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Ausgabe:

März/1999

Spalte:

328–332

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Korsch, Dietrich

Titel/Untertitel:

Dialektische Theologie nach Karl Barth.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1996. XVIII, 322 S. gr.8. Kart. DM 68,-. ISBN 3-16-146569-5.

Rezensent:

Bernd Oberdorfer

Der Titel des Bandes, in dem der neuerdings in Marburg lehrende Dietrich Korsch zwischen 1981 und 1995 entstandene bzw. publizierte Aufsätze in überarbeiteter Form zusammengestellt hat, ist in programmatischer Weise mehrdeutig: Legt der Terminus "Dialektische Theologie" die Erwartung einer historisch-systematischen Rekonstruktion der gleichnamigen "Position im Spektrum der Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts" (VII) ’im Anschluß an’ Barth (= B.) nahe, so ergibt auch eine temporale Deutung mindestens zweifachen Sinn: als historische Verortung und damit Relativierung von B.s eigenem Entwurf oder als Explikation einer dezidiert nach-barthischen dialektischen Theologie. Alle diese Erwartungen werden erfüllt. K. geht zwar von B. aus, entgrenzt aber den Ausdruck "dialektische Theologie" zum Namen für eine "Strukturtheorie des Protestantismus" in der Moderne. Gegen B.s eigene Neuzeitkritik wird dessen Theologie dann im Zusammenhang der umfassenden kulturellen Entwicklungen interpretiert. B. wird dabei durchaus ein positiver und bleibender Beitrag zur protestantischen Selbstverständigung zugeschrieben. Allerdings ist K.s Leitperspektive erkennbar sehr viel stärker von den Fragestellungen der nachkantischen deutschen Philosophie geprägt als durch B. selbst.

Der erste der drei Hauptteile erhellt den "historischen Ort dialektischer Theologie" (1-92). Der für das Verständnis von K.s deutungsleitenden Kategorien grundlegende Aufsatz "Der verborgene Gott und der sich entzogene Mensch. Zur Dialektik des Fremden in der Theologie" (3-22) schlägt einen Bogen von Luther über Pascal hin zu B. und entfaltet dabei die überraschende epochengeschichtliche These, daß christliche Theologie seit der Reformation gekennzeichnet sei durch die "Anerkennung der prinzipiellen, nicht negierbaren Fremdheit im eigenen Selbst" (21). Explizit wird dadurch ein erasmianisches, implizit auch das cartesische Rationalitätskonzept kritisiert. Nach einem Beitrag über den Krisenbegriff als geschichtsphilosophischen bzw. -theologischen Leitbegriff der Neuzeitdeutung bei Bloch, Lukács, Tillich und B. (23-40) leiten wichtige methodologische Überlegungen zu einer "prismatischen Theologiegeschichtsschreibung" (41-44) den Aufsatz über "Hermann Cohen und die protestantische Theologie seiner Zeit" ein, der gleichsam das geistesgeschichtliche Feld ausmißt, in dem sich der junge B. vorfand (41-73). Die folgenden Erwägungen zur "Theologie in der Postmoderne" (74-92) verbinden eine Interpretation der Postmoderne als reflexive Moderne mit einer Kritik diverser Spielarten einer Deutung B.s als eines Antimodernen (Pannenberg, Rendtorff, Marquardt, Schellong u. a.) und eröffnen so die Möglichkeit, einen seinerseits reflexiv modern verstandenen B. in das theologische und überhaupt kulturelle Gespräch der "Spätmoderne" einzubringen.

Die Teile II und III sind systematisch orientiert. In Teil II ("Zur theologischen Struktur dialektischer Theologie"; 93-187) erarbeitet und bewährt K. sein Konzept einer irreduziblen Dualität von Glaube und Dogmatik unter den wahrheitstheoretischen Bedingungen der Moderne im Zusammenhang der Barthinterpretation. Luthers "antinomische" Bestimmung des Glaubens als "Existenzwechsel" kann nach K. in ihrer bleibenden Wahrheit gegen das neuzeitliche "Bewußtsein ..., das alles sich aneignen möchte" und so alle Objektivität vertilgt, nur durch eine "material ausgearbeitete Dogmatik" zur Geltung gebracht werden, "die ihren Kern in einer vertieften Auslegung der Geschichte Jesu Christi hat" (95-108; hier: 100); B.s christologische "Zuspitzung" der Dogmatik und in ihrer systematischen Mitte der Analogiegedanke sind dann erkennbar als "Versuch, die Probleme der antinomischen Verfa&szli g;theit des Glaubens ... im Verhältnis zum modernen Bewußtsein zu bearbeiten" (ebd.). Die Einsicht in die Unterschiedenheit von Lehre und Glaubensvollzug wird im folgenden auf das Verhältnis von B. und Schleiermacher (109-129) bzw. W. Herrmann (130-145) angewendet und auch für die Rekonstruktion von B.s Lehre von der Menschheit Jesu in KD IV/2 fruchtbar gemacht (178-187). Indem K. zudem B.s Dogmatik statt als autoritäres Entmündigungsprogramm als "Theorie des prinzipiellen (singulären) Faktums" liest, kann er die (vorbildlich konzise dargestellte) ’Münchener Barthkritik’, deren "neuzeittheoretisches" Interesse er teilt, ohne ihre Neuzeitdeutung in jeder Hinsicht zu übernehmen, seinerseits kritisieren (146-177): Gerade im Kontext eines verschärften Pluralismus bleibe "die Theologie Karl Barths in hohem Maße entwicklungsfähig" (177).

Dem dogmatischen Zugang zum Glaubensakt korreliert ein(religions)-philosophischer, "sofern die Einheit, die von der Dogmatik als nur im Glauben und seiner Gewißheit vollziehbar festgehalten wird, von der Einheit unterschieden werden muß, die sich aufgrund des Zusammenhangs unseres Selbstbewußtseins im Denken aufbaut" (Vorwort; VIII f.). Von dieser Seite her wendet sich Teil III dem "philosophischen Begriff dialektischer Theologie" zu (189-311). Hier liegt der konzeptionelle Kern des Werkes. Dabei spielt B. nur noch im ersten Beitrag "Intellectus fidei" (191-213) eine Rolle, der B.s "theologisches Rationalitätskonzept" (202) an seiner Deutung des ontologischen Gottesbeweises expliziert und als "offenbarungstheologischen Kommentar zu dem ontotheologischen Problem der Vernunft in der Neuzeit" (208) interpretiert.

Von grundlegender Bedeutung ist der Aufsatz "Die Einheit Gottes und die Duplizität des Bewußtseins. Über die Zusammengehörigkeit von Personalität Gottes und Personalität des Menschen" (214-227). In kritischer Anlehnung an Fichtes "Gedanke(n) von der konstitutiven Unmittelbarkeit Gottes zur menschlichen Selbstauslegung" (216) und vor allem unter Rückgriff auf Husserls Gedanken einer kulturell vermittelten "transzendentale(n) Geschichte des Ichs im Zeitstrom seiner Wahrnehmungen" (220) entwickelt K. hier sein Konzept einer "transzendentalphilosophisch etablierte(n) Duplizität im Bewußtsein" (223), nämlich jener von Unmittelbarkeit und Reflexion bzw. von Einheit der Person und Vielfalt der Vorstellungen. Der (notwendig über positive Religion vermittelte) Gottesbegriff symbolisiert dabei die aus der Unmittelbarkeit nicht in die Reflexion überführbare "Einheit der Duplizität des Bewußtseins" (224). Der von Fichte verworfene Begriff der "Persönlichkeit Gottes" gewinnt dann einen neuen Sinn als "lebenspraktisch unerläßliche(r)" (226) "Horizont eines Zusichselbstkommens menschlicher Subjektivität" (224); dies schließt den Gedanken ein, daß Gott "selbst in einer Geschichte steht", nämlich in der "die menschlichen Selbstdeutungsvorgänge in sich aufnehmende(n) Geschichte der unmittelbaren Einheit in aller Differenz" (225). Bezugsproblem der Religion ist also der "Aufbau einer eigenen, offenen, unabgeschlossenen Personalität des Menschen" (226). Mit diesem Konzept will K. die spätmoderne Kritik eines "substanzialistischen" Personverständnisses aufnehmen, ohne sich zur postmodernen "Dekonstruktion von Subjektivät überhaupt" nötigen zu lassen (227). Der folgende Beitrag "Gott ist Mensch" (228-240) skizziert unter Berufung auf Luther eine Christologie, die anders als die altkirchliche und die Hegelsche nicht von der Unterscheidung der beiden Naturen, sondern von der Einheit der Person ausgeht und dabei die "Einheit des Allgemeinen und des Individuellen" nicht "substanzlogisch" und erstaunlicherweise auch nicht "subjektivitätslogisch", sondern "vollzugsförmig" faßt und auf die "Frage nach gehaltvoller (und insofern: gemeinschaftsfähiger) Individualität" bezieht (234). Die "Umstellung des christologischen Interesses" hat zur Folge, daß das "dogmatische Urteil über Jesus Christus ... nun von der konkreten geschichtlichen Jesusgestalt abhängig" wird, "wie sie in der Bibel aufscheint" (236). Spekulativer Höhepunkt des Bandes ist die Untersuchung "Das doppelte Absolute" (241-272). Im Gespräch mit F. Wagner und J. Dierken verankert K. hier seinen Gedanken der konstitutiven Dualität von Unmittelbarkeit und Reflexion in einer Theorie des Absoluten selbst, die mit Bezug auf Schelling und Schleiermacher Hegels Konzept der universalen Integration ein Modell gegenüberstellt, in dem die Darstellung des Absoluten die vorreflexive Faktizität des Absoluten am Ort des Endlichen aus eigenen Gründen aus sich heraus entläßt und also darauf verzichtet, die vielfältigen Individuationen des Absoluten im Endlichen aus diesem selbst zu deduzieren. Der Aufsatz "Individualität als Gesetz" (273-296) erhellt den für K. zentralen Individualitätsbegriff noch einmal anhand von Cohen. Abschließend führen Überlegungen zur "Vernünftigkeit des verborgenen Gottes" (297-311) Religionstheorie und Rationalitätskonzept zusammen: Wenn Religion "nichts anderes als die Vernünftigkeit der Vernunft am Ort individuellen Lebens" bedeutet (298), dann ist ihr Thema der Umgang mit den Grenzen bzw. mit der Abkünftigkeit dieser Vernünftigkeit angesichts des Faktums, daß "eine objektive Einheit der Vernunft nicht erschwinglich ist" (309); der Gedanke der "Verborgenheit Gottes" chiffriert diese Unerschwinglichkeit theologisch.

K. deutet die "Postmoderne" in strenger Kontinuität zur Moderne. Sie nimmt das wegen der unaufgehobenen Spannung von Rationalisierung und Differenzierung uneingelöste Versprechen der Moderne, Individualität und autonome Selbstbestimmung zu ermöglichen, auf, indem sie auf die potenzierte gesellschaftliche und kulturelle Pluralisierung mit einer Kritik noch der neuzeitlichen Einheitsunterstellungen reagiert. Damit wird die moderne Kritik objektivistischer Substanz- und Einheitsontologie reflexiv auf sich selber angewandt. Im Unterschied zu Theoretikern der Postmoderne wie Lyotard und zu barthianisch orientierten theologischen Kritikern des Subjektivitätsparadigmas wie I. U. Dalferth hält K. aber an den transzendentalphilosophischen Grundeinsichten fest. Diese hält er für weiterhin leistungsfähig, weil er in der neuzeitlichen Geistesgeschichte eine Linie stark heraushebt, die das Moment der unaufhebbaren Nichtidentität, der Selbst-Entzogenheit des Selbsts, der Verborgenheit des Ichs (und in Korrespondenz dazu der Verborgenheit Gottes) akzentuiert. B.s Kritik an der neuzeitlichen Anthropozentrik und ihrem ’absolutistischen’ Einheitszwang bringt in dieser Perspektive dieses seinerseits neuzeitliche Moment der Fremdheit im Selbst zur Geltung. B.s Ansatz kann deshalb positiv gewürdigt werden als Beitrag zur Dynamisierung der neuzeitlichen Denkbewegung selbst in Richtung auf "gehaltvolle", die Differenz auch in sich selbst gewahrende Individualität. Anders als F. Wagner liest K. denn auch B.s Christozentrik nicht als theonome Enteignung humaner Individualität, sondern als einen wichtigen Entwicklungsschritt in Richtung auf deren theologisch adäquate Wahrnehmung.

Dieser Deutungsansatz wird mit beeindruckender innerer Kohärenz, mit strengem konstruktivem Zugriff und mit hohem argumentativen Aufwand durchgeführt. Die Darstellungen einzelner Theorien ebenso wie die methodologischen Überlegungen sind von einer Konzentration, Prägnanz und Klarheit, wie sie derzeit anderswo nur selten zu finden sein dürften. Der Entpolemisierung und Versachlichung des Streits um B.s Theologie und zugleich der gegenwärtigen konzeptionell-theologischen Diskussion ist damit ein großer Dienst erwiesen.

Dennoch bleiben Bedenken. Sie betreffen zunächst gera de die Stärke des Ansatzes, B. in ein positives Verhältnis zur Neuzeit zu setzen, greifen dann aber über auf K.s Deutung der Moderne und Spätmoderne selbst und gelten schließlich K.s Konzeption von "Theologie in der Postmoderne".

So zutreffend der Hinweis ist, daß der Barthsche Ansatz sich weder eo ipso sperrt gegen die neuzeitliche Individualisierung und Pluralisierung noch diese auch nur ignoriert, so wenig überzeugt doch eine Deutung, die diese Kategorien als strukturell-funktionales Zentrum dieses Ansatzes identifiziert. K. liest B.s Insistieren auf die Gottheit Gottes und auf Christus als dem singulären Faktum und seine Polemik gegen alle Vermittlung im Horizont des spätmodern gesteigerten Pluralismus als Versuch, die vermittlungsresistente Singularität des Individuums zu schützen, indem sie diese christologisch-theologisch chiffrieren. Aber diese Rekonstruktion geht faktisch aus von einem anthropologischen Singularitätsinteresse, das B. dezidiert nicht teilte und das auch dem Duktus seines Werkes fremd ist. Diese Rekonstruktion gründet in einer Theorie des "doppelten Absoluten", die K. ohne jeden Bezug auf B. entfaltet. Wie dies mit der (allerdings im ältesten Aufsatz des Bandes) behaupteten Entwicklungsfähigkeit von B.s Theologie selbst zu vereinbaren sein soll, bleibt ungeklärt.

Dies müßte nur eingeschworene Barthianer beunruhigen, wenn nicht die Deutekategorien für Moderne und Spätmoderne selbst Fragen aufwürfen. So gewiß die Neuzeit durch Prozesse der Individualisierung und der Pluralisierung gekennzeichnet ist, so gewiß auch durch gesteigerte Formen sozialer Abhängigkeit und funktionaler Entindividualisierung. Ebenso wie diese in Gestalt von Arbeitsteilung und Funktionsdifferenzierung ambivalente, nämlich zugleich entfremdende und entlastende Wirkungen haben, oszilliert auch Individualisierung in ihren Konsequenzen zwischen den Polen pathologischer Erratik und mündiger Selbstbestimmung. K. läßt dem Individualitätsbegriff jedoch in problematischer Weise affirmativ-normative Bedeutung für seine Interpretation der Spät-Moderne und für seine Bestimmung der Funktion der (näherhin christlichen, weithin aber nur: protestantischen) Religion in dieser zuwachsen. "Die" Religion, ja sogar die Annahme eines seinerseits persönlichen Gottes wird zur konstitutiven Bedingung der Etablierung "gehaltvoller Individualität" erklärt, da Religion (wie K.s auffällig enggeführte Definition lautet) die "Vernünftigkeit der Vernunft am Ort individuellen Lebens" thematisiere. Umgekehrt soll protestantische Theologie konsequenterweise ihre Inhalte anhand dieser Kategorie reformulieren. Deshalb spielt Jesus Christus als Individuum die schlechthin entscheidende Rolle. Doch ist das "Bild von der Identität des biblischen Jesus" so sehr auf die funktional erforderte Struktur hin skizziert, daß es, mit Verlaub, ein wenig mager ausfällt (und ist vom Duktus her Hirsch, Gogarten oder Ebeling weit ähnlicher als B.). Jedenfalls sind Zweifel erlaubt, ob die Fülle biblischer (oder auch theologiegeschichtlicher) Bilder, Begriffe und Konzepte durch dieses kriterielle Nadelöhr wirklich ohne Schaden hindurchgeführt werden können; daß bei den angedeuteten Konsequenzen der Konzeption für die Ausgestaltung der Theologie das Alte Testament unerwähnt bleibt, könnte kein Zufall sein.

Wenn aber "Individualität" nicht ohne nähere Bestimmung als diagnostische Kategorie und als normativer Leitbegriff für die realistische Wahrnehmung und Deutung der Spätmoderne verwendet werden kann, dann versteht sich auch nicht mehr von selbst, daß die Anknüpfung an dieses Bezugsproblem eo ipso die Chancen des Christentums steigert, als lebensdienlich wahrgenommen und akzeptiert zu werden, und man kann fragen, ob die christlichen Inhalte durch dieses Nadelöhr überhaupt getrieben werden sollten. Der in der Tat für den christlichen Glauben elementare und unentbehrliche Gedanke unveräußerlicher humaner Würde muß jedenfalls so gefaßt werden, daß er den Ton blauäugiger Verheißung kritisch reflektiert, der der Individualisierungsthese in der gesamtkulturellen Postmodernediskussion häufig anhaftet. K.s grundsätzliche Orientierung an der Differenz und sein Insistieren auf die Anwesenheit des Fremden bieten dafür Ansätze, die aber noch zu formal und abstrakt bleiben und weiterer Ausarbeitung bedürfen, ehe ihre Tragfähigkeit beurteilt werden kann.