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Ausgabe:

März/2001

Spalte:

311–314

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Hoye, William J.

Titel/Untertitel:

Demokratie und Christentum. Die christliche Verantwortung für demokratische Prinzipien.

Verlag:

Münster: Aschendorff 1999. 373 S. gr.8. Geb. DM 49,80. ISBN 3-402-03497-2.

Rezensent:

Erich Geldbach

Das Buch vermittelt interessante Einzelheiten und ist ein sehr anregender Lesestoff. Das Ziel der Studie besteht darin, einen nachvollziehbaren Beweis zu erbringen, dass es Demokratie ohne Gott nicht geben kann. Diese These wird historisch untermauert. Bei der Errichtung der Demokratie in Nordamerika, aber auch an anderen Beispielen wie der Verfassungsentwicklung in Südafrika oder der Bundesrepublik lasse sich zeigen, dass das Christentum "eine augenfällige und vielfältige Rolle" gespielt habe. Außerdem, so wird m. R. betont, sei die Idee der Menschenwürde keine Errungenschaft der säkularisierten Aufklärung, sondern christlicher Herkunft, was auch für die Idee der Volkssouveränität, der Gewissens- und der Wissenschaftsfreiheit gelte (65). Das Buch will daher weitverbreiteten Missverständnissen wehren und aufzeigen, dass eine Kultur, die nicht mehr in christlichen Begriffen denkt, für diese ihre historischen Wurzeln Ersatzbegriffe schaffen muss.

Dieses Programm wird gleich im zweiten Kapitel an dem Begriff "Verantwortung" demonstriert, ein Begriff, der heute bequem in aller Munde ist, der aber als Ergebnis einer Säkularisierung des Gedankens vom Endgericht in der Moderne entstanden sei. Das dritte Kapitel behandelt die christlichen Ursprünge der Demokratie in Nordamerika, während das sehr ausführliche vierte Kapitel der Frage der Freiheit der Wissenschaft nachgeht. Im fünften Kapitel wird die Freiheit des Gewissens behandelt, und das abschließende sechste Kapitel ist der christlichen Idee der Menschenwürde gewidmet. Die in diesen Kapiteln behandelten Problemfelder sind dadurch gebündelt, dass jeweils unterschiedliche Beziehungen zur Wahrheit als Entfaltung der Menschenwürde nachgewiesen werden: "Außer in der Verantwortung äußert sich das menschliche Bewußtsein demokratisch relevant in Form von Gewissensfreiheit und Wissenschaftsfreiheit ... Gewissensfreiheit geht aus der Beziehung des Willens zur Wahrheit hervor; Wissenschaftsfreiheit aus der Beziehung des Verstandes zur Wahrheit; Religion ist das reflektierte Bewußtsein der Beziehung des Menschen überhaupt zur Wahrheit" (329).

Der Aufbau und diese Zusammenfassung zeigen, dass das Buch eine große, aber auch disparate Stoffmenge zusammenträgt. Dabei sind Einzelbeobachtungen und einzelne Formulierungen sowie die zahlreichen Zitate gelungen und hilfreich. Im Ganzen überwiegt indes der Eindruck, dass die Stofffülle dem Autor entglitten ist. Vor allem stört der apologetische Zungenschlag. Beides ist besonders greifbar im vierten Kapitel. Die Verletzung der Wissenschaftsfreiheit wird an den Beispielen Christian Wolff, Imanuel Kant und Johann Gottlieb Fichte aufgewiesen und dagegen die mittelalterliche Universität als richtungsweisend für Freiheit hingestellt. Der apologetische Zweck ist die Widerlegung des herrschenden Vorurteils, die Wissenschaftsfreiheit sei in der Aufklärung entstanden (194), während sie doch in der supranaturalen Autorität der römischen Kirche des Mittelalters wurzelt. Das wird detailliert beschrieben (225 ff.) und zum Schluss gesagt: "Unter dem Deckmantel der Wahrheitssuche wird alles Erdenkliche methodisch angezweifelt", sogar wesentliche Elemente der Glaubenslehre (252). Thomas von Aquin gilt hier und bei der Darstellung der Entwicklung der Gewissensfreiheit als Hauptgewährsmann.

Man wird mit dem Vf. sagen müssen, dass es die großen Zusammenhänge, die heute fast niemandem mehr einleuchten, durchaus gibt; aber in dem vorliegenden Buch geht alles zu glatt zu Gunsten "des" Christentums auf. Das eigentliche Problem ist doch, dass weder die Orthodoxie, noch der römische Katholizismus, noch auch das Luthertum die moderne Demokratie hervorgebracht haben, sondern bestimmte Dissidenten, die von den vorherrschenden Verwirklichungen des Christentums vehement bekämpft wurden. Und: Im Namen der Wissenschaftsfreiheit sind doch alle modernen Probleme - ob Atombombe oder Gentechnologie, ob Mengele oder Freisler - an den modernen Universitäten oder von ihren Absolventen verursacht.

Kann man eigentlich von "Gewährung" (292 u. ö.) der Gewissensfreiheit sprechen? Wer gewährt sie, wenn sie ein angeborenes und unveräußerliches Menschenrecht ist? Dass die Gewissensfreiheit die "subjektive Individualität" in der Wahrheitssuche des Einzelnen zum Tragen bringt und daher für die Demokratie von "kaum zu überbietender Tragweite" ist, kann ernsthaft nicht bestritten werden (297), ebensowenig, dass die Gewissensfreiheit die Freiheit der Gewissensbetätigung meint (299). Es ist für eine Diskussion in Deutschland aber bezeichnend, dass immer gleich auf die Grenzen der Gewissensfreiheit rekuriert wird, obgleich, wie etwa die Reaktionen kirchlicher "Würdenträger" auf das Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichts deutlich zeigten, die Gewissensfreiheit gerade in den beiden "großen" Kirchen unseres Landes nicht wirklich verstanden, geschweige denn als Recht der Dissidenten verteidigt wird. Statt dessen haben sich z. B. die kirchenrechtlichen Institute beider Kirchen auf ein Recht der Mehrheit berufen, bzw. von "positiver" und "negativer" Religionsfreiheit gesprochen, was der Vf. zum Glück nicht tut, wenn er schreibt, dass Gewissensfreiheit "überflüssig" wird, wenn die Einzelnen sich konform verhalten (302). Für ihn ist das "irrende Gewissen" der Testfall. Aber so weit muss man gar nicht gehen, weil Abweichung von einer Norm - etwa der staatlichen oder der römisch-katholischen - nicht gleich als "ethischer Irrtum" disqualifiziert werden muss. Dieser kann ja auch bei der Mehrheit liegen, während die Minderheit die besseren Argumente besitzt, und nur so ist die Gewissensfreiheit als Recht historisch entstanden. Die spitzfindigen Argumentationsreihen des Thomas von Aquin mögen zwar, wie der Vf. kenntnis- und facettenreich und in Auseinandersetzung mit Ratzinger und Spaemann nachzeichnet, den "Test" bestehen, doch waren sie nicht Auslöser für das praktische Verhalten der römisch-katholischen Kirche. Diese war vielmehr über Jahrhunderte dafür bekannt, die Gewissen nach der Maxime zu unterdrücken, ,so viel Intoleranz wie möglich und so viel Toleranz, wenn es denn unabwendbar ist, wie nötig'. Demgegenüber haben die Dissidenten, die für Gewissens- und Religionsfreiheit seit Beginn des 17. Jh.s eingetreten sind (z. B. Baptisten und Quäker; Täufer schon im 16. Jh.) sich für die Entfaltungsmöglichkeiten auch der römischen Kirche in England eingesetzt. Denn das ist nach Meinung der Dissidenten der eigentliche Testfall, dass auch die Feinde der Gewissens- und Religionsfreiheit die Möglichkeit der freien und öffentlichen Entfaltung erhalten sollen, damit sie von der Richtigkeit und Notwendigkeit der Religions- und Gewissensfreiheit überzeugt werden (weitere Einzelheiten in meinem Buch "Freikirchen - Erbe, Gestalt, Wirkung", Göttingen 1985, 45 ff., bes. 60ff.).

Es verwundert daher auch, dass der Vf., wenn er über Demokratie und Christentum reflektiert, die wahren Pioniere nicht erwähnt: der Dissenter Roger Williams - und nicht Lord Baltimore in Maryland - hat als erster die Religionsfreiheit zur Grundlage seiner Kolonie Rhode Island gemacht; der Quäker William Penn ist ihm mit Einschränkungen gefolgt, während die Puritaner Neuenglands das europäische Modell kopierten, d. h. Freiheit nur für die eigene Partei verwirklichten, Verfolgungen bis zum Strang dagegen für die Abweichler. Im 18. Jh. sind James Madison und die Erklärung in Virginia ohne John Leland nicht denkbar, und ein Isaac Backus kämpfte in Neuengland für Religionsfreiheit (vgl. William G. McLoughlin, Issac Backus and the American Pietistic Tradition, 1967). Auch verwundert es, dass der Vf. die heutigen Vertreter in Nordamerika, die über die Zusammenhänge von Religion und Demokratie geschrieben haben, nicht erwähnt. Um wahllos einiges herauszugreifen: Man findet weder Namen wie Franklin H. Littell (From State Church to Pluralism: A Protestant Interpretation of Religion in American History, 1962 bzw. 1971; The Church and the Body Politic, 1969), James Wood (z. B. [Hrsg.] Ecumenical Perspectives on Church and State: Protestant, Catholic, and Jewish, 1988), Edwin Gaustad (z. B. Liberty of Conscience: Roger Williams in America, 1991), Dean M. Kelley ([Hrsg.] Government Intervention in Religious Affairs, 1982; II, 1986), Leo Pfeffer (z. B. God Caesar, and the Constitution: The Court as Referee in Church-State Confrontation, 1975), Robert Bellah (z. B. The Broken Covenant, 1975) oder Martin Marty (z. B. Religion and Republic: The American Circumstance, 1987), noch wird die einschlägige Zeitschrift "Journal of Church and State" des J. M. Dawson Institute of Church-State Studies der Baylor University in Waco, Texas erwähnt oder auf römisch-katholischer Seite der Pionier und Ghostwriter der Erklärung des Zweiten Vatikanums zur Religionsfreiheit, John Courtney Murray (We Hold These Truths: Catholic Reflections on the American Proposition, 1960). Der öfter zitierte, vom Luthertum zum Katholizismus konvertierte, politisch konservative John Neuhaus ist dagegen nur eingeschränkt als Gewährsmann für die zur Diskussion gestellten Sachverhalte heranzuziehen.

Mein Fazit lautet: ein anregendes Buch, das mich jedoch eher zum Widerspruch angeregt hat. Ganz zugespitzt stellt sich die Frage: Kann eine Kirche, die keine Gelegenheit vorbeigehen lässt, die Notwendigkeit einer hierarchischen (also "undemokratischen") Struktur für die Kirche zu betonen, die Demokratie mit allen Konsequenzen wirklich wollen? Die Volkssouveränität ist ja, wie der Vf. sehr richtig beschreibt, eine Folgerung des (puritanischen) Kongregationalismus, und selbst der Lutheraner Pannenberg weiß damit nichts anzufangen, wie ein erschreckendes Zitat nachweist, dessen Inhalt vom Vf. mit Recht als "falsch" eingestuft wird (334). Kann eine Kirche zum Zeugen für Gewissensfreiheit herangezogen werden, die entgegen einem ausdrücklichen Verbot Jesu ihre Amtsträger "antimodernistische" oder gegenwärtig "antipluralistische" Treueide schwören lässt? Kann eine Kirche zum Zeugen für Menschenrechte herangezogen werden, die gerade dabei ist, den guten Papst Johannes XXIII. und zeitgleich mit ihm auch Pius IX., der im syllabus errorum die neuzeitlichen Menschenrechte in Bausch und Bogen verdammte, zu den Ehren der Altäre zu erheben?