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Ausgabe:

März/2001

Spalte:

308–311

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Titel/Untertitel:

Handbuch der Wirtschaftsethik. Hrsg. im Auftrag der Görres-Gesellschaft von W. Korff u. a.
(1) Bd. 1: Verhältnisbestimmung von Wirtschaft und Ethik. (2) Bd. 2: Ethik wirtschaftlicher Ordnungen.
(3) Bd. 3: Ethik wirtschaftlichen Handelns.
(4) Bd. 4: Ausgewählte Handlungsfelder.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1999. gr.8. Gesamtwerk: DM 698,-. ISBN 3-579-00206-6.
(1) 894 S. ISBN 3-579-00201-5.
(2) 598 S. ISBN 3-579-00202-3.
(3) 624 S. ISBN 3-579-00203-1.
(4) 808 S. ISBN 3-579-00204-X.

Rezensent:

Stefan Streiff

Die ersten Rezeptionsberichte über das 1999 in vier Bänden erschienene Handbuch der Wirtschaftsethik sind durchweg positiv: Ein Werk, das Maßstäbe setzt, gelungenes Wagnis, meisterlich. So tönt es selbst dort, wo bereits ein tieferer Einblick in das Werk erfolgt ist, das man nicht eigentlich lesen, mit dem man aber an verschiedensten Themenfeldern der Wirtschaftsethik gewinnbringend arbeiten kann - und dies wohl für einige Jahrzehnte.

Das Lob fällt dem Handbuch nicht nur wegen seiner durchdachten strukturellen Anlage zu, sondern ebenso wegen der ausgewogenen Auswahl von Autoren, der Kombination von historischen und systematischen Aspekten, des gelungenen Überwindens des garstigen Theorie-Praxis-Grabens und nicht zuletzt wegen der hilfreichen und benutzerfreundlichen Inhaltsverzeichnisse, zuverlässigen Personen-, Sach- und Autorenregister. Letztere ermöglichen es dem Benutzer, sich schnell in diesem Fazit der bisherigen wirtschaftsethischen Forschung zu orientieren. Ob praktisch oder theoretisch ausgerichtet, philosophisch, ökonomisch oder theologisch fragend, niemand, der sich für wirtschaftsethische Problemstellungen interessiert, kommt an diesem Handbuch vorbei. Die Zeit der Wirtschaftsethik als bloß modischer Trend scheint mit diesem Werk zu Ende gegangen zu sein.

Die vier Bände - circa 3000 Seiten - behandeln die ganze Breite wirtschaftsethischer Problemfelder nicht in einem lexikalischen, sondern einem systematischen Sinne. Als Grundlegung dient eine "Verhältnisbestimmung von Wirtschaft und Ethik" (Titel des ersten Bandes), die mit einer Zusammenstellung konstitutiver Bauelemente moderner Wirtschaftsethik einsetzt, die ethische Rationalität im Kontext neuzeitlicher Vernunft- und Freiheitsgeschichte darstellt, eine Geschichte der ökonomischen Theorien in ihren ethischen Dimensionen bietet, die Interdependenzen von Religion und Wirtschaft sowie die politisch-strukturellen Implikationen moderner Wirtschaft thematisiert, und im letzten Kapitel die Ansätze der Verhältnisbestimmung im 20. Jh. vorstellt, die danach unterschieden werden, ob in ihnen die Ethik oder die Ökonomik als Ausgangspunkt gewählt wird. Wirtschaftsethik ist in jedem Fall als Versuch zu verstehen, konsensfähige allgemeine Prinzipien der Moral oder des Menschengerechten in der Ökonomie zur Geltung zu bringen. Am ,Wie' dieses Zur-Geltung-Bringens scheiden sich die Geister.

Die "Ethik wirtschaftlicher Ordnungen" (Titel des zweiten Bandes) wendet sich volkswirtschaftlichen, die "Ethik wirtschaftlichen Handelns" (Titel des dritten Bandes) betriebswirtschaftlichen Aspekten zu. Der vierte Band, "Ausgewählte Handlungsfelder", entfaltet das Denken im Spannungsfeld zwischen Ethik und Ökonomik in unterschiedlichsten praxisrelevanten Themen; das Spektrum reicht von Arbeit und Bevölkerungsentwicklung über Umwelt- und Ressourcenökonomik bis zu Schattenwirtschaft, Sozialkapital, Sport, Tierethik, Kunst, Medien und Werbung.

Was dem einen als Verengung ethischer Vorstellungen auf die christliche Sozialethik auffallen mag, ist hier jedoch gerade von besonderem Interesse. Das Handbuch trägt mehr als nur die Erinnerung in sich, dass Wirtschaftsethik einst ein fast ausschließlich von der Theologie bearbeitetes Feld darstellte. Dass es die Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft war - eine katholische Gründung aus dem 19. Jh. -, die das Werk in Auftrag gegeben hat, erstaunt deshalb nicht. Ob die immer wieder erkennbare christliche Perspektive als Verengung bezeichnet werden muss, darf angesichts der offenen Anlage und gedanklichen Durchführung des Handbuchs bezweifelt werden. Dass diese Perspektive auch bereichernder Gewinn sein kann, zeigt das fünfte Kapitel des ersten Bandes, dem sich im Folgenden die Aufmerksamkeit zuwendet.

Das Kapitel zu "Interdependenzen von Religion und Wirtschaft" (Band 1, Seiten 567-780) fragt nach der Rolle und dem Einfluss von Religion auf wirtschaftliche Entwicklungen. Die Fragestellung wird aus unterschiedlichen theologischen Fachrichtungen angegangen. Die religionswissenschaftliche Sicht stellt wirtschaftsethische Aspekte des Buddhismus (Michael Fuss, 596-605), der chinesischen Religionen, insbesondere des Konfuzianismus (Carsten Herrmann-Pillath, 605-618), des Islam (Volker Nienhaus, 618-627) und des Christentums (Friedrich Wilhelm Graf, 627-669) vor. Die systematische Annäherung stellt fest: "Die Evolution wirtschaftlicher Institutionen - und zwar sowohl das Auftreten von Neuerungen als auch ihr Überleben - ist notwendig bedingt durch (und insbesondere abhängig von) Institutionen der Weltanschauungs-/Religionskommunikation" (Eilert Herms, 680, 669-683). Die kirchengeschichtliche Perspektive beschränkt sich in diesem Kapitel auf die Entwicklungen seit dem 19. Jh., und zwar aus katholischer (Franz Josef Stegmann, 683-712) und aus evangelischer Sicht (Günter Brakelmann, 712-740). Die Soziale Frage und die Entwicklung des Sozialstaates stehen dabei im Zentrum des Interesses. Wertvoll ist insbesondere die aus historischer Sicht dargestellte katholische (Hans-Joachim Höhn, 740-758) Sozialethik mit einem Kurzkommentar zu allen päpstlichen Enzykliken seit "Rerum Novarum" aus dem Jahr 1891 bis zu "Centesimus Annus" aus dem Jahr 1991 sowie die Beschreibung der historischen Entwicklung evangelischer Sozialethik (Martin Honecker, 758-780).

Äußerst aufschlussreich ist der das ganze Kapitel einleitende religionswissenschaftlich-systematische Aufsatz zur geschichtlichen Rolle von Religion im Modernisierungsprozess der Wirtschaft (Friedrich Wilhelm Graf, 567-596). Wirtschaft ist insofern "notwendig bedingt" durch Weltanschauungen oder Religionen, als diese kulturelle Deutungssysteme bereitstellen, die auch den Entscheidungen ökonomischer Akteure zu Grunde liegen.

"In allen ökonomischen Prozessen sind sehr viel mehr kulturelle Voraussetzungen im Spiel, als in klassischen Konzeptionen des homo oeconomicus wahrgenommen wurde" (569). Selbst in den neueren ökonomischen Theoriebildungen scheint die Frage nach mentalen Voraussetzungen, nach notwendigen Hintergrundannahmen, nach "cognitive maps" oder "belief systems" an Boden zu gewinnen. Diese in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts aufgekommene kulturtheoretische Forschung, die nach der Bedeutung von Alltagstheorien für die Entscheidungsfindung wirtschaftlicher Akteure fragt, ergänzt die herkömmliche rationale Entscheidungstheorie in einer wohltuend realistischen Art und Weise. "Kein Mensch oder keine Gruppe von Menschen handelt in einem allgemeinen Sinne ökonomisch rational ... Denn die aktive Verfolgung von Interessen ist abhängig von dem Verständnis, das ein individuelles oder kollektives Handlungssubjekt von seiner Interessenlage und von den Chancen zur möglichen Verwirklichung bzw. Durchsetzung seiner Interessen besitzt" (569).

Religionen sind kulturelle Deutungssysteme, die dieses Hintergrund-Verständnis in grundlegender Weise prägen. Religionen ermöglichen es dem Menschen, das eigene vergängliche Leben auf einen allgemeinen Sinnzusammenhang hin zu überschreiten und sich so zur Kontingenz des eigenen Lebens konstruktiv zu verhalten ("Kontingenzbewältigungs-Praxis"). In ihrer ordnungsstrukturierenden Leistung können Religionen aber auch als Systeme der Lebensführung verstanden werden, "die die Lebensvollzüge der in ihnen vergemeinschafteten Menschen ... tiefgreifend prägen" (567). Vieldiskutierte Beispiele dafür sind die divergierenden Lebensordnungen von katholischen und protestantischen Gemeinschaften des 18. und 19.Jh.s, die ein Grund für unterschiedliche Wohlstandsniveaus waren. Die darin wirksame Prägekraft kann jedoch heute noch verfolgt werden, etwa in kleinen protestantischen Lebensgemeinschaften in Lateinamerika (661-662), in denen die Geschäftstätigkeit trotz ausgeprägtem Biblizismus religiös positiv gewertet wird.

Unter umgekehrten Vorzeichen steht die moderne Entwicklung Russlands, das kaum Anschluss findet an die moderne kapitalistische Wirtschaftsweise. Dieser Umstand liegt wahrscheinlich nicht bloß im nach wie vor wirksamen Einfluss des zentralwirtschaftlich organisierten real existierenden Sozialismus begründet, sondern auch in der eigentümlich weltabgewandten Prägekraft des russisch-orthodoxen Christentums (584.629 ff.). Die verschiedenen Wirtschaftsethiken der einzelnen Konfessionen und Religionen unterscheiden sich offenbar darin, wie in der jeweiligen Symbolsprache die Beziehung des Menschen zu Gott geordnet wird und wie die Stellung des Menschen im Kosmos und sein Verhältnis zur Welt bestimmt werden.

"Ökonomisch relevant sind religiöse Deutungssysteme gerade mit Blick auf die Frage, ob sie die für Erfolge auf Märkten unumgängliche Lernbereitschaft fördern oder blockieren" (570).

Diese Aussage mag Widerstand hervorrufen in einer Zeit, in der oft die Klage der Überfremdung aller Lebensbereiche durch ökonomisches Denken geführt wird. Sie legt jedoch lediglich den Hauptakzent auf die direkte und unmittelbare Relevanz der Religion für die Ökonomie. Dort, wo die erwähnte Lernbereitschaft gegeben ist, ist eine direkte Relevanz der Religion möglich. Dass es auch die mittelbare und indirekte Relevanz gibt, ist damit nicht in Frage gestellt. "Religionen werden immer Mächte der Differenzwahrnehmung und Kritik bleiben. Aber sie werden ihrerseits von den zunehmend stärkeren, dynamischen Kräften der Ökonomie vielfältig beeinflusst werden und auf Dauer nur dann traditionsfähig sein, wenn sie sich in der prinzipiellen Distanz, die für alle religiösen Symbolsprachen konstitutiv ist, auch der modernern Marktrationalität zu öffnen vermögen" (591).