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Ausgabe: | März/2001 |
Spalte: | 337–340 |
Kategorie: | Ökumenik, Konfessionskunde |
Autor/Hrsg.: | Vogel, Lothar |
Titel/Untertitel: | Vom Werden eines Heiligen. Eine Untersuchung der Vita Corbiniani des Bischofs Arbeo von Freising. |
Verlag: | Berlin-New York: de Gruyter 2000. XI, 542 S. gr.8 = Arbeiten zur Kirchengeschichte, 77. Lw. DM 248,-. ISBN 3-11-016696-8. |
Rezensent: | Lutz E. v. Padberg |
Die Aussagebereitschaft hagiographischer Texte bewegt sich zwischen den Polen Topos und Realität, und deshalb verspricht es allemal Ertrag, sich mit dem ,Werden eines Heiligen' zu beschäftigen. In extensiver Weise unternimmt dies Lothar Vogel mit seiner Untersuchung der vita corbiniani des Bischofs Arbeo von Freising, die im Wintersemester 1998/99 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg als Dissertation (betreut von Hans Schneider, der als Erforscher des radikalen Pietismus hervorgetreten ist) angenommen worden ist. Für ein solches Vorhaben eignet sich der Freisinger Bistumspatron Korbinian in der Tat bestens, denn nach den einschlägigen Lexikonartikeln von Wilhelm Störmer stellt Arbeos Vita die "einzige Quelle" dar, die überdies "Widersprüche enthält" (Lexikon des Mittelalters 5, 1991, 1443; Lexikon für Theologie und Kirche 6, 31997, 372). Nachdem Korbinian im Rahmen der bayerischen Kirchengeschichte immer wieder behandelt worden ist, kann man sich natürlich fragen, warum ihm noch eine umfängliche Monographie gewidmet werden sollte. V. rechtfertigt seine Mühe, indem er "die kritische Destruktion" der bisherigen Forschung ankündigt, die "Raum öffnet für neue Konstruktion und Theoriebildung" und damit auch "für ein partiell neues Verstehen der süddeutschen Kirchengeschichte im frühen 8. Jahrhundert" (V). Der Weg zu dem Ziel einer erneuten Überprüfung der historischen Aussagekraft der vita corbiniani soll "nicht durch einen direkten Zugriff auf die von Arbeo berichteten Inhalte" gesucht werden, sondern darüber, "in welcher formalen und erzählerischen Gestalt diese Inhalte erscheinen" (4). Es geht also um die Unterscheidung von ,mündlicher Tradition' und ,literarischer Redaktion'. Der eigentliche Neuansatz V.s liegt dabei in der Übertragung der aus der neutestamentlichen Wissenschaft bekannten formkritischen Methode auf die historische Analyse der Vita.
Nach einer auf die Beobachtung von Akzentverschiebungen konzentrierten Zusammenstellung von Erwähnungen Korbinians in mittelalterlichen Texten vom 8. bis zum 16. Jh. (Kap. 1, 7-41) und einem ausführlichen Forschungsbericht, der in der Frage gipfelt, "ob Corbinian mit Arbeo als eine Freisingische Gründergestalt gedeutet werden kann, oder ob er dazu erst gemacht worden ist" (196; Kap. 2, 42-196), diskutiert V. in Kap. 3 in Anlehnung an einige Autoren die ,Anwendung der formkritischen Methode auf die Hagiographie' (197-232). Sie müsse "vorab vorgestellt und begründet werden, da ihre Anwendung auf die Hagiographie nicht als allgemein akzeptiert gelten kann" (197). Dem ist in der Tat so, und deshalb beansprucht dieser Teil der Arbeit besondere Aufmerksamkeit. V. betont zunächst, als ",Vorstufe' einer Heiligenvita ist also mündlich überliefertes Einzelgut anzunehmen" (197). Das ist wenig überraschend, wird doch in den Vorreden zahlreicher Viten auf mündliche und schriftliche Quellen verwiesen, die dann - wie sollte es anders vonstatten gehen? - von dem jeweiligen Autor zu einem eigenen Ganzen verarbeitet worden sind. Dass dieser Vorgang untersucht werden muss, bevor die historische Analyse einsetzen kann, ist in der Mediävistik selbstverständlich, und deshalb fragt man sich, warum der Vf. einen solch langen Anlauf nimmt, um zu diesem längst bekannten Ergebnis zu kommen (229 ff.). Weitere Anfragen kommen hinzu. Seine Bemerkungen über die Eigenaussagen hagiographischer Texte beziehen sich nur auf Bedas vita cuthberti, eine sicher zu schmale Basis. Beispielsweise hätte die vita leobae des Rudolf von Fulda (MGH SS 15,1, 118-131) wichtige Hinweise auf Entstehungsprozesse liefern können. Auch wären hierbei die bedeutenden Unterschiede zwischen merowingischer, angelsächsischer und karolingischer Hagiographie zu berücksichtigen (vgl. etwa Katrien Heene in Analecta Bollandiana 107, 1989, 415-428; deshalb dürfte auch die Kritik von Graus nicht generell übernommen werden [210 ff.]), denn ,die' Heiligenvita gibt es nun einmal nicht.
In dem Abschnitt ,Zur Erforschung mündlicher Überlieferungsgänge' (200-229) werden zuerst Forschungen von Hermann Gunkel (1922), Carl Albrecht Bernoulli (1900), Hippolyte Delehaye (1955) und Heinrich Günter (1910) zur Volksüberlieferung referiert, dann zur Formkritik hauptsächlich solche von Werner Georg Kümmel (1963), Martin Dibelius (1919) und Rudolf Bultmann (1931), sodann zur Hagiographie solche von Franticek Graus (1965), Friedrich Prinz (1980), Jacques Fontaine (1967) und Friedrich Lotter (1976). Es mag übertrieben erscheinen, mit Erscheinungsdaten zu argumentieren, aber mit Ausnahme der letzten Gruppe handelt es sich überwiegend um Werke der älteren Forschung. Ihre Ergebnisse sollen nicht in Abrede gestellt werden, aber ihr ausführliches Referat müsste doch in den Kontext der neuesten Forschung gestellt werden. Das aber geschieht trotz mancher Hinweise zu wenig.
Dies ist bedauerlich, gerade weil die Hagiographie in den letzten Jahren international eine Forschungsrenaissance erlebt (vgl. etwa die neue Zeitschrift Hagiographica der Società internazionale per lo studio del Medio Evo latino 1 ff., 1994 ff.) und außerdem das Spannungsfeld von Schriftlichkeit und Mündlichkeit durch eine Fülle von Arbeiten neu ins Blickfeld gerückt ist (z. B. in der Reihe ScriptOralia). Der Band von Hans-Werner Goetz, Moderne Mediävistik. Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung, Darmstadt 1999, informiert rasch über den Fortgang der Forschung. Was die neutestamentliche Exegese anbetrifft, so kann sich der Rez. kein kompetentes Urteil erlauben, hat aber doch den Eindruck, dass nach den Forschungen etwa von Wolfgang Richter, Georg Fohrer, Erhardt Güttgemanns und Klaus Berger sowie nach Ausweis des von Heinz-Werner Neudorfer und Eckhard Schnabel hg. Sammelbandes Das Studium des Neuen Testaments 1: Eine Einführung in die Methoden der Exegese, Wuppertal-Gießen 1999 und vor allem nach der ,Kritik der Formkritik' von Werner Schmithals (ZThK 77, 1980, 149-185) auch hier die Entwicklung seit den von V. zitierten Arbeiten vorangeschritten ist. Insbesondere die Leistungsfähigkeit der Methode hinsichtlich der Historizität von Überlieferungseinheiten ist in Frage gestellt worden, und gerade auf diesen Punkt scheint es dem Vf. anzukommen.
Nach diesem langen Anlauf wendet sich V. in Kap. 4 nunmehr der vita corbiniani zu und skizziert zunächst textimmanent deren Gesamtkonzeption (233-257) und darauf aufbauend Arbeos Widmungsschreiben an Bischof Virgil von Salzburg (Kap. 5, 258-271), das eine "Wechselwirkung zwischen Arbeos eigener Biographie und seiner Darstellung des Heiligen" erkennen lässt (271). Kap. 6 zu ,Tradition und Redaktion in der Vita Corbiniani' stellt den Kern der Arbeit dar (272-435), in dem sich nun die Anwendung der formkritischen Methode zu bewähren hat. Dazu wird der Text in kleine Abschnitte aufgeteilt und dann jeweils ihr Aufbau geschildert, nach möglichen Vorlagen und Parallelen gefragt und abschließend "das Verhältnis des Textstückes bzw. seine Traditions- und Redaktionsanteile zum Ganzen der Vita überprüft" (272). Das Aufspüren unterschiedlichster Bezüge geschieht mit Akribie und Findigkeit, was eine Fülle von Perspektiven ergibt. Um der möglichen Verwirrung des Lesers bei diesem aus den Quellen geschöpften, kleingliedrigen Vorgehen abzuhelfen, sind dankenswerterweise Zusammenfassungen beigegeben (324.374 f.404 ff.416 f.430f.). Besonders eingehend werden die beiden Romreisen Korbinians diskutiert (302-375), deren Historizität V. bezweifelt. Sie enthielten vielmehr ,altes Traditionsgut', das Arbeo genutzt habe, um Korbinian nach dem Vorbild des Bonifatius zu gestalten (462). Nach V. findet nämlich erstmals "eine Verbindung von Romreise, Papstaudienz und Bevollmächtigung durch die Bonifatiusvita des Willibald von Mainz Eingang in ein Heiligenleben" (311). Das mag zwar als Vorbild für Arbeo gelten, trifft aber noch früher auf Willibrord zu. Denn auch dieser angelsächsische Missionar ist bei seinen zwei Romreisen 692 und 695 (nicht nur eine 696, wie der Vf. 310 schreibt) entsprechend beauftragt worden (vgl. Jean Schroeder, Willibrord und Rom. Zu den beiden Papstbesuchen des Apostels der Friesen, in: HÈmecht 37, 1985, 5-13 und jetzt ZKG 111, 2000, 153ff.). Es kommen also weitere Vorbilder für Arbeos Konzeption in Betracht.
V.s kriminalistische Spurensuche führt sodann über die Analyse von "diachrone[n] und synchrone[n] Beziehungen zwischen dem ermittelten Überlieferungsgut" (436) zu ersten Ergebnissen (Kap. 7, 436-460). "Ein eigener ereignisgeschichtlicher Aussagewert unabhängig von den Erzählüberlieferungen kann Arbeos Gesamtkonzept daher nicht zugebilligt werden" (460). Vielmehr habe er selbst Korbinian gleichsam als Freisinger Bistumsheiligen aufgebaut und das Erzählgut maßgeblich ausgeprägt. Auf dieser akribisch erarbeiteten Basis kann als Kap.8 die ,Historische Auswertung' folgen (461-482). An den bekannten Daten ändert sie wenig. "Corbinian dürfte demnach um 720/30 verstorben sein" (462, 73: "spätestens um 730"; Störmer, s. o.: "um 728/730"), die Vita wurde "nach 756/68 [gemeint ist wohl 765/68, mögliches Translationsjahr], aber vor 772" geschrieben (257).
Was indes die in den Lexikonartikeln genannten Lebensstationen Korbinians anbetrifft, so kommt V. zu ganz anderen Ergebnissen: "Seine angeblichen Kontakte mit dem Langobardenkönig, dem fränkischen Hausmeier, bayerischen Herzögen und dem Papst entsprechen nicht der historischen Realität" (461). Korbinian sei nicht von gallischer Herkunft, für die Romreisen gebe es keine Argumente, in Freising habe er sich zu Lebzeiten nie aufgehalten und Bischof sei er auch nicht gewesen. Zwar enthalte die Vita "Elemente aus der vorhagiographischen Überlieferung" (471; z. B. Korbinians schallendes Gelächter über das Eingehen einer Stutenherde c. 22 und die Geschichte, wo er vom Pferd springt und eine Frau verprügelt, c. 29), aber durch Angleichung an motivähnliche hagiographische Vorbilder sei es schließlich Arbeo gewesen, "der nicht nur die Vita verfaßte, sondern die Heiligenverehrung Corbinians insgesamt initiierte und förderte" (472). Hinter dem ,Werden dieses Heiligen' steckt also Arbeos Wunsch, für Freising einen Bistumsheiligen haben zu wollen (482). Das klingt überzeugend und entspricht dem bekannten Verfahren mancher Hagiographen, bei ihrer Fortschreibung der Heilsgeschichte bisweilen großzügig mit der historischen Wirklichkeit umzugehen. Methodisch ist freilich anzumerken, dass das Vorhandensein von Vorlagen nicht automatisch dem Abbild die Realität absprechen muss, zumal sich der geschilderte Heilige auch selbst um imitatio bemüht haben kann. Klarheit könnte hier nur der Vergleich voneinander unabhängiger Quellen bringen. Diese gibt es im Falle von Korbinian jedoch nicht, und so bleibt manch scharfsinnige Hypothese unsicher.
Für sicher hält V. dagegen, dass "Corbinian ein Alpenromane war. Er stammte aus dem castrum Maletum (Mölten) und fand im castrum Maiense sein Grab" (464). Der Schwerpunkt seiner Wirksamkeit wohl als Priester lag in romanischen Siedlungen des Gebietes um Meran, und der "nobilis" (468) war darüber hinaus "nach Süden ins Langobardenreich hinein orientiert" (465).
Die Forschung wird sich in Zukunft mit diesen sorgfältig erarbeiteten Ergebnissen V.s auseinandersetzen müssen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er das historische Bild Korbinians auf eine neue Grundlage gestellt hat. Fraglich bleibt, ob dazu der lange Anlauf über die Formkritik nötig war. Die Nutzung mediävistischer Methoden und eine straffere Vorgehensweise hätten manche Redundanzen verhindern und das Buch kürzer werden lassen können. Es ist sorgfältig ediert (22, Anm. 64 muss es A. und nicht K. Hauck heißen; 214 ist nach Anm. 75 die Zahl im Text zu tilgen), mit einer ausführlichen Bibliographie versehen (485-534) und durch ein Register erschlossen (535-542).