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Ausgabe:

März/2001

Spalte:

319–321

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Albrecht, Christian

Titel/Untertitel:

Historische Kulturwissenschaft neuzeitlicher Christentumspraxis. Klassische Protestantismustheorien in ihrer Bedeutung für das Selbstverständnis der Praktischen Theologie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2000. XIII, 364 S. gr.8= Beiträge zur historischen Theologie, 114. Lw. DM 158,-. ISBN 3-16-147299-3.

Rezensent:

Christian Grethlein

Die in Tübingen 1999 angenommene praktisch-theologische Habilitationsschrift ist - dies sei vorweg gesagt - eine glänzende akademische Leistung. Sie legt - deutlich in der Tradition des opus magnum "Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen der Praktischen Theologie" von Volker Drehsen, dessen Assistent der Vf. ist - im Gewande einer konzentrierten gelehrten theologiegeschichtlichen Studie ein systematisches Verständnis Praktischer Theologie vor, das unter Rückgriff auf das Konzept des "Protestantismus" Probleme des Fachs, vor allem die Ausweitung seines Gegenstandsbereichs als notwendig verstehen lehren und so in ihrer theologischen, ja kulturwissenschaftlichen Bedeutung erklären will.

Schon die Entfaltung der Fragestellung in der Einleitung ist in ihrer Umsicht und ihrem Methodenbewusstsein vorbildlich. Es geht - so die verhaltene, gleichwohl sprachlich anspruchsvoll (bzw. eigenwillig: "exemplarisierend"?) formulierte Zielbestimmung - dem Vf. darum, "den Blick für die in der Theologiegeschichte bereitstehenden Begründungsmuster einer modernen Form der Praktischen Theologie und deren Wirkungen in der Praktischen Theologie zu schärfen, und zwar in der exemplarisierenden Konzentration auf den Protestantismusbegriff" (4). Genauer soll "Protestantismus" als ein Konzept erwiesen werden, das zur "Schaffung eines kulturpraktischen und lebensführungstheoretischen Typs Praktischer Theologie" (5) beigetragen hat. Sorgfältig listet der Vf. dann noch aus Umfangsgründen sechs notwendige Beschränkungen seines Vorhabens auf, die auf den ersten Blick alle einleuchten, von denen zwei jedoch erhebliche Probleme für die gesamte Untersuchung mit sich bringen. Es handelt sich hier zuerst um die Beschränkung der untersuchten Literatur auf den Zeitraum zwischen "ca. 1810 und 1930" (9). Damit stellt sich für den Versuch des Vf.s, ein heute gültiges Verständnis von Praktischer Theologie zu präsentieren, das Problem des Fehlens praktisch-theologischer Theoriebildung seit dieser Zeit. Zudem beschränkt sich der Vf. "auf die innerreformatorische Selbstwahrnehmung des Protestantismus" (9 f.), katholische Rezeptionen bleiben ausgeschlossen. Dies ist nicht nur historisch bei einem Begriff problematisch, der - wie der Vf. selbst mitteilt - wesentlich ein von Katholiken eingeführter ist, sondern auch weil systematisch die Weite des praktisch-theologischen Gegenstands, nicht weniger als die "gelebte Religion" (321), unter der Hand um den Katholizismus reduziert wird. So begegnet hier der seltsame Befund eines zwar weit über die kirchliche Praxis (der evangelischen Landeskirchen) hinausgreifenden Religionsverständnisses, in das der Katholizismus aber nicht inkludiert ist.

Doch zurück zum Anfang der Untersuchung: Ein erster "Vorerwägungen" überschriebener Teil gibt einen knappen, aber instruktiven Forschungsbericht zur Geschichte der "Protestantismus"-Deutung, der zugleich - in zwölf, z. T. wieder unterteilte Punkte gegliedert - systematisch brillant Entwicklungslinien konturiert. Schon hier fällt allerdings eine gewisse Großzügigkeit im Umgang mit historischen, hier das kirchliche Leben betreffenden Begriffen auf, insofern die zeitweilig gebräuchliche innerevangelische Differenzierung zwischen Calvinismus und Protestantismus übersprungen wird. Den Hauptteil stellen dann - zwar kapitelmäßig aneinandergereiht, aber sachlich paarweise zueinandergefügt - jeweils eine Protestantismustheorie und deren Rezeption durch einen Praktischen Theologen dar: Hegel und Marheineke, Baur und Nitzsch, Rothe und Achelis und Bassermann sowie Troeltsch und Baumgarten kommen zur Darstellung, wobei umfangmäßig jeweils die Rekonstruktion der allgemeinen Protestantismus-Konzepte die Darstellung der praktisch-theologischen Rezeption bei weitem übertrifft, besonders extrem bei Hegel und Marheineke. Es ist in einer Rezension unmöglich, die teilweise bis ins exegetische Detail genaue, mit den jeweiligen besonderen Interpretationsproblemen sowie der Rezeptionsgeschichte vertrauten Rekonstruktionen zu würdigen, die z. T. durch interessante Detailinformationen glänzen (s. z. B. die zwei petit-gedruckte Seiten umfassende Anmerkung 17, 150-152, die wichtige akribisch genau vorgetragene, bibliographische Hinweise enthält). Insgesamt verraten diese Rekonstruktionen nicht nur systematische Kraft zur Abstraktion, sondern präsentieren auch teilweise eher verborgene historische Zusammenhänge (nicht zuletzt im Aufspüren "subkutaner" - so ein häufig gebrauchtes Attribut - Wirkungen). Ob dabei immer die vom Vf. eingangs bescheiden in Anspruch genommene "Deutungsaskese" (13) gewahrt bleibt, erscheint mir aber zweifelhaft - besonders bei Baur, dem mehrfach mit einer "systematische[n] Trennung, die Baur selbst offensichtlich fremd war" (108), dem Hinweis darauf, "daß Baur in solchen Fällen offensichtlich abgekürzt redet" (112) und Ähnlichem (s. auch 114.118.130) gleichsam auf die systematischen Sprünge geholfen werden muss. Dies sollte aber unter Theologiegeschichtlern diskutiert werden.

Auch kann natürlich über die Auswahl der behandelten Praktischen Theologen gestritten werden - so fällt auf, dass von den zehn in einer jüngst erschienenen "Geschichte der Praktischen Theologie" ausführlich vorgestellten "Klassikern" des Fachs nur zwei (und davon einer auch nur teilweise) die Aufmerksamkeit Albrechts auf sich gezogen haben; im Vergleich mit Drehsens eingangs erwähnter Habilitationsschrift fehlt vor allem die Berücksichtung von Paul Drews, und damit die Verbindung zur empirischen Forschung.

Für die praktisch-theologische Theoriebildung verdient besonders der Schluss "Zur Protestantizität der Praktischen Theologie" (313-326) Interesse. Hier formuliert der Vf. als Resultat der geschichtlichen Untersuchungen, dass die Praktische Theologie angesichts der Notwendigkeit, sich "als eine historische Kulturwissenschaft christlich-religiöser Praxis" zu begreifen, ihren "sachlichen Anknüpfungspunkt und Legitimationspunkt in einer Theorie der Kulturpraxis des Protestantismus" finden kann (316). Die so konstituierte "protestantische Praktische Theologie" (317) kann auch die Arbeit in den Subdisziplinen weiterverfolgen, ohne den Verlust ihrer Einheit befürchten zu müssen. Denn ihr Zusammenhang wird - interessanterweise ohne das Attribut "christlich" - durch die gemeinsame "Fragestellung nach der gelebten Religion" aufrecht erhalten. Spätestens hier zeigt sich, dass ein ausschließlich im Durchgang durch frühere Theoriebildungen gewonnenes Verständnis Praktischer Theologie für heutige Fragestellungen nicht unproblematisch ist. Denn die noch bis 1930, dem Ende des von A. untersuchten Zeitraums, weithin in Deutschland selbstverständliche Gleichsetzung von "Religion" mit "Christentum" ist- abgesehen von der schon damals problematischen stillschweigenden Ausgliederung des Katholizismus (und des Judentums!) - in Deutschland am Beginn des 21. Jh.s zumindest präzisierungsbedürftig. Dies tritt zum einen bei einem - in diesem Zusammenhang wohl erlaubten - Blick auf die Entwicklung in den historischen Stammlanden des Protestantismus deutlich zu Tage: Hier entzieht sich jedenfalls die Mehrheit der Bevölkerung einer am Religionsbegriff orientierten Analyse, insofern dieser jedenfalls noch Reste eines expliziten Transzendenzbezugs umfasst und damit empirischer Analyse zugänglich ist. Zum anderen zeigt ein kurzer Blick in Religionsstatistiken deutscher Großstädte, dass Begriffe wie "christlich" (aber auch "islamisch") oder "religiös" für lebensweltbezogene Forschungen zu grobmaschig sind. So stellt sich die Frage: Liegt nicht in der von A. konstatierten und zugleich empfohlenen Ausweitung des Gegenstandsbereichs der Praktischen Theologie - abgesehen von forschungspragmatischen Schwierigkeiten und Abstimmungsproblemen mit der Religionswissenschaft - letztlich eine Reduktion der Praktischen Theologie vor, und zwar auf eine "Religion", die es vielleicht zwischen 1810 und 1930 in Deutschland gab, die aber nicht nur zunehmend konturenloser, sondern lebensmäßig unbedeutender wird? Ein scheinbar engeres, auf die kirchliche Praxis bezogenes Verständnis von Praktischer Theologie, bei dem "Kirche" theologisch vom Interesse an der Förderung der Kommunikation des Evangeliums her bestimmt wird, hätte hier einen weiteren Gegenstand, insofern es auch die missionarische Dimension umfasst.

Dass der Vf. mit seiner Habilitationsschrift zu solch weitreichenden Fragen reizt, zeigt die wissenschaftliche Qualität der Arbeit, abgesehen von der m. E. höchst zweifelhaften Position, über die - jetzt bereichert durch den Hinweis auf das Protestantismus-Konzept - gestritten werden muss. Es geht um ein theologisch und gegenwartsbezogen angemessenes Verständnis der Praktischen Theologie.