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Ausgabe:

Oktober/1998

Spalte:

967–969

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Murphy, Roland E.

Titel/Untertitel:

The Tree of Life. An Exploration of Biblical Wisdom Literature. 2nd Ed.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 1996. XI, 233 S. 8. Kart. $ 22.-. ISBN 0-8028-4192-9.

Rezensent:

Otto Kaiser

Die zweite Auflage der erstmals 1990 erschienenen Einführung in die biblischen Weisheitsbücher von dem amerikanischen Altmeister Ronald E. Murphy bietet auf den S. 1-190 einschließlich der Bibliographie (185-190) und des Registers (230-233) den unveränderten Text der ersten Auflage. Dazwischen steht ein Nachtrag, der vor allem die zwischen den beiden Auflagen erschienene Literatur kritisch referiert (191-229).

Der Autor schöpft bei seiner Darstellung der allgemeinen Probleme der Weisheitsliteratur (1-14), des Proverbien- ("Proverbs - the Wisdom of Words": 15-32) und des Hiobbuches ("Job the Steadfast": 33-48), des Kohelet ("Qoheleth the Sceptic?": 49-63), der Weisheit des Jesus Sirach ("Ben Sira - Wisdom’s Traditionalist": 64-81) und der Weisheit Salomos ("The Wisdom of Solomon - A View from the Diaspora": 83-96) aus dem reichen Schatz eines in Jahrzehnten erworbenen Wissens. Die einzelnen Bücher werden in einer ihrem jeweiligen Charakter angepaßten Weise unter Berücksichtigung der sog. Einleitungsfragen bei besonderer Betonung ihres Aufbaus und Inhalts vorgestellt. Dadurch erhält der Leser einen konkreten Eindruck von ihrer literarischen und theologischen Eigenart. Dem Zweck des Buches als einer Einführung gemäß treten die genetischen Probleme zugunsten der Interpretation der überlieferten Schriften in den Hintergrund. Aber der Fachmann merkt zumal in dem Supplement, daß M. sehr wohl mit ihnen vertraut ist. Der Anhang vermittelt dem Leser die nötigen Grundkenntnisse über das verwandte Schrifttum in Mesopotamien und Ägypten, um dann knapp das Problem des hellenistischen Einflusses auf Kohelet, Ben Sira und die Weisheit Salomos zu behandeln (151-179).

Das Buch nimmt den Leser durch seine präzise Sprache und seine klare, auf das theologische Endziel ausgerichtete Gedankenführung gefangen. M. verfügt nicht nur über eine profunde Kenntnis der biblischen Bücher und ihrer Auslegungen, sondern auch über eine systematisch-theologische Kompetenz. So kann er ebenso auf Hieronymus oder den Aquinaten wie auf Kierkegaard und Karl Rahner zurückgreifen, um anzudeuten, wie die in den Weisheitsbüchern verhandelten Fragen heute weiterzudenken sind. Das aber geschieht so behutsam, umsichtig und zugleich zurückhaltend, wie das ganze Buch geschrieben ist. Wer eine zuverlässige Einführung in die biblischen Weisheitsschriften auf hohem Niveau sucht, dem sei dieses Buch nachdrücklich empfohlen. Es sei jedoch ausdrücklich hinzugefügt, daß auch der Spezialist durch es manche Anregung empfangen kann.

Damit ist bereits gesagt, daß der Rez. trotz unterschiedlicher Beurteilung mancher Einzelfrage, wie es in der Forschung unvermeidlich ist, das Buch insgesamt mit Zustimmung gelesen hat. Nicht ganz überzeugend ist ihm allerdings das mit "Wisdom’s Echo" überschriebene siebte Kapitel erschienen (97-110). Das Problem des weisheitlichen Einflusses nimmt sich in seinen Augen im Horizont der redaktionsgeschichtlichen Erforschung der Prophetenbücher, der Einsicht in die Eigenart der sog. nachkultischen Psalmendichtung mit der in ihr zu beobachtenden Traditionsvermischung komplizierter aus, als es hier dargestellt wird (vgl. 67 und 108). Gegenüber einer zu einseitigen traditionsgeschichtlichen Sichtweise bei parallelen Forderungen und Wertungen bei den Weisen und im Deuteronomium erinnert M. freilich mit Recht an den beiden gemeinsamen Mutterboden im Sippenethos (105 f.). - Auch in der Frage, ob es (abgesehen von den späten Soferim) so etwas wie einen Berufsstand der Weisen in Israel gegeben hat, kann man unterschiedlicher Ansicht sein (vgl. 102 und 192 mit 3-5). Überzeugend ist M.s Feststellung, daß HL 8,6 mit seiner Beschreibung der Liebe als Feuer Jahwes den Anknüpfungspunkt für weitergehende Deutungen der primär die irdische Liebe besingenden Lieder geliefert hat (107).

Umsichtig bestimmt M. die umstrittene Bedeutung der Weisheit für die alttestamentlische Theologie im achten Kapitel "Wisdom Literature and Theology" (111-131) im Anschluß an das, was Johannes Marböck zu Sir 31,12-32,13 (BBB 37, 1971, 104) ausgeführt hat: Einerseits ist sie als Weisheit von oben Offenbarung im Sinne der Erfahrung der Gegenwart Gottes mitten im Alltag und andererseits ist sie eben Alltagsweisheit (125). Von der so verstandenen Weisheit von oben her erklärt sich dann auch ihre Personifikation, die M. im neunten Kapitel über die "Lady Wisdom" untersucht (133-152). Diese Seiten gehören wegen ihrer nuancierten Textbeobachtungen und ihrem Beharren auf der Frage nach der Bedeutung der Texte statt nach ihrer Vorgeschichte nach meiner Ansicht zu dem Besten, was darüber in den letzten Jahren geschrieben worden ist: Der Weg führt von dem Gedicht über den geheimnisvollen Charakter der göttlichen Weisheit in Hiob 28 zu ihrer Deutung als Stimme Gottes in Prov 8 und dann über ihre Identifikation mit der Tora in Sir 24 und Bar 3,9-4,4 zu Sap 7-9, wo sie schließlich dem Geist (vgl. 1,7 mit 9,17) bzw. der Vorsehung Gottes entspricht (vgl. 8,1 mit 14,3; 17,2). In dem Schlußsatz seiner Darstellung auf S.147 erreicht das Buch sein organisches Ziel. Er lautet: "The best one can say is that Lady Wisdom is a divine communication: God’s communication, extension of self, to human beings. And that is no small insight the biblical wisdom literature bequeaths to us."