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Ausgabe:

April/2001

Spalte:

382–385

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Hjelm, Ingrid

Titel/Untertitel:

The Samaritans and Early Judaism. A Literary Analysis.

Verlag:

Sheffield: Sheffield Academic Press 2000. 318 S. gr.8 = Journal for the Study of the Old Testament, Suppl. Series 303. Copenhagen International Seminar, 7. Lw. £ 50.-. ISBN 1-84127-072-5.

Rezensent:

Martina Böhm

Neue Arbeiten zu den Samaritanern der Antike sind selten und werden von den mit dieser Gruppe vorwiegend aus Theologie, Religionswissenschaft, Semitistik, Judaistik, Alter Geschichte und Archäologie Befassten in der Regel mit großem Interesse wahrgenommen. Es ist ein kleiner Kreis, der auf diesem interdisziplinären Gebiet arbeitet und der bisher immer noch mit großen Aufgaben leben muss. Diese Aufgaben betreffen auch Fragen der Entwicklung und des Selbstverständnisses des postexilischen Judentums, die untrennbar mit der Geschichte der Samaritaner und deren Niederschlag in den Quellen verbunden sind. Die vorliegende Monographie ist ein Beitrag aus der alttestamentlichen Wissenschaft und eben solchen und insbesondere hermeneutischen Fragen gewidmet. Gleichwohl fühlt sich die Vfn. nicht nur ihrem Fachgebiet verpflichtet. Sie unterteilt ihre Studie in sieben Kapitel, von denen die ersten beiden klassische Werke zu Entstehungstheorien der Samaritaner vorstellen und aus der Sicht heutiger alttestamentlicher Forschung bewerten - ein bisheriges Desiderat. Dem Untertitel der Monographie getreu beschäftigt sich die Vfn. in den anschließenden drei Kapiteln mit dem für die Samaritanerfrage verfügbaren literarischen Quellenmaterial: in Reihenfolge mit der samaritanischen (einschließlich SP), der rabbinischen, der christlichen - auch der neutestamentlichen - Literatur, mit Texten der jüdisch-hellenistischen Literatur, aus dem AT und Josephus. In Kapitel sechs wird die samaritanische Historiographie vorgestellt und in ein Verhältnis zur entsprechenden jüdischen Geschichtsschreibung gesetzt. Im abschließenden Kapitel 7 versucht die Vfn., von der literarischen zur historischen Realität durchzudringen.

Die Vfn. hinterfragt vom ersten Satz ihres Buches an die Perspektive, aus der die Samaritaner seit der Antike in der jüdischen (wie später auch in der christlichen) Literatur betrachtet worden sind. Leitthema dieser literarischen Diskussion könnte ein Satz aus Massekhet Kutim darstellen: "Von wann ab nehmen wir sie wieder auf?" Diese Frage offenbart das Selbstverständnis der Betrachtenden: Die Samaritaner sind es, die uns verlassen haben. Und wir sind es, die entscheiden, wann und unter welchen Umständen sie Teil unserer Gemeinschaft werden können. Die Durchschlagskraft dieser Überzeugung sieht die Vfn. von den Quellen bis in moderne Studien über die Samaritaner und das postexilische Judentum hineinwirken und hinterfragt diese in ihren Prämissen konsequent. Herausgefordert fühlt sie sich durch den Umstand, dass die jüdische Historiographie durch viele Aporien und durch ein Nebeneinander sich offenbar widersprechender Samaritanergeschichten gekennzeichnet ist und dagegen außerdem noch einmal die eigene Sicht der samaritanischen Gemeinschaft auf ihre Ursprünge steht. So hält es die Vfn. für notwendig, den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen nicht von vornherein beim "normativen" Judentum zu nehmen, sondern eine hermeneutisch-kritische Durchsicht aller Texttraditionen und einen vorsichtigen Vergleich der voneinander abhängigen Historiographien anzustellen, um die Realität hinter der Geschichtsschreibung (insbesondere in Fragen der Kultzentralisation, Priesterschaft und Parteienbildung, aber auch in Fragen der Pentateuchentstehung und -benutzung) erahnen zu können. Nachdrücklich plädiert die Vfn. dafür, jeder Tradition als einem Stückchen entweder aus Ideen kreierter oder auf Fakten beruhender wirklicher "Welt" ihr eigenes Recht zuzugestehen. Nicht zuletzt verfolgt sie dabei das Interesse, die Samaritaner historisch und theologisch angemessener einzuordnen als es mit der bisher weithin üblichen Kategorie "jüdische Sekte" geschehen ist - zumal für die Vfn. immer wieder in Frage steht, inwieweit sich die Entwicklung des postexilischen Judentums nicht auch selbst durch sektiererische Aspekte auszeichnet. So wichtig und nötig dieser Ansatz und so beachtlich die Mühen der Autorin um eine Erfassung des gesamten Quellenmaterials sind, bleiben doch aus meiner Sicht zwei Grundsatzprobleme dieser Arbeit, die mindestens jedes der die Quellen behandelnden Kapitel und darum auch die Ergebnisse betreffen, bestehen:

1. Mit dem Anspruch, eine literarische Analyse des relevanten Textmaterials von der Antike bis an den Anfang des 20. Jh.s (so jung ist die samaritanische Literatur z. T. noch) vorzunehmen, ist ein großer und mutiger Schritt gewagt worden. Und ein Risiko, das die Vfn. methodisch nicht ausreichend reflektiert hat. Auch wenn sie mit É. Nodet den Mitteln der klassischen Quellenanalyse für die Gewinnung eines Bildes über die Ereignisse und Entwicklungen des frühen Judentums misstraut, muss doch infrage stehen, ob nicht wichtige Ergebnisse dieser klassischen Quellenanalyse berücksichtigt werden müssen. Die Fülle der vorgestellten Texte hat es zwangsläufig mit sich gebracht, dass das Verhältnis von Exegese und Hermeneutik kein ausgewogenes Wechselspiel bildet (was in einer einzigen Studie vielleicht auch gar nicht möglich ist). Insgesamt geht es weniger um Einzeltextanalysen als um überblicksartige Darstellungen, Diskussionen und Kombinationen ganzer Textkomplexe. Die große Linie ist dem exegetischen Detail deutlich übergeordnet. Das heißt beispielsweise, dass eine historisch-kritisch befriedigende Auseinandersetzung mit den für die Samarien- und Samaritanerfrage so zentralen Texten wie 2Kön 17 oder Esr 4 unterbleibt und vielfach vorhandene exegetische Ergebnisse, die Interessantes zu Entwicklungen in der postexilischen Periode erbracht haben, nicht aufgenommen werden. Stattdessen tragen die Ausführungen der Vfn. zu Intentionen und Funktionen von Texten immer wieder behauptenden Charakter nach dem Muster "so ist es". Thetisches, kompliziertere Sachverhalte und abweichende Verstehensmöglichkeiten werden oft gar nicht deutlich. Ähnlich ist es bei der Behandlung anderer Quellengruppen, nicht zuletzt bei jüdisch-hellenistischen und ntl. Texten. Bei der rabbinischen Literatur werden zwar interessante Schlussfolgerungen zum Charakter und den Intentionen der Kutimtexte gezogen, die Probleme der chronologischen Fixierung dieser Literatur sind jedoch nicht bedacht.

So entstehen Ergebnisse, die der klassischen Quellenanalyse schwerlich genügen können. Eine eigentlich nicht an den Rand gehörende Ausnahme bildet m. E. die Diskussion zu Fragen der Pentateuchtextforschung. Hier werden exzellente Darstellungen geboten, über die sich auch die etablierte Exegese kaum beschweren dürfte.

2. In den vergangenen beiden Jahrzehnten konnte die Samaritanerforschung durch eine ganze Reihe wegweisender Studien wesentliche Erkenntnisfortschritte verzeichnen. Man wird zwar nicht behaupten können, dass alle relevanten Publikationen leicht erreichbar sind, dennoch ist die Lage auf diesem Gebiet nicht völlig unübersichtlich. Weiter ist festzustellen, dass sich alle wichtigen Publikationen inzwischen relativ gleichmäßig auf den englischen, deutschen, französischen und hebräischen Sprachraum verteilen. So kommt kaum eine neuere Studie zu Samaritanerfragen mehr umhin, sich dem Sprachproblem und den interdisziplinären Standards der Forschung auf diesem Gebiet zu stellen. Sicher kann man in keinem Fall alles überblicken und alles berücksichtigen. Wenn sich jedoch eine neuere Monographie zum eher überschaubaren Forschungsfeld Samaritanologie in der Wahrnahme der wesentlichen Publikationen und Fachgebiete zu sehr beschränkt, hat das erhebliche Folgen für die Behandlung des Themas.

Nun hat die Vfn. für den Bereich des Samaritanischen Pentateuch eine außerordentliche Intensität in den Recherchen angestrengt, die zu einem sicher wichtigen und unübersehbaren Beitrag zur aktuellen Diskussion im Bereich der Pentateuchtexttraditionen geführt haben. Das verhält sich mit den übrigen von ihr aufgegriffenen Themen der Samaritanologie anders. Es liegt gewiss nicht in der Herkunft der Rez., sondern in der aktuellen Forschungssituation begründet, dass man sich fragen muss, warum der Studie I. Hjelms der Hauptanteil der deutschsprachigen Forschung aus den vergangenen 15 Jahren fehlt, darunter die Diskussion oder Berücksichtigung wegweisender Studien F. Dexingers, R. Pummers, A. Lindemanns und J. Zangenbergs oder der Hauptergebnisse R. Eggers. (Liegt es an deren der klassischen Quellenanalyse verpflichteter Arbeitsweise?) Bereits 1994 hat J. Zangenberg zudem mit SAMAREIA eine Darstellung der antiken Quellen zur Geschichte und Kultur der Samaritaner vorgelegt, deren Kenntnisnahme man in einer verwandten Studie eigentlich erwartet hätte. Das hat zur Folge, dass die Vfn. gelegentlich nicht auf dem Boden der neueren Diskussion steht. Da die (nicht nur in der deutschsprachigen Forschung gewonnenen) Erkenntnisse zum Wandel und zur Komplexität der Bevölkerungsstruktur Samariens keinen ausreichenden Eingang in die Überlegungen gefunden haben, redet die Vfn. u. a. generalisierend für die Quellen aller Epochen seit altisraelitischer Zeit von den "Samaritanern", wo häufig genug gar nicht von diesen die Rede ist. Das gilt in abgestufterem Maße auch für andere Publikationszweige und relevante Fachrichtungen.

Man vermisst besonders die umfangreichen neueren Erkenntnisse aus der Archäologie Samariens, die Wesentliches zur Erforschung der Samaritanertexte und zu Fragen der Entwicklung des postexilischen Judentums haben beitragen können. Sicher unbewusst schlussfolgert die Vfn. so nun gegen den Rest der jüngeren Samaritanerforschung, dass bisher auf dem Garizim kein samaritanischer Kultort nachgewiesen werden konnte. Solche Aussagen erscheinen nur möglich, weil die zwischen 1990-1993 publizierten samaritanischen Gariziminschriften, die das Gegenteil belegen bzw. bei Zweifeln mindestens eine ausführliche Diskussion erfordern, offenbar nicht bekannt sind. Das wäre vielleicht alles verzeihlich, wenn es nicht die Ergebnisse der Untersuchung beeinflussen würde.

Festzuhalten bleibt, dass sich die Studie durch eine kenntnisreiche und berechtigte Kritik an etablierten hermeneutischen Mustern der alttestamentlichen Forschung und durch einen wichtigen Beitrag zur Pentateuchtextforschung und den damit verbundenen Implikationen für die Geschichte des postexilischen Judentums auszeichnet. Überhaupt bietet sie vielleicht Interessanteres im Blick auf Probleme der Entwicklung des frühen Judentums als hinsichtlich der Samaritanerfrage. Festzuhalten bleibt auch die Erkenntnis, dass die Samaritaner in ihrer eigenen Geschichtssicht von der Forschung bisher vielfach "ungerecht" behandelt worden sind und dass man sich mit ihren- wenn auch späten - Quellen ernsthafter als bisher auseinandersetzen muss. Zudem ergeben sich in der gesamten Arbeit immer wieder Anregungen durch ein erfrischend quergedachtes Kombinieren. Da die Vfn. andererseits in (zu) vielen Fällen Ergebnisse der jüngeren Samaritanerforschung und entsprechenden Textexegese unberücksichtigt lässt, verschenkt sie sich viele Möglichkeiten einer kritischen Auseinandersetzung und weiterführenden Diskussion - mindestens auch in den Forschungsbereichen, die noch etwas von klassischer Quellenanalyse halten. Eigentlich wünschte man der Vfn. ein weiteres Jahr Arbeitszeit und vielleicht auch eine Beschränkung des Themas- dann hätte sie der aktuellen Debatte sicher noch weit mehr Impulse beizusteuern.