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Ausgabe:

März/2001

Spalte:

326–329

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schibler, Gina

Titel/Untertitel:

Kreativ-emanzipierende Seelsorge. Konzepte der intermedialen Kunsttherapien und der feministischen Hermeneutik als Herausforderung für die kirchliche Praxis.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1999. 471 S. gr.8 = Praktische Theologie heute, 43. Kart. DM 68,95. ISBN 3-17-016105-9.

Rezensent:

Anne M. Steinmeier

Ziel der Untersuchung ist die Entwicklung eines Seelsorgemodells, "welches von einer Gleichwertigkeit der Geschlechter ausgeht und welches Bibel- und andere Texte nicht nur gehorsam annimmt", so ausdrücklich gegen K. Barth formuliert, "sondern kritisch hinterfragt" (30). Die Vfn. verfolgt ihr Ziel in fünf sehr breit untergliederten Abschnitten, die neben ihrem thematischen Schwerpunkt spiralförmig immer wieder dieselben Themen unter anderen Aspekten aufnehmen, was die Lektüre z. T. erschwert. Das gilt insbesondere für ihr langes Offenhalten von Fragen. In der Darstellung ihrer eigenen Position verwendet die Vfn. ausschließlich die weibliche Person, um "Frauen auch sprachlich als handelnde Subjekte aufscheinen zu lassen" (31). Zum Inhalt: In einem 1. Teil (33 ff.) sichtet sie von ihr ausgewählte Seelsorgeentwürfe (D. Rössler, K. Winkler, J. Scharfenberg u. a.) daraufhin, ob in ihnen Prozesse von Kreativität und geschlechtsspezifische Fragestellungen reflektiert würden (vgl. 33).

Neben aller Würdigung und zu achtenden Unterschiede müssen all diese Entwürfe sich den Vorwurf gefallen lassen, beides nur ungenügend zu beachten (vgl. 76). Das gelte auch dann, wenn Kreativität durchaus als Mittel seelsorglicher Begleitung gebraucht werde (vgl. 35). Diese "essentielle[n] Leerstellen" (76) will die Vfn. auf der Grundlage eines hermeneutischen Ansatzes füllen, der "sowohl für das Verstehen von Menschen" (87), d. h. explizit "von modernen Frauen und Männern" (30), "als auch von Bibeltexten und von Texten überhaupt geeignet ist" (87). In diesem Interesse bezieht sie sich auf Scharfenberg (vgl. 87 f.). Die feministische Hermeneutik E. Schüssler Fiorenzas bereitet der Vfn. den Weg. In eben diesem 2. Teil (87 ff.) werden deren hermeneutische Prinzipien auf ihren Transfer in die Seelsorgepraxis hin befragt: Von der Hermeneutik des Verdachtes führt der Weg zur - vor allem rollenspezifisch - fragenden Seelsorge (vgl. 108 f.), von der Hermeneutik des Beurteilens und der Verkündigung zur Freisetzung des eigenen Lebenspotentials (vgl. 109 ff.), von der Hermeneutik des Erinnerns und der historischen Rekonstruktion zur Ahnenforschung und Biographiearbeit (vgl. 111 ff.), von der Hermeneutik der kreativen Aneignung der Tradition zur kreativen Aktualisierung von nicht gelebten, verdrängten, vergessenen Lebensimpulsen (vgl. 113 f.), vom Postulat der Parteilichkeit für Frauen zur Parteinahme für Verwundungen und Marginalisierungen des Weiblichen (vgl. 118 f.).

In der Frage nach der theologischen Begründung bezieht sich die Vfn. neben dem Konzept Schüssler Fiorenzas auf C. Heywards "Gott als Macht in Beziehungen" (135). Ihre eigene Akzentuierung Gottes als "Macht im Schöpferischen", die Offenbarung Gottes explizit "nicht ausschließlich auf kanonisierte Schriften beschränkt" (131), sondern Wahrheit in Kommunikationsprozessen ortet, führt sie zu einer weitreichenden theologischen Konsequenz: Die im kreativen Umgang mit biblischen Stoffen und im eigenen Schöpfungsprozess erlebte Geisterfahrung ist "aus kreativ-theologischer Sicht in Verbindung zu bringen mit Dimensionen des Heiligen Geistes" (135). Als wegweisend stellt die Vfn. die pneumatologische Konzeption der asiatischen Befreiungstheologin Chung Hyung Kyung vor, die in Auseinandersetzung mit ihrem schamanischen Erbe, und d. h. vor allem dessen Geistkonzeptionen (Han-Geister, Lebensenergie der KI-Kraft), "den Geist aus der Gängelung durch Christus ... befreien" will, um ihre Kultur nicht als heidnisch abzuwerten, "sondern als Quelle religiösen Reichtums und Weisheit zu entdecken" (136). "Für die Seelsorge", meint die Vfn., "ergeben diese Horizonterweiterungen, d. h. die Loslösung des Geistbegriffes von der Christologie, eine befreiende Weite" (138). Ob damit "die Identität des genuin Christlichen" (ebd.) aufgegeben ist, bleibt letztlich eine offene Frage der Arbeit. Der 3. Teil (145 ff.) stellt Konzepte intermedialer Kunsttherapien vor. Deren Verständnis von Menschen im Horizont kreativer Dimensionen des Kindseins nimmt die Vfn. für ihren eigenen Ansatz auf.

Der ausdrücklich von ihr herausgehobene Widerspruch gegen Gedanken Freudscher Psycholanalyse (mit dessen Originaltexten sie sich allerdings kaum auseinandersetzt) gipfelt in der Zielvorstellung einer "wirklichen Begegnung" statt einer "Übertragung": "Zwar rechnen auch die Kunsttherapien mit den Möglichkeiten [sic] von Übertragungen, von Projektionen des Klienten auf den Therapeuten (resp. mit Gegenübertragungen des Therapeuten). Doch angestrebt resp. gefördert werden diese nicht, im Gegenteil. Angestrebt wird eine" - im Horizont der Philosophie Bubers formuliert - "wirkliche Begegnung von Du zu Du, damit ein tiefer Dialog möglich wird" (181, vgl. 222). Solche Konzepte, die "Leiden und Schmerz aus dem kreativen Prozess nicht ausgrenzen, sondern als Herausforderungen betrachten, die Neues, das Dritte entstehen lassen, und die den Therapieerfolg nicht dem Therapeuten, sondern einem Dritten zurechnen", rücken für die Vfn. "die Kunst- und Ausdruckstherapie in die Nähe zur Seelsorge resp. Pneumatologie" (225), wenngleich auch sie "androzentrisch" ausgerichtet seien und damit "dem traditionellen weiblichen Sozialisationsprozess und traditionellen Rollenmustern wenig entgegenzusetzen haben" (240 f.). Außerdem vernachlässige die Kunsttherapie, was die kreativ-emanzipierende Seelsorge nicht auslassen kann: "die Frage nach der eigenen Verantwortung (und damit der eigenen Schuldfähigkeit)" (259). Damit kommt die Vfn. zu der Entwicklung ihres eigenen Modells, das sie mit reichem Material beispielhaft dokumentiert (Teil 4, 265 ff.).

Im kreativ-künstlerischen Potential des Menschen sieht sie den Fokus der kreativ-emanzipierenden Seelsorgepraxis (vgl. 278), das noch die Ambivalenz des Menschlichen umfasse: "Der Mensch ... ist auf furchtbare Weise bis in die tiefsten Regungen seiner Seele hinein ambivalent: Zu großartigen Taten wie auch zu bestialischen Untaten fähig. In beiden Dimensionen des Tuns erweist sich sein kreatives Potential" (309). Angesichts des hier angedeuteten Zerstörungspotentials des Menschen wirkt das, was die Vfn. als "ermutigende Erlaubnisseelsorge" (ebd.; ist ihr die hierarchische Struktur dieses Begriffs bewusst ?) entfaltet, vereinfachend und verharmlosend. Mit dieser Frage setzt sie sich durchaus selbst auseinander: "Der kreativ-spielerische Umgang mit dem Bösen" will der Spielerin die "eigene dunkle Macht am eigenen Leib" erfahrbar werden lassen und gleichzeitig zur befreienden Erkenntnis bringen - "Der Mensch ist nicht nur Kind, sondern auch Partner Gottes, Gottes Mitschöpfer ..." (404).

Den Weg hierzu sieht die Vfn., ihrem Ansatz folgend, nicht durch ein "Verstehen durch Deuten" (344) bereitet, das darauf verzichtet, "eigene Verletzungen und eigene Erfahrungen" (347) einzubringen. Sie intendiert vielmehr eine Hermeneutik der schöpferischen Resonanz, die die Seelsorgerin "selber schöpferisch tätig" (349) werden lässt, ohne "künstliche Hierarchien" (347) aufzubauen. Der religiöse Deutungshorizont kann im Rahmen der Aufgabe, die eigentlich "kreative Leistung" zu vollbringen, "das eigene Leben zu meistern oder ihm wenigstens Sinn abzuringen" (392), "ins Spiel" (369) gebracht werden.

Das betrifft auch den Umgang mit den Übertragungen, die die Seelsorgerin nicht zurückweist, aber Gott als "... besseren Adressaten, ... bessere Adressatin als sich selbst" (324) anbietet. Das "christliche Konzept der Inkarnation" (387) wird von der Vfn. im Zusammenhang der theologischen Relevanz von sinnlicher Erfahrung interpretiert: "Ein Gott, der nicht mit allen Sinnen ... erfahrbar ist, bleibt für uns Menschen unerfahrbar ... Ein solcher Gott wird sich letztlich auch nicht in irdisches Leben inkarnieren" (386). Damit versteht sie Inkarnation "nicht (nur) als einen Vorgang, der sich singulär in einer Figur (Jesus Christus) ereignet hat, sondern als Symbol der Gott-Welt-Beziehung und damit fundamental als Symbol der Beziehung vom Göttlichen zur Materie resp. - im Bereich der Anthropologie - zum menschlichen Körper" (386 f.). Von daher ist es der Vfn. eminent wichtig, "den Fokus vom erbsündenbehafteten Menschen auf Prozesse der Befreiung von Schuld zu richten" (405). Doch erst im Ernstnehmen der geschlechtsspezifisch "unterschiedlichen Versklavungserfahrungen" (ebd.) kann Befreiung überhaupt erfahrbar werden. Die Arbeit schließt mit einem anschaulichen Einblick in eine "kreativ-emanzipierende" Kurzberatung bei "religiös-existentiellen Konflikten" (30.431 ff.).