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Ausgabe:

März/2001

Spalte:

315–318

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Wollasch, Ursula

Titel/Untertitel:

Normenkodizes in Unternehmen. Kundenorientierung - Strategisches Management und Christliche Sozialethik im Dialog.

Verlag:

Münster: LIT 1999. 395 S. gr.8 = Schriften des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, 40. Kart. DM 59,80. ISBN 3-8258-4043-3.

Rezensent:

Heinrich Bedford-Strohm

Ein Zweig der Ethik, der mehr und mehr an Bedeutung gewinnt, ist die Ethik der Lebensbereiche im Allgemeinen und die Berufsethik im Besonderen. Die alte Einsicht des französischen Soziologen Emile Durkheim, dass den Berufsgruppen besondere Bedeutung für den Zusammenhalt einer Gesellschaft zukomme, hat angesichts einer zunehmenden Spezialisierung des Wissens in den jeweiligen Berufsfeldern neue Aktualität gewonnen. Ethische Anwendungsfragen können heute kaum noch behandelt werden, ohne ethische Grundperspektiven und gründliches Fachwissen in einen methodisch angemessenen Dialog zu bringen. Ethik ist von daher zunehmend interdisziplinär angelegt.

Ursula Wollasch stellt sich der damit verbundenen Aufgabe in ihrer bei Franz Furger begonnenen und nach dessen vorzeitigem Tod von Jürgen Werbick weiter betreuten Dissertation. Der sehr kompetenten und gründlichen Arbeit kommt zu Gute, dass sie aus einem vom Verein der Freunde des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften und von der Volkswagenstiftung geförderten langjährigen Forschungsprojekt heraus entstanden ist, das sich mit "Normenkodices in Unternehmen und Verbänden" beschäftigte. W. geht der Frage nach, ob sich zwischen den Denksystemen der christlichen - und das heißt in ihrem Fall: katholischen - Soziallehre auf der einen Seite und modernen Unternehmensstrategien auf der anderen Seite eine Kompatibilität beschreiben lässt, die der schon in "Quadragesimo anno" 1931 auftauchenden Idee berufsständischer Richtlinien eine modernen wirtschaftlichen Zusammenhängen angemessene Gestalt gibt. Dass etwa die in diesem Zusammenhang wichtigen Unternehmensleitbilder keineswegs automatisch Ausdruck von Ethik sind, macht W. durch den völlig berechtigten Hinweis deutlich, dass solche Leitbilder in den Unternehmen höchst unterschiedliche Funktionen haben - vom Disziplinierungsmittel bis zum PR-Instrument. Die positive Antwort, die die Autorin auf die Kompatibilitätsfrage am Ende dennoch gibt, wird in ihrem Buch in drei Schritten begründet.

Ein erster betriebswirtschaftlicher Teil orientiert sich am Stichwort der Kundenorientierung als zentraler Zielgröße moderner Unternehmensplanung. W. geht es dabei darum, zu zeigen, dass solche Kundenorientierung nicht nur betriebswirtschaftlich Sinn macht, sondern, etwa im Hinblick auf die damit verbundene Dimension der Dialogorientierung, auch aus ethischer Sicht eine zentrale Größe darstellt.

In dem zweiten Teil, in dessen Zentrum die theologische Ethik steht, wird der methodische Dreischritt näher erläutert, der sich auf der Basis eines breiten ökumenischen Konsenses als Grundlage sozialethischer Urteilsbildung herausgebildet hat: Sehen - Urteilen - Handeln. Anhand der Stichworte "Leben", "Freiheit", "Gerechtigkeit" und "Liebe" werden die biblisch-theologischen Grundlagen entfaltet.

Anhand des Universalisierungsgrundsatzes, der traditionellen Sozialprinzipien der katholischen Soziallehre, philosophischen Gerechtigkeitstheorien und schließlich dem Stichwort "Verantwortung" wird gezeigt, dass biblisch-theologische Begründung und Vernunftbegründung sich nicht widersprechen, sondern ergänzen - eine Einsicht, die schon im Zentrum der sozialethischen Methodik des Wirtschaftshirtenbriefs der US-Bischöfe 1986 stand und die in dem ökumenischen Sozialwort der Kirchen 1997 nachhaltig vertieft wurde. Welch wichtige Einsichten der theologisch-ethische Teil des Buches erbringt, sei am Verhältnis von Liebe und Gerechtigkeit exemplarisch aufgezeigt. Liebe und Gerechtigkeit- so W. - verweisen aufeinander: "Wenig sinnvoll erscheint es, kunstvolle Antithesen zu konstruieren, wonach die Liebe dem privaten, die Gerechtigkeit aber dem öffentlichen Raum zuzurechnen ist. Auch Gegensatzpaare wie freiwillig und geschuldet, anonym und personal sind für eine Verhältnisbestimmung wenig hilfreich. Weder macht Liebe Gerechtigkeit unnötig, noch kann Gerechtigkeit Liebe ersetzen. Ihr Verhältnis definiert sich über ihren gemeinsamen Bezugspunkt, die Unmenschlichkeit von Beziehungen und Strukturen. Sie zu beseitigen ist das Ziel von beiden" (191).

Im dritten Teil wird schließlich ein Dialogmodell entwickelt, in dem die drei Stichworte sozialethischer Urteilsbildung "Sehen-Urteilen-Handeln" mit zentralen Dimensionen der Unternehmensplanung ins Gespräch gebracht werden, nämlich mit der Zielbildung und der Unternehmensanalyse, die dem "Sehen" korrespondiert, der Strategiewahl, die dem "Urteilen" korrespondiert, und schließlich der Operationalisierung und der Implementation, die am ehesten dem "Handeln" entspricht. In der Unternehmensanalyse - um nur ein Beispiel zu nennen - spielt das "Stakeholder scanning" eine wichtige Rolle, der Versuch eines Unternehmens also, die Einstellungen und Interessen seiner internen und externen Bezugsgruppen zu analysieren. Auch die Kirche - so W. - ist für Unternehmen eine relevante Stakeholder-Gruppe. Deswegen tun Unternehmen gut daran, die kirchliche Sicht gesellschaftlicher Wirklichkeit in ihre Analysen und Planungen mit einzubeziehen. Im Mittelpunkt christlich-sozialethischer Reflexion - so W. - "stehen Situationen wie Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot, Drogensucht, Behinderung, zerbrechende soziale Beziehungsgefüge, aber auch weltweite Unterentwicklung, Bürgerkriege und Umweltbelastungen. Sie alle bezeichnen Faktoren, die kirchliches Engagement herausfordern, mit denen aber auch unternehmerisches Handeln in zunehmendem Maße rechnen muss. Es gibt also für beide Seiten gute Gründe, diese Phänomene in einen Analysedialog einzubeziehen" (277).

W. versucht zu zeigen, dass sowohl die Struktur des Normensystems als auch der Planungsprozess im strategischen Management charakteristische Parallelen zum christlich-sozialethischen Denken aufweisen. "Spezifisch ist allein die Begründung, aus der heraus sich Theorie und Praxis der christlichen Sozialethik verstehen: Gottes Ja zum Menschen und zu seiner Schöpfung. Diese Gewissheit ist die Substanz der biblischen Botschaft und der Tradition ... Diese Gewissheit definiert den 'moral point of view' der kirchlichen Sozialverkündigung, von wo aus sich Kirche der Welt zuwendet und sich auf ihre Fragen und Herausforderungen einläßt" (338).

Selbstverständlich hat diese Begründung auch klare Konsequenzen für die inhaltliche Richtung der Ethik. Dass Gottes Ja zum Menschen, gerade auch zu dem Schwächeren, in Spannung geraten kann zu dem an Erfolg und Leistung orientierten Normenkontext strategischen Managements, liegt auf der Hand. W. ist sich der inhaltlichen Grundlage christlicher Ethik, die sich mit dem Stichwort "Option für die Armen" zusammenfassen lässt, wohl bewusst (149.162 f.182.260). Die daraus erwachsende inhaltliche Spannung zwischen christlicher Ethik und unternehmensethischem Normenkontext wird aber zuweilen unterbestimmt.

So sieht W. etwa die Idee der Kundenbindung und das sich für die Unternehmen daraus ergebende "Beziehungsmarketing" als in hohem Maße kompatibel mit der sozialethischen Anerkennungslogik, die sich mit den Stichworten Verantwortung, Solidarität, Subsidiarität und Gerechtigkeit verbindet. Wenn die Bindung zum Kunden aber - wie das bei Unternehmen notwendigerweise der Fall ist - primär durch dessen potentielle Kaufkraft motiviert ist, sind daraus zuweilen für das strategische Management durchaus andere Konsequenzen zu ziehen als wenn, wie in der christlichen Soziallehre, als "Kunden" alle Menschen, gerade die Schwächsten in einer Gesellschaft, zu verstehen sind. Solche Spannungen treten in der Arbeit hinter dem in der Tat gelungenen Aufweis methodischer Kompatibilität zwischen sozialethischer Urteilsfindung und strategischem Unternehmensmanagement zurück.

Natürlich ließen sich Desiderate nennen, die die Arbeit (noch?) nicht erfüllt, etwa der Versuch, die "christliche Soziallehre", von der durchweg die Rede ist, etwas weiter zu definieren als in Gestalt von Konzepten katholischer Soziallehre. Heinz Eduard Tödts "Ethische Theorie sittlicher Urteilsfindung" etwa, die in der evangelischen Ethik breit aufgenommen wurde, hätte das Argument der Autorin bereichern können. Aber eine ökumenische Weitung des theologisch-ethischen Ansatzes mag bei einer so umfassenden und durch die Interdisziplinarität ohnehin besonderen stofflichen Anforderungen ausgesetzten Untersuchung zu viel verlangt sein. Als Aufgabe für die Zukunft ist sie aber festzuhalten.

Das Buch verarbeitet eine Fülle von Material. Besonders interessant sind die vor allem im dritten Teil als Frucht des breit angelegten Forschungsprojektes verarbeiteten konkreten Beispiele von Unternehmensleitbildern und den jeweils dabei zum Ausdruck kommenden Selbstverständnissen (vgl. bes. 317f.). Nicht nur auf Grund der fundierten Einblicke in die konkreten Problemstellungen und Entscheidungsprozesse in den Unternehmen, sondern auch wegen des sozialethischen Theorieangebots, das W. für zukünftige Dialoge zwischen Kirche und Wirtschaft macht, ist die vorliegende Untersuchung ein wesentlicher Beitrag zur aktuellen theologisch-ethischen Forschung.