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Ausgabe:

April/2001

Spalte:

385–387

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Ilan, Tal

Titel/Untertitel:

Integrating Women into Second Temple History.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 1999. XIII, 296 S. gr.8 = Texts and Studies in Ancient Judaism, 76. Lw. DM 168,-. ISBN 3-16-147107-5.

Rezensent:

Ronen Reichman

Eine recht bunte Ansammlung von Einzeluntersuchungen zu ganz verschiedenen Themen zur historischen Frauenforschung aus der Zeit des zweiten Tempels bis hinein in die Zeit des Talmuds bietet das neue Buch von Tal Ilan. Anders als in ihrer ersten Monographie (Jewish Women in Greco-Roman Palestine, Tübingen 1995), die einen systematischen Überblick über die Stellung der jüdischen Frau im hellenistisch-römischen Palästina bietet, und im Unterschied zur zweiten Monographie (Mine and Yours are Hers: Retrieving Women's History from Rabbinic Literature, Leiden 1997), in der die Autorin gezielt die Methodik ihres Fachgebiets thematisiert, liegt dem dritten Buch ein völlig neues Konzept zu Grunde, das im Titel anklingt: Gegen den Spruch Ullas im Talmud (bShabbat 62a) "Frauen sind ein Volk unter sich" wird hier die gesellschaftliche Integration von Frauen zum Forschungsthema gemacht: "The basic assumption in this book is that the women mentioned in the sources are not a means by which to explain the events but an end themselves" (3). Die Anlage des Buches, eine Aufsatzsammlung, aus der die Hälfte der Beiträge aus bereits erschienenen Publikationen entnommen sind, passt zu diesem Konzept. Die jeweils ausgearbeiteten Thesen sind einfach, greifbar und zumeist interessant bis provokativ.

In mehreren Kapiteln treten jüdische Frauen der Aristokratie zur Zeit des zweiten Tempels als Bezugspunkt für Untersuchungen unter ganz verschiedenen Gesichtspunkten auf. Um solche Frauen als Kollektiv und um einzelne prominente Frauen aus der hasmonäischen und herodianischen Dynastie wie Schlamzion (Salome) Alexandra, Mariamne, Salome und Berenike, sammeln sich einige interessante Thesen: 1. die Pharisäer haben eine Faszination auf jüdische Aristokratinnen ausgeübt (11-42; hier wird der Standpunkt der Frauen gegenüber der Männergesellschaft thematisiert). 2. Das negative Bild von solchen prominenten, mächtigen Frauen in den Geschichtswerken des Flavius Josephus stamme nicht von ihm, sondern sei auf dessen Übernahme der Schriften des Nikolaus von Damaskus zurückzuführen (85-125; hier gibt die Autorin eine akribisch aufgebaute literarkritische Untersuchung, die Josephus' Benutzung des Geschichtswerkes des Hofgeschichtsschreibers von Herodes hinsichtlich der Frauen-Beschreibungen in Antiquitates Iudaicae auseinanderlegt). 3. Entgegen der allgemeinen Tendenz, prominente Frauen im Sinne einer misogynen Haltung zu diffamieren, lassen sich bestimmte Werke als eine Gegenpropaganda lesen und in einem entsprechenden historischen Kontext verorten. Diese Werke sind das Bibelbuch Esther und die zwei apokryphischen Schriften Judith und Susanna (127-153). Es wird die vage Behauptung aufgestellt, dass diese Werke im historischen Kontext der Königszeit der hasmonäischen Königin Schlamzion Alexandra (76/77-67 v. Chr.) verfasst wurden.

Der komplizierten Datierungsfrage scheinen mir die Ausführungen I.s nicht gebührend Rechnung zu tragen. Als Anhaltspunkt bietet sich die von E. J. Bickerman behauptete Datierung der griechischen Übersetzung des Estherbuches in der Septuaginta auf 78-77 v. Chr. an (133). Ist daraus plausibel zu schlussfolgern, dass "certainly Esther (and with it Purim) was created as propaganda for this queen's reign" (153) und diese Datierungsvermutung über die Abfassungszeit (!) des Estherbuches auf Grund von "ideological similarities between Esther and the books of Judith and Susanna" (ebd.) auch auf diese Bücher auszudehnen ist? 4. Eine gewisse Julia Crispina, die in einem Rechtsdokument aus den Schriftfunden (Babatha-Archiv, s. dazu weiter unten) in der Höhle im Nachal Chever als Verwalterin (Episkopos) in einer Prozessakte erwähnt ist, sei mit der Enkelin der Königin Berenike zu identifizieren (217-233).

Ein zweiter Themenkreis bildet sich aus Untersuchungen zu drei klassischen Traditionskomplexen in der rabbinischen Literatur: 1. Die Disputationen zwischen den zwei prominenten vorrabbinischen Schulen Beit Hillel und Beit Shammai über die rechtliche Stellung der Frauen (43-81); 2. Die talmudische Rezeption des Jesus Sirach (155-174); 3. Die Traditionen über die bekannte Gelehrte der rabbinischen Zeit Beruria (175-194). Die Thesen zum 1. und 2. Komplex sind insofern provokant, als der rabbinische Standpunkt in ein negatives Licht gerückt wird. Schon in der Gründungszeit der rabbinischen Elite, der sog. Jabne-Periode, wurde eine klare Stellungnahme gegenüber den tradierten Lehren aus den Schulen Hillel und Shammai zu Gunsten der ersten getroffen. Die Halacha richtet sich nach Hillel. In ihren Ausführungen will nun I. nahelegen, dass es aber die Schammaiten sind, in deren Lehren die Stellung der Frau begünstigt wird. Zweifelhaft mutet die These über die Sirach-Rezeption an, als wäre die eindeutig negative Gesinnung des Jesus Sirach gegenüber Frauen einer der wichtigsten Gründe für seine Popularität im Talmud (170). Die rabbinische Bewertung der misogynen Äußerungen Sirachs (158-168) scheint mir etwas komplexer zu sein als es in den Ausführungen von I. dargelegt wird.

Die besagte Stelle bei Sirach wäre doch ein möglicher Grund für die Ausschließung des Buches aus dem Korpus zulässiger Lektüre; also sind die Rabbinen sich der Problematik misogyner Äußerungen bei Sirach bewußt. Sie nehmen sie zwar hin, doch in letzter Instanz sind es andere ,positive' Äußerungen, die die Aufnahme seines Werkes rechtfertigen. Die Untersuchungen zu Brurria bringen eine gewisse Balance (Der Talmud spricht nicht in einer Stimme, 171), aber erstens: Es geht in diesem Kapitel vordergründig um die Eruierung der historischen Beruria, wobei mir nicht klar wurde, welche neuen Erkenntnisse in dieser Hinsicht hier gewonnen wurden, wurde doch diese Fragestellung schon von verschiedenen Forschern und von I. selbst ziemlich erschöpfend ausgearbeitet; und zweitens: Die Behauptung von einem grotesken Erscheinungsbild der Beruria in der literarischen Verarbeitung im Talmud wie auch ihre Nicht-Erwähnung in der Mischna vor dem Hintergrund ihrer Diskussionsbeiträge in Tosefta (189) lässt I. in dasselbe negative Bild einmünden, das sie von den misogynen Rabbinen gibt. Mit diesem kritischen Zug verbindet sich, so scheint mir, eine gewisse Wende bei I. gegenüber ihren beiden früheren Monographien, in denen der apologetische Geist noch ziemlich spürbar weht. In diesem Buch wird eine klare Entscheidung getroffen: In einem Aufsatz ergreift sie explizit Partei für das Lager der Provokatoren (238-243).

Die drei letzten Kapitel sind Einzeluntersuchungen innerhalb eines brisanten Themengebiets, der Erforschung der Papyrusurkunden, die in den fünfziger und sechziger Jahren in der judäischen Wüste, vor allem in einer Höhle im Nachal Chever (zwischen Massada und En-Gedi), der sog. Cave of Letters entdeckt wurden.

Diese Dokumente, die Flüchtlinge aus En-Gedi und der Provinz Arabia während des zweiten Jüdischen Krieg gegen die Römer (des Bar-Kochba-Aufstandes, 132-135 n. Chr.) mit sich in die Höhlen der judäischen Wüste gebracht haben, beinhalten Rechtsdokumente (Prozessakten, Heiratsurkunden usw.) in Aramäisch, Nabatäisch, Hebräisch und Griechisch aus der ersten Hälfte des 2. Jh. n. Chr., deren Bedeutung vor allem dann zutage tritt, wenn in ihnen eine Realität widergespiegelt ist, die im Widerspruch zu der Halacha steht. Die griechisch geschriebene Heiratsurkunde der Salome Komaise vom 7. August 131 enthält eine Klausel, wonach es sich bei dem vorliegenden Heiratsvertrag um die Fortsetzung einer bereits bestehenden "ungeschriebenen" Ehe handelt. Die Autorin untersucht diese Klausel vor dem Hintergrund der rabbinischen Quellen und zeigt, dass in der rabbinischen Literatur selbst Indizien für eine solche "anerkannte" Praxis in Judäa (im Unterschied zu Galiläa) vorhanden sind (235-251). Noch spannender ist eine 134/135 n.Chr. geschriebene Urkunde, mit der sich mehrere Forscher in den letzten Jahren befasst haben, und von der I. behauptet, es sei ein Scheidungsbrief, den die Frau selbst an ihren Mann übergeben hat (!), was wiederum im krassen Widerspruch zum jüdischen Gesetz steht (253-262).

Insgesamt bietet das Buch einen Einblick in vielschichtige Aspekte der historischen Frauenforschung der Spätantike, reiche Anregungen zur weiteren Diskussion und verspricht eine spannende Lektüre, zumal alle Einzeluntersuchungen sich durch einen klaren Duktus im argumentativen Aufbau der Thesen auszeichnen.