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Ausgabe:

April/2001

Spalte:

377–379

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Zakovitch, Yair

Titel/Untertitel:

Das Buch Rut. Ein jüdischer Kommentar. Mit einem Geleitwort von E. Zenger.

Verlag:

Stuttgart: Katholisches Bibelwerk 1999. 192 S. 8 = Stuttgarter Bibelstudien, 177. Kart. DM 47,80. ISBN 3-460-04771-2.

Rezensent:

Thomas Naumann

Endlich wieder ein jüdischer Kommentar zum Buch Rut in deutscher Sprache, wenn auch nicht aus der Feder eines in Deutschland lebenden Gelehrten. Das angezeigte Buch bietet die von Andreas Lehnardt (Tübingen) angefertigte Übersetzung des 1990 in neuhebräischer Sprache in der Reihe "Mikra Leyisra'el" (Bibel für Israel) veröffentlichten Kommentars des international renommierten Bibelwissenschaftlers Yair Zakovitch von der Hebräischen Universität in Jerusalem. Der Zielrichtung der Reihe entsprechend richtet es sich in leicht verständlicher Sprache an ein breiteres Publikum, setzt aber die Kenntnis des Biblischen Hebräisch voraus.

Drei Besonderheiten verdienen eine hervorgehobene Beachtung und lassen das Buch zu einer schönen Bereicherung der deutschsprachigen Literatur zum Buch Rut werden: Die literaturwissenschaftliche Methode der Texterschließung, die Aufmerksamkeit für intertextuelle Bezüge zu anderen biblischen Texten und die Beachtung der in die Tiefe der Jahrhunderte zurückreichenden jüdischen Auslegungstradition der Rutrolle, die ihren spirituellen und liturgischen Ort im jährlichen Wochenfest findet.

Eine Erzählung vom Rang der Rutrolle erfordert nicht nur die oft bekundete Bewunderung über eine Perle hebräischer Erzählkunst, sondern auch eine Interpretationsmethode, die ihrer Textgestalt gerecht wird. So beginnt die ausführliche Einleitung (11-73), die der eigentlichen Übersetzung und Kommentierung (74-175) vorangestellt ist, mit einer elaborierten Zusammenstellung der erzählerischen Merkmale und literarischen Stilmittel: Charakterisierung der weiblichen und männlichen Haupt- und Nebenpersonen, Handlungsverlauf und Szenenfolge, Zeitverhältnisse und Schauplätze, Reden und Dialoggestaltung, eingearbeitete Verse mit poetischem Charakter, Wortspiele und chiastische Bezüge in den Einzelszenen wie in der Gesamtanlage der Erzählung. Im zweiten Teil der Einleitung folgen Abschnitte über den Ort des Rutbuches im Kanon, die Sprache, Gebote und Bräuche, Abfassungszweck und -zeit. Ein eigenes Kapitel informiert über den liturgischen Sitz im Leben der Rutrolle im jüdischen Wochenfest.

Der narratologische Ansatz wird auch in der Kommentierung allenthalben spürbar, so dass sich das Buch geradezu als Lehrbuch der Erzähltextanalyse präsentiert. Die Rutgeschichte ist für Z. eine Erzählung mit einem "idyllisch-romantischen" Charakter, weil sie trotz der schweren Krisen und Gefährdungen, die sie beschreibt (Hungersnot, Gattentod, Dasein als Witwe und Fremde, Bedrohung von Erntearbeiterinnen), von einer bemerkenswerten Harmonie und Milde durchdrungen ist. Die Akteure stehen nicht im Wettstreit gegeneinander, sondern überbieten einander darin, Gutes zu tun. Ebenso agiert die Vorsehung Gottes, von der in der Erzählung äußerst zurückhaltend die Rede ist (22 f.), die aber gleichwohl das ganze Geschehen umfängt. Das theologische Konzept verbindet die Erwartung an Gottes wohltätige Führung mit dem Vertrauen in das eigene Verhalten: "Der Mensch ist verpflichtet zu handeln, und daher hilft Gott jenen, die sich selbst und ihren Nächsten helfen" (23).

Die David-Genealogie am Schluss des Buches (4,18-22), die in der europäischen Forschung gern als sekundär angesprochen wird, gehört für den Vf. aus literarischen Gründen zum ursprünglichen Bestand des Rutbuches. Da diese Genealogie aber diejenige in 2Chr 3 voraussetzt, muss für das gesamte Rutbuch eine nachchronistische Entstehungszeit angenommen werden, die der Vf. mit "der Mitte des 5. Jh.s v. d. Z." (62) aber wohl zu früh ansetzt. Trotz archaisierender Tendenzen passen stilistische Eigentümlichkeiten und die erzählerischen Intentionen in die Zeit des "Zweiten Tempels". Dazu gehören Anspielungen auf offenbar bereits vorliegende Literatur des Pentateuch und der Propheten, die literarische Nähe zur Juditnovelle, vor allem aber die Auseinandersetzung mit der Mischehenfrage. Angesichts der scharfen Verurteilung der Mischehen und der Forderung nach der Vertreibung fremder Frauen, wie sie die Jerusalemer Tempelhierarchie der Zeit Esras erhob, nimmt das Buch Rut in sanfter Radikalität die genaue Gegenposition ein, indem es zeigt, dass die Liebe zur Tora und zu ihren Geboten auch gerade solche Lösungen wie die der Ruterzählung erfordern kann, in der eine moabitische Witwe durch Mischehe und judäische Übernahme der Löserverpflichtung zur Stammmutter Judas wird. In diesem Anliegen erkennt Z. den eigentlichen Abfassungszweck der Ruterzählung (39 f.). Da das Rutbuch die schriftlich fixierte Mosetora im Pentateuch bereits voraussetzt, ist seine Torakonzeption vor diesem Hintergrund zu verstehen. Die Tora versteht das Rutbuch als ein Gesetz des Lebens, das die Menschen liebevoll unterweisen möchte und dabei Akteure braucht, die der Tora in diesem lebensfördenden Sinn treu und auch bereit sind, deren Gebote über das erforderliche Maß hinaus zu erfüllen (11).

Intertextuelle Bezüge führen vor allem zur zweiten judäischen Gründungsgeschichte in Gen 38, aber auch zu Gen 12,10-20; 20,1 ff. (Erzählanfang), zu Gen 24, zur Ijoberzählung (Noomi als weibliche Ijob-Figur) und - kontrastierend - zur diffamierenden moabitischen Gründungslegende in Gen 19,30 ff.

Der Vf. stützt sich bei seiner Interpretation vor allem auf die traditionelle jüdische Auslegung, angefangen bei Flavius Josephus, den Targumim und Midraschim, und vermittelt so einen reichen Einblick in jüdische Umgangsweisen mit dem Buch Rut. Ein eigenes Kapitel stellt die jüdischen Quellen vor. Unter ihnen ist besonders der Rutkommentar Emmanuels von Rom (geb. ca. 1261 n. Chr.) zu nennen. Die einzige bekannte Handschrift dieses Werkes konnte der Vf. in der Bibliothek von Parma benutzen.

Die Methoden und Blickwinkel der Textbefragung aber entsprechen den historischen und literarischen Methoden der Moderne. Auch wenn die Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen wissenschaftlichen Literatur eher sporadisch erfolgt und die feministische Forschung der letzten Jahrzehnte unberücksichtigt bleibt, zeigt sich der Autor über den Gang der Forschung doch bestens im Bild. Insofern ist Z.s Buch ein moderner historisch-kritischer Kommentar aus jüdischer Feder, der mit Einfühlungsvermögen und philologischer Sorgfalt gegenwärtige Zugänge der Texterschließung mit den alten Antworten der jüdischen Auslegungsgeschichte in ein fruchtbares Gespräch bringt.

Dem Herausgeber Erich Zenger und dem Übersetzer ist dafür zu danken, dass nach Uriel Simons Kommentar zum Jonabuch (1994, SBS 157) nun ein weiterer jüdischer Bibelkommentar aus Israel in deutscher Sprache zugänglich gemacht wurde. Dem Buch ist ein Glossar, eine recht selektive Bibliographie, ein gutes Stellenregister und ein verbesserungsbedürftiges Sachregister beigegeben.