Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2001

Spalte:

365–368

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Diamond, A. R. Pete, O'Connor, Kathleen M., and Louis Stulman [Eds.]

Titel/Untertitel:

Troubling Jeremiah.

Verlag:

Sheffield: Sheffield Academic Press 1999. 463 S. gr.8 = Journal for the Study of the Old Testament, Suppl.Series, 260. Lw. £ 50.-. ISBN 1-85075-910-3.

Rezensent:

Rüdiger Liwak

Der Aufsatzband enthält 24 Beiträge zum Jeremiabuch, die in der "Composition of the Book of Jeremiah Group" der Society of Biblical Literature angeregt, präsentiert und diskutiert wurden. In der Einführung (15-32) proklamiert A. R. Pete Diamond den Abschied von autorzentrierten historisch-kritischen Fragestellungen, denn sie "negotiate the meaning of the text against the realities of author-text-reader by privileging the historical author or more broadly formulated the extrinsic realities that produced the book of Jeremiah" (17). Zwei Axiome fordert D. als Grundlage gegenwärtiger und zukünftiger Forschung: zum einen die ,textzentrierte' Wende zu "literary readings" mit ihren Orientierungen an der Poesie der Texte und ihren Versuchen, eine semiotische Grammatik aufzudecken, die ein kohärentes System von Bedeutung erschließen und damit zeigen könne, "that the final form of the book, even in its contradictions, is readable" (21); zum anderen die ,leser/inzentrierte' Wende zum Text "as coded discourse in which 'somebody says something about something to somebody'" (27), mit Jeremia als sozialem Symbol und den Lesern und Leserinnen als "ideological agents" (29). Eine neue Lesestrategie soll neue theologische ,Lesarten' des Jeremiabuches ermöglichen.

Der erste Teil ("Text-centered Readings of Jeremiah", 34-218) ist mit 10 Aufsätzen am umfassendsten.

Besonders hervorzuheben ist hier der Beitrag von Louis Stulman (The Prose Sermons as Hermeneutical Guide to Jeremiah 1-25: The Deconstruction of Judah's Symbolic World, 34-63), der bei seiner Untersuchung der literarisch-symbolischen Funktion der Prosareden historisch-kritische Aspekte deutlich voraussetzt. Er versteht Jer 1-25 als eine zunächst selbständige, thematisch gegliederte Großeinheit ('first scroll', aber nicht im Sinne einer ,Urrolle'), die ein Autor, der zugleich Leser ihm vorliegender poetischer Überlieferungen ist, durch die sog. deuteronomistischen Prosareden als einen die Mehrstimmigkeit poetischer Texte harmonisierenden Midrasch strukturiert und kodifiziert hat. Jener Autor habe mit der Überzeugung, dass das alte Symbolsystem (Tempel-, Bundes- und Königsideologie) nicht mehr trägt, auf eine vergangene Epoche zurückgeblickt und damit die ,zweite Rolle' (Jer 26-52) vorbereitet.

In weiteren Beiträgen stehen Kompositionsstrukturen im Vordergrund. Martin Kessler (The Function of Chapters 25 and 50-51 in the Book of Jeremiah, 64-72) konzentriert sich auf den Strukturpfeiler Jer 25, der die ersten 24 Kapitel zum Abschluss bringe und die Klimax des Buches, den Fall Babylon in Jer 50-51, vorbereite. Wie Martin Kessler macht Robert P. Carroll (Half way through a Dark Wood: Reflections on Jeremiah 25, 73-86) Jer 25 für das gesamte Jeremiabuch zu einem Kristallisationspunkt von Kohärenzbemühungen, gesteht aber durchaus eine diachrone Perspektive zu. Erst durch transformative Redaktionsarbeit sieht C. ermöglicht, dass "a canonical reading of the prophets makes them bearers of the world of salvation rather than proclaimers of critique and judgment" (82). Allein auf die Komposition von Jer 50 zielt Alice Ogden Bellis (Poetic Structure and Intertextual Logic in Jeremiah 50, 179-199).

Worin bei den übrigen Aufsätzen des ersten Buchteils eine besondere ,Textzentrierung' besteht, ist schwer zu sagen. Es sind jedenfalls ganz unterschiedliche methodische Textzugänge, die hier zusammentreffen.

Nancy L. Lee (Exposing a Buried Subtext in Jeremiah and Lamentations: Going after Baal and ... Abel, 87-122) will die Kain-Abel-Erzählung als versteckten Subtext in Jer 2 und 14 im Sinne eines intertextuellen Phänomens entdeckt haben. Der Intertextualität zwischen Hosea und Jeremia sowie zwischen dem Septuaginta-Text und dem Masoretischen Text des Jeremiabuches gehen A. R. Pete Diamond und Kathleen M. O'Connor (Unfaithful Passions: Coding Women Coding Men in Jeremiah 2-3, 123-145) nach und verstehen die Ehebruch-Metapher von Jer 2-3 als eine das disparate Material von Jer 2-3 zusammenhaltende Wurzelmetapher. John Hill (The Construction of Time in Jeremiah 25 [MT], 146-160) untersucht die symbolische Funktion von Jer 25, die dem Leser und der Leserin mit der Konstruktion von Zeit einen metaphorischen Raum der Erfahrung des Exils zwischen vergangenem göttlichem Gericht und verheißener Zukunft erschließe.

Ganz auf den literarischen Charakter von Jer 37-44 beschränkt ist die Studie von Else K. Holt (The Potent Word of God: Remarks on the Composition of Jeremiah 37-44, 161-170), die nach den literarischen und theologischen Ausdrucksmitteln des deuteronomistischen Erzählers sucht. Einen interessanten Versuch, historische und literarische Aspekte, geschichtliche Linearität und ihre Störungen in Jer 37-38, als zwei Erzählweisen miteinander ins Gespräch zu bringen, legt Mary Chilton Callaway (Black Fire on White Fire: Historical Context and Literary Subtext in Jeremiah 37-38, 171-178) vor: "The two voices, which do not coincide with sources or redactions, speak of two Jeremiahs: the Jeremiah of the last 18 months of Jerusalem, and the Jeremiah of the developing prophetic tradition." (177) Eigentlich wäre der Essay von John Barton (Jeremiah in the Apocrypha and Pseudepigrapha, 306-317), der weiteren Transformationen der historischen Prophetengestalt in Apokryphen und Pseudepigraphen nachgeht, ein guter Anschluss an den Essay Callaways, der Herausgeberkreis hat den Beitrag aber den "Reader-centered Readings", also dem zweiten Teil zugeordnet. Die ,Ideologie' des ersten Buchteils sprengt vollends der Aufsatz von Marvin A. Sweeney (Structure and Redaction in Jeremiah 2-6, 200-218), dessen struktur- und redaktionsgeschichtliche Analyse von Jer 2-6 authentische Prophetenworte aus der Zeit Josias und eine prophetische Bearbeitung unter Jehojakim ausmacht, also nicht mit vielen anderen Beiträgen die Tendenz zur Dehistorisierung teilt.

Der zweite Teil des Sammelbandes ("Reader-centered Readings of Jeremiah", 219-317) verfolgt semantische Strategien, die in erster Linie den Leser und die Leserin im Blick haben. Allerdings ist der Begriff 'reader-centered' mehrdeutig, sofern er sowohl den rezeptiven Autor als Leser als auch die damaligen und heutigen Leser und Leserinnen des Jeremiabuches bzw. eines Teils seiner Überlieferungen meinen kann.

Aus seiner langen und intensiven Beschäftigung mit dem Jeremiabuch heraus will Robert P. Carroll (The Book of J: Intertextuality and Ideological Criticism, 220-243) Jeremia jenseits der Fragen um Autorschaft, Authentizität und Kanon einerseits als ein intertextuelles Buch lesen, dessen Autoren Leser anderer Rollen waren, und andererseits als ein ,ideologisches' Buch, das primär die jüdischen Kreise in Babylon zu stützen sucht und wohl erst in hellenistischer Zeit entstanden sei. Den kritischen Zeitgenossen, d. h. den Exegeten und die Exegetin im strengeren Sinne hat auch William R. Domeris vor Augen, der den prophetischen Diskurs soziolinguistisch analysiert, indem er Jeremia eine Art Antigesellschaft und eine neue Sprache gestalten lässt, die in ihrer Metaphorik Wirklichkeit schafft und nicht abbildet. Auf ein wesentliches Problem der Textentstehung weist Raymond F. Person, Jr. (A Rolling Corpus and Oral Tradition: A Not-So-Literate Solution to a Highly Literate Problem, 263-271) hin. Er führt mangelnde Konsistenz und Kohärenz auf das Faktum einer schriftarmen Kultur zurück, die damalige Schreiber prägte, dem modernen Lesepublikum wegen seiner literarischen Mentalität aber eher verborgen bleibe. Roy D. Wells, Jr. (The Amplification of the Expections of the Exiles in the MT Revision of Jeremiah, 272-292) verfolgt anhand der Textgeschichte soziale Prozesse bei den nach Babylon Exilierten. Einen dekonstruktivistischen Ansatz wählt Angela Bauer (Dressed to be Killed: Jeremiah 4.29-31 as an Example for the Functions of Female Imagery in Jeremiah, 293-305), die eine kritisch-feministische Analyse und Bewertung pejorativer weiblicher Bilder und Metaphern, von Jer 4,29-31 ausgehend, vorlegt und im Blick auf heutige Theologie problematisiert.

Der dritte Teil des Buches ("Theological Construction", 319-401) will theologische Implikationen der Dehistorisierungsstrategien aufzeigen. Er stellt eine panel discussion zu Leo Perdues Buch "The Collapse of History: Reconstructing Old Testament Theology, Minneapolis 1994" dar, der zunächst selber (The Book of Jeremiah in Old Testament Theology, 320-338) gegenwärtige Methoden der Texterschließung vorträgt und dabei für einen normativen und werteorientierten sowie alte und neue Wege vermittelnden Textzugang votiert.

Grundsätzliche Zustimmung erfährt Perdue durch Lawrence Boadt (The Book of Jeremiah and the Power of Historical Recitation, 339-349), der die Wirkung der Jeremiatradition auf spätere Glaubensgemeinschaften gerade in der Historizität der Überlieferung verankert sieht. Kritisch mit Perdues Thesen und Kriterien setzen sich dagegen Dennis Olsen (Between the Tower of Unity and the Babel of Pluralism: Biblical Theology and Leo Perdue's The Collapse of History, 350-358) und Thomas W. Overholt (What shall we do about Pluralism? A Response to Leo Perdue's The Collapse of History, 359-366) auseinander.

Die beiden letzten Essays des dritten Teils verlassen wieder die programmatische Dimension. Walter Brueggemann (The 'Baruch Connection': Reflections on Jeremiah 43: 1-7, 367-386) versteht die Gestalt des Baruch als Schlüssel für den Kanonisierungsprozess, in dem Baruch als Symbol von gesellschaftspolitischen Interessen auftrete, die eine ideologische und utopische Motivation erkennen ließen und dabei die metapolitische Poesie des Propheten Jeremia beerbten. Kathleen M. O'Connor schließlich (The Tears of God and Divine Character in Jeremiah 2-9, 387-401) arbeitet die unterschiedlichen Gottesbilder in Jer 2-9 heraus und deutet die weinende Gottheit auf eine den Exilierten geltende Aussetzung der Unheilsgeschichte.

Am Ende des Buches im vierten Teil ("Response", 403-443) geht der Blick zurück auf die wesentlichen Impulse des Bandes und voraus auf künftige Aufgaben.

So rekapituliert Walter Brueggemann (Next Steps in Jeremiah Studies? 404-422) noch einmal die Wende vom diachronen zum synchronen Ansatz der Auslegung und sieht die so oft beschworene ,Unlesbarkeit' des Jeremiabuches weniger im Text selbst als im Leserverhalten begründet. Zum dritten und letzten Mal erhält am Schluss des Buches Robert P. Carroll das Wort (Something Rich and Strange: Imaging a Future for Jeremiah Studies, 423-443). Entgegen seiner bisherigen Zurückhaltung wünscht er sich feministisch-kritische Auslegungen und nun auch Arbeiten mit homosexuellen Fragestellungen, vor allem aber weiterhin ideologiekritische Studien zum Jeremiabuch und weniger historisch, theologisch und rezeptionsgeschichtlich orientierte.

Der umfangreiche Aufsatzband, der durch einen ausführlichen Bibelstellen- und Autorenindex (444-463) gut zu erschließen ist, stellt einen gewichtigen Beitrag zur Jeremiaforschung dar. Sein Reiz besteht in der Mischung aus programmatischen Entwürfen und detaillierten Untersuchungen zu konkreten Problemen, die das ganze Buch oder einzelne Teile bzw. Kapitel betreffen. Wenig gelungen ist die Aufteilung der Beiträge auf das Beziehungsgeflecht Autor-Text-Leser/in, weil eindeutige Klassifizierungen oft nicht möglich sind und die jeweilige Zuordnung unklar bleibt. Problematisch ist es, die Autorenfrage im geschichtlichen Kontext zu vermeiden (Diamond, 17-20). Muss nicht das Ensemble von Autor, Text und Leser/in gleichermaßen berücksichtigt werden (Sweeny, 200), weil Texte immer unter bestimmten historischen Bedingungen, die gegebenenfalls durch den Text beeinflusst werden sollen, geschrieben und tradiert wurden (Olson, 350-358)? Wie kann dann die historische Methode ausgesetzt bzw. mit der unverständlichen Einschränkung "if only moderately or temporarily" (Diamond, 30) relativiert werden? Bei den reader-centered-Beiträgen wird ohnehin gegen das Programm soziohistorisch rekonstruiert, freilich im Zusammenhang literarischer Methodik, die nicht gegen die historische Fragestellung ausgespielt werden kann. Dass die bisherige Jeremiaforschung in eine Sackgasse geraten ist (Diamond, 15), wird man schwerlich in dieser Schärfe sagen können. Noch immer können viele literarische Spannungen nicht zuletzt auch durch eine historisch-kritische Exegese erklärt werden (vgl. Person, Jer., 263-271), selbst wenn damit zu rechnen ist, dass neuzeitliche Rationalität die antiken Gestaltungsmöglichkeiten falsch einschätzt (Brueggemann, 417 f.).

Ungeachtet dieser Rückfragen bieten die einzelnen Aufsätze, die an dieser Stelle nicht umfassender gewürdigt und kritisiert werden können, viel Anregendes für die weitere Arbeit am Jeremiabuch. Bedauerlich ist, dass die deutschsprachige Forschung nur punktuell wahrgenommen wird. Allen exegetischen Bemühungen zum Trotz behält ein auf den Titel des Buches anspielender Schlüsselsatz aus dem einführenden Beitrag weiterhin uneingeschränkt seine Gültigkeit: "The figure of Jeremiah remains troubled and troubling for the professional interpretative community" (Diamond, 15).