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Ausgabe:

April/2001

Spalte:

374–377

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Scherer, Andreas

Titel/Untertitel:

Das weise Wort und seine Wirkung. Eine Untersuchung zur Komposition und Redaktion von Proverbia 10,1-22,16.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1999. IX, 374 S. gr.8 = Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament, 83. Lw. DM 98,-. ISBN 3-7887-1718-1.

Rezensent:

Jutta Krispenz

Seit einigen Jahren werden immer wieder Arbeiten veröffentlicht, die sich mit dem Buch der Sprüche, dessen literarischer Strukturiertheit und Entstehungsgeschichte beschäftigen. Mit dieser Feststellung eröffnet A. Scherer seine unter der Betreuung von H. Graf Reventlow entstandene Dissertation.

Das nunmehr gedruckt vorliegende Werk wird vom Autor in fünf gleich gewichtete Abschnitte untergliedert. Der exegetische Hauptteil (IV) wird von drei einleitenden Abschnitten (I-III) und einer Schlussauswertung (V) umrahmt, so dass sich ein dreiteiliger Aufbau ergibt.

Zuerst beschreibt S. in einer "Einführung" sein Vorhaben: "Um den Sinn der Spruchanordnung wirklich erfassen zu können, muss der einzelne Spruch in seiner individuellen Bedeutung ebenso berücksichtigt werden wie die kompositorische Gestaltung der Textzusammenstellung." (2) Das ist ein Thema, das bereits verschiedene Exegeten unterschiedlich intensiv aufgenommen haben. S. erweitert das Vorhaben um eine redaktionsgeschichtliche Dimension, die für sich genommen auch Vorläufer hat. S. äußert sich nicht darüber, in welchem Verhältnis zueinander er Redaktion und Komposition im Text und in der Analyse sieht, aber beide Begriffe liegen für ihn so nahe beieinander, dass er von einer "kompositorisch - redaktionellen Ebene" (3) sprechen kann. Insbesondere die Ausführungen unter V. 2, auf die S. hinweist (4, Anm. 8), zeigen, dass S. die beiden Begriffe nicht unterscheidet: Die Redaktion ist für die Zusammenstellung der Sprüche verantwortlich, Komposition und Redaktion sind, historisch gesehen, ein Vorgang. Aus der Perspektive des analysierenden Exegeten aber definieren die Sachverhalte "Komposition" und "Redaktion" ganz unterschiedliche Fragerichtungen.

Auf die Einführung folgt ein Überblick über die "Forschung zur Redaktionsgeschichte des Proverbienbuches" (5), der zweigeteilt ist und in seinem ersten Teil "Übergreifende Überlegungen zur Entstehung des gesamten Buches" (5) vorstellt. Neben Arbeiten von Grintz und Snell bespricht S. Skehans gematrische Deutung des Sprüchebuches. Der zweite Abschnitt des Forschungsüberblicks nimmt "Detaillierte Untersuchungen einzelner Sammlungen", (20) in den Blick. Auch in diesem Abschnitt dominiert die Frage nach der Redaktionsgeschichte des Textes, sowohl im Abschnitt II,2a "Auf der Suche nach späteren redaktionellen Ergänzungen" (20) - Arbeiten von Whybray, Ernst und Doll werden hier behandelt - als auch in II,2b, "Auf der Suche nach ursprünglich selbständigen Spruchgruppen" (31) - Arbeiten von Hermisson, Plöger, Krispenz, Garrett, Meinhold und Whybray werden hier auf vier Seiten besprochen. S. nimmt mit seinem redaktionsgeschichtlichen Interesse nicht unbedingt Rücksicht auf das jeweilige Untersuchungsziel der besprochenen Arbeiten.

An die Forschungsgeschichte schließt S. eine "Methodische Besinnung" (35) an, in der er zuerst über "Kontextbildende Elemente" (35), dann über "Kriterien zur Bestimmung redaktioneller Spruchbildungen" (42) nachdenkt. Besonders der erste der beiden Abschnitte enthält einige Weichenstellungen. S. übergeht die Frage, wie denn Kontext innerhalb der Sentenzensammlungen begründet zu beschreiben wäre: Die Sprüche bilden ja - auf den ersten Blick zumindest - eine amorphe Ansammlung. Zusammenhänge, die der Leser sieht, könnten sich dem Blick des Lesers ebenso gut verdanken wie dem Gestaltungswillen eines Redaktors. Die Sentenzensammlungen im Buch der Sprüche unterscheiden sich darin grundsätzlich von narrativen Texten des AT, in ihnen gibt es keine unmittelbar gegebene Textkohäsion jenseits der Spruchgrenzen. Diejenigen Phänomene, die S. als "Kontextbildende Elemente" (35) einschätzt, entnimmt er einem von ihm festgestellten wissenschaftlichen Konsens. Es sind für ihn "Stichwörter" (36), "Wortfelder" (38) und "Paronomasien" (38).

Warum er die Stichwörter nicht formal den Paronomasien und inhaltlich den Wortfeldern zuordnet, bleibt im Dunkeln. Die Erläuterungen zu den Wortfeldern sind von spartanischer Knappheit und obwohl S. feststellt "Verbindungen auf der Wortfeldebene sind semantisch orientiert ..." (38), deutet nichts darauf hin, dass S. an diesem für seine Untersuchung so wichtigen Punkt weiterreichende Überlegungen über Identität und Differenz in der Semantik angestellt oder eine linguistische Semantik herangezogen hätte. S. vertraut hier offenbar auf seine Intuition.

Im Abschnitt über Paronomasien referiert S. eine ganze Reihe von Positionen, beginnend mit Casanowitz, lässt aber die "grundlegende Arbeit von Gustav Boström" (35)1 an dieser Stelle völlig unberücksichtigt. Nun hat keine andere Arbeit das Phänomen der Paronomasien so umfassend behandelt, niemand hat dieses Gebiet hinsichtlich seiner formalen Erscheinungsformen, seiner Bedeutung und der Vielfalt der Anwendungsgebiete so gründlich bearbeitet, wie Boström das getan hat. Boström hat außerdem mit dem Proverbienbuch als zentralem Text genau den Text bearbeitet, den auch S. im Blick hat. Dass ausgerechnet diese Arbeit, die S. im Verlauf seiner Exegesen immer wieder auch explizit zitiert, hier nicht dargestellt wird, ist schwer nachvollziehbar. Auch scheint S. Boströms zentrales Anliegen nicht klar geworden zu sein. Wenn S. bemerkt "Im Zuge der Analyse von Prov 10,1-22,16 werden aber gelegentlich Belege sichtbar, die deutlich machen, daß Paronomasien ... auch auf inhaltliche Zusammenhänge aufmerksam machen wollen" (41), so entdeckt er schemenhaft einen Zusammenhang, den Boström in aller wünschenswerten Klarheit und Breite herausgearbeitet hat, auch das könnte "... als Gemeinplatz der Forschung gelten ..." (35). Und wenn S. schreibt "Die klassische Definition von Paronomasie liegt uns nicht vor" (39), so ist dazu anzumerken, dass sie nach Ansicht der Rez. in Gestalt von Boströms Buch allerdings vorliegt.

Mit den von ihm erhobenen Kompositionen im Hintergrund will S. der Redaktion und ihrem eigenen Aussageprofil nachgehen. S.s Vorstellung von der Entstehung der Spruchsammlungen rechnet ja damit, dass die Komposition der Sprüche zu strukturierten, aber nicht klar voneinander abgegrenzten Einheiten auf die Redaktoren zurückgeht. Deren Handschrift wird erkennbar an einzelnen Sprüchen, die von den Redaktoren aus anderen Sprüchen unter Angleichung an den Kontext geschaffen wurden und die stets an prominenter Stelle im Gefüge der Sprüche plaziert wurden. S. versucht, solche Sprüche zu isolieren, unter Verwendung folgender Eigenschaften der Sprüche: Ein redaktioneller Spruch ist in den Kontext gut integriert, "Sprüche mit geringer oder fehlender Kontexthaftung sind allenfalls als postredaktionelle Ergänzungen diskutabel" (43), er ist eine Spruchdublette oder Spruchvariante "... damit die Suche nach redaktionellen Sprüchen nicht in die Uferlosigkeit abirrt ..." (43/44) und ist "... speziell an seinen Kontext angepaßt ..." (45). Auch hier ist für S. seine eigene Wahrnehmung von Kontext und Zusammenhang letztlich das entscheidende aber nicht hinterfragte Kriterium.

Der Abschnitt IV "Untersuchungen zur Komposition und Redaktion" (47) macht mit annähernd 300 Seiten den größten Teil des Buches aus. In ihm bespricht S. in kommentarartiger Weise den gesamten, in 13 "Großabschnitte" (Prov 10,1-32; 11,1-31; 12,1-28; 13,1-25; 14,1-15,1; 15,2-32; 15,33-16,15; 16,16-17,1; 17,2-19,1; 19,2-20,21; 20,22-21,3; 21,4-29; 21, 30-22,16 ) unterteilten Text von Prov 10-22,16. Zu jedem Abschnitt ist eine Übersetzung abgedruckt, in der kompositorisch relevante Elemente sowie später dem Text zugefügte Bestandteile durch unterschiedliche Drucktypen markiert sind. Die Darstellung kombiniert darin zwei unterschiedliche Informationen, was etwas gewöhnungsbedürftig ist. Die Übersetzung wird in Anmerkungen flankiert von Ausführungen zu Textkritik und Sprache des jeweiligen Abschnittes. Auf die Übersetzung folgt immer erst ein Abschnitt "Analyse", der sich vor allem den von S. erhobenen Zusammenhängen zwischen den Sprüchen widmet, und dann ein Abschnitt, in dem S. "redaktionelle Textbestandteile" beschreibt. S. trägt in diesem Teil eine Fülle von Beobachtungen zusammen. Leider hat er dabei den Dialog mit Vorgängerarbeiten nicht systematisch geführt.2

S.s Ausführungen stützen sich mit sehr großem Vertrauen auf die von der eigenen Intuition entdeckten Kompositionen. Diese können natürlich zufällig genau diejenigen sein, welche die Redaktoren tatsächlich zusammengestellt haben, es sind aber eine ganze Reihe anderer Kompositionen und auch andere Entstehungsmodelle denkbar, die denselben Gültigkeitsanspruch erheben könnten, ohne dass S. diesem Anspruch in grundsätzlicher Weise begegnen könnte. Diese Ungewissheit beeinträchtigt auch die Überzeugungskraft von S.s redaktionsgeschichtlichen Darlegungen.

S. fasst seine Ergebnisse immer wieder in kurzen Übersichten zu den Untergliederungen der Abschnitte zusammen. Leider beschreibt er darin aber die Abschnitte nicht inhaltlich, sondern nummeriert sie lediglich. Auch in der abschließenden "Auswertung" (334) verfährt S. so. Für den Leser ergibt sich der Eindruck, dass es S. darum geht, zwei Unterabschnitte in der Sammlung hervorzuheben: Den "Sammlungskern" (Prov 15,33-16,15; 334) und die "Reminiszenz an den Sammlungskern" (Prov 20,22-21,3; 334). Diese Bezogenheit der beiden Großabschnitte scheint auch die wichtigste redaktionsgeschichtliche Entdeckung in S.s Arbeit zu sein. Bei S.s Versuch, die redaktionellen Sprüche einigen wenigen inhaltlichen Kategorien zuzuweisen (338), fällt auf, dass diese Kategorien so allgemein gefasst sind (mit Ausnahme der Kategorie "JHWH-Sprüche"), dass ein erheblicher Teil der Sprüche in diese Kategorien passen würde. Dasselbe Phänomen schmälert die argumentative Kraft einer weiteren Beobachtung: S. stellt fest, dass Jahwesprüche häufig kombiniert mit "weisheitlich-didaktischen" (338) Sprüchen stehen (336). Aber er grenzt diese Kategorie nicht ein und untersucht auch nicht systematisch alle Jahwesprüche, sondern trifft die genannte Feststellung nur für Jahwesprüche am Beginn eines von ihm definierten Abschnittes.

Der Abschnitt "Der historische Ort der Redaktion von Proverbia 10,1-22,16" versucht, die Sammlung 10,1-22,16 in eine relative Chronologie zu den übrigen Sammlungen des Sprüchebuches zu bringen. Die Basis hierfür ist schmal, genügt S. aber, die Sammlung "... in die Mitte der ersten Hälfte des achten Jahrhunderts ..." (345) zu datieren. Ähnlich schwach fundiert erscheint der Rez. die Darstellung der gesamten Entstehungsgeschichte des Sprüchebuches. Im letzten Abschnitt schließlich macht S. noch Anmerkungen "Zu den postredaktionellen Ergänzungen" (351), die allerdings nur wenige Verse umfassen.

Ein Anhang mit Literaturverzeichnis, Bibelstellenregister und je einem sehr kurzen Sachregister mit deutschen bzw. hebräischen Begriffen schließt das Buch ab.

Das ehrgeizige Projekt, eine Gesamtsicht des Entstehungsprozesses wie auch der strukturellen Beschaffenheit der Sentenzensammlung Prov 10,1-22,16 zu entwerfen, hat S. auf einem zu schwachen methodischen Fundament aufgebaut. Seine zahlreichen, oftmals vielleicht zutreffenden Beobachtungen hat er dadurch in ihrem argumentativen Wert geschwächt. Er zeigt darin, wenngleich unfreiwillig, die Bedeutung des Sprüchebuches für die Exegese des Alten Testamentes: Sie liegt nach Ansicht der Rez. nicht zuletzt darin, dass am Buch der Sprüche Unzulänglichkeiten des üblichen methodischen Instrumentariums sichtbar werden, so dass die Sentenzensammlungen den Exegeten mehr als jeder andere Textbereich des AT zur Reflexion seiner Methoden nötigen.

Fussnoten:

1) Gustav Boström, Paronomasi i den äldre hebreiska Maschallitteraturen med särskild hänsyn till Proverbia. Lund/Leipzig 1928 (= LUÅ.N.F. Avd. 1 Bd. 23, Nr. 8).

2) Als Beleg ein paar Beispiele aus der Auseinandersetzung mit der Dissertation der Rez. Spruchkompositionen im Buch Proverbia. Frankfurt a.M. u. a., 1989 (=EHS XXIII/349): Abgrenzung und strukturierende Merkmale in Prov 10,13-17.18-21 finden sich ganz ähnlich bei Krispenz, 46.164. Auch in Prov 14 hat S. die deutlichen Parallelen seiner Beobachtungen zu Krispenz, 168-170 nicht vermerkt, gleiches gilt für Prov 17,16-22 (Krispenz, 173). Bei der Diskussion des Aufbaus von Prov 1 (75-88) klammert S. die Beobachtungen zu Prov 11,7-14 (Krispenz, 165) aus.