Positive: Wenn auch Apokalyptiker (bzw. gerade als solcher), war Paulus Ordnungstheologe; jede Form von ataxia schreckte ihn ab. Freilich, ob das nur eine Gefühlsäußerung ist oder ob es mit seinem theologischen Ansatz zu tun hat, diese Frage stellt Bammel nicht, wie er überhaupt eher für historische als für systematische Zusammenhänge sensibel ist.

Unter den neuen Beiträgen des Bandes macht eine Vorlesung von 1987 auf sich aufmerksam ("Was ist Wissenschaft des Judentums?", 187-202), der eine eigene Sektion des Bandes (VI) gewidmet ist. Inhaltsreich und wohlinformiert wie alles, enttäuscht sie doch durch einen hohen Grad an Zerstreuung; man wünscht, der Vf. hätte sie zehn Jahre früher gehalten. Eine Profilierung gegenüber den auf S. 188 erwähnten "Jüdischen Studien" erfolgt nicht; es geht mehr um die Haltung des christlichen Theologen gegenüber einer autonomen jüdischen Theologie. Diese Haltung inspiriert sich sehr stark aus Augustins Geschichtstheologie, wie auch der Aufsatz "Die Zeugen des Christentums" (96-106 - gemeint ist die Juden als Zeugen des Christentums bei Augustin) erweist. - Mit Gewinn liest man "Jesus der Zauberer" (3-14), wo dem diesbezüglichen Vorwurf von jüdischer Seite (in den Toledot Jeshu) eine historische Situation unter Maxentius zugewiesen wird: Kurz vor den ersten christlichen Kaisern stieg die jüdisch-christliche Polemik auf einen Höhepunkt, vergleichbar wohl der Einfügung der Christenverwünschung in das Achtzehngebet. - Es folgen Beiträge über Johannes den Täufer und über Judas in der jüdischen Überlieferung (15-22; 23-33), die gleichfalls neu sind und in einem schwer zugänglichen Material Orientierung geben. - S. 125-133 "Verzehrt haben die Israeliten" (ergänze: ihren Missias unter Hiskia) behandeln einen eigentümlichen, auf Hillel zurückgeführten Widerspruch gegen die gängige Messiaserwartung: Die Gelegenheit, ihn zu haben, sei vorbei. - S. 279-285 "Rechtsfindung in Korinth" interpretiert 1Kor 5 als ein Beispiel von gemeindeinterner Disziplinierung, ja Inquisition, und setzt sich dabei von dem sonst gern positiv zitierten E. Stauffer antipodisch ab. Paulus mahne die Korinther zu einer nach jüdischem Recht nötigen Entscheidung. Wiederum bleibt die Frage offen, was jüdisches Recht in christlichen Gemeinden zu sagen hat. - Unter "Semper aut aliquotiens" (334-336) wird eine Miszelle zu 2Tim 4,2 und Röm 12,11 angefügt, wonach die Kirche zwar "stets" die Pflicht zu verkündigen, aber nur "ab und zu" die der Selbstveränderung und -anpassung hat.

Zur Form des Bandes bleibt ein ständiger Wechsel der schönen Mohr-Typen mit reproduzierten Drucksätzen von früher zu bemerken, ein Verfahren, gegen das nichts zu sagen wäre, wenn die damit gemacht Ersparnis sich irgendwie im Preis ausdrücken würde. Ferner ist ärgerlich, wie viele Fehler gerade in den neu gesetzten Texten stehen geblieben sind, Fehler, die man dem gewissenhaften Philologen, der Ernst Bammel auch war, nicht zutrauen möchte, oder die zu beseitigen doch in seinem Sinne gewesen wäre. Hier nur einige Proben: S. 16 jshz lies jshw (der hebr. Jesus-Name); 117 eunoia falscher Akzent; 129 tines logia theou lies tina...; 135 kleroi falscher Akzent, apokalypseis ebenso; 136 tsits mit falschem Schlußzeichen; 137 pephorekos wäre mit Eta zu schreiben; 161 erstes griech. Zitat unvollständig; philomathei falscher Azkent, ebd. Anm. 2 Ioullos ebenso; 162 libelli quae (statt quos) habemus usw. Auf S. 138 paßt Anm. 42 nicht. - Die Register des Bandes (Stellen-, Autoren-, Stichwort- und griechisches Register), an denen der Autor selbst noch gearbeitet hat, sind zu loben bis auf die auch da vorhandenen Flüchtigkeiten. S. 355 "Mailah" muß heißen Me’ila; S. 356 "TosChull 503,4" ist irrige Wiederholung der vorvorigen Angabe. Die Zitate aus Ephräm, unbrauchbar in der gegebenen Form (359), hätten auf irgendeine - möglichst neuere - Ausgabe (vorzugsweise CSCO) bezogen werden müssen. Auf S. 360 fehlen Isho’dad (den Bammel 252 zitierte) und der Byzantiner Joseppos (zit. 244).

Es bleibt der Eindruck großen Reichtums bei einem aus den Quellen belesenen Autor. Kollegenmeinungen als solche haben ihn nicht interessiert, sondern Belege, und sein Verständnis historischer Verästelungen ist enorm. Nicht wenige Anmerkungen sind kleine Fundgruben, so etwa 293 Anm. 50 zum Thema des Gebets für die Obrigkeit.

Eine Bibliographie Ernst Bammels war in seiner 1991 erschienenen Festschrift Templum amicitiae (JSNT.S 48), 477-484, erschienen. Sie ist durch das hier neu oder erstmals Erschienene nunmehr abgeschlossen.