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Ausgabe:

März/2001

Spalte:

289–292

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Epp, Verena

Titel/Untertitel:

Amicitia. Zur Geschichte personaler, sozialer, politischer und geistlicher Beziehungen im frühen Mittelalter.

Verlag:

Stuttgart: Hiersemann 1999. VIII, 362 S. gr.8 = Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 44. Lw. DM 260,-. ISBN 3-7772-9917-0.

Rezensent:

Lutz E. v. Padberg

Die Bindung des Menschen an Gruppen, so Gerd Althoff in seinem wegweisenden Buch "Verwandte, Freunde und Getreue: zum politischen Stellenwert der Gruppenbindungen im früheren Mittelalter" (Darmstadt 1990, 2), ist "so etwas wie der archimedische Punkt, von dem aus weite Bereiche mittelalterlichen Lebens, von der ,Mentalität' bis zur ,Staatlichkeit', erschlossen werden könnten". Den privaten Beziehungen wie der Verwandtschaft und der Freundschaft kam dabei gewiss ein höherer Stellenwert zu als den staatlichen. Vor allem garantierte das Netz von personellen Verbindungen dem Einzelnen "in einer prinzipiell friedlosen Gesellschaft einen Raum friedfertigen Verhaltens, der Unterstützung und Hilfe in allen Lebensbereichen". Zu Recht hat sich daher die Forschung in der letzten Zeit verstärkt diesem Bereich zugewandt, zumal er das bisherige, vielfach noch immer von nationalstaatlichen Vorstellungen des 19. Jh.s geprägte Verständnis von mittelalterlicher Herrschaft als eines Prozesses vertikaler Machtausübung in Frage stellt (Epp, 3 f.). Denn amicitia ist eine an bestimmte Werte gebundene gegenseitige Vereinbarung mit Verpflichtungscharakter. Ihre besondere Ausprägung erhielt sie in jener Umbruchsphase der Spätantike, als sich auf dem Boden des zusammenbrechenden Römischen Reiches die germanischen Nachfolgestaaten entwickelten. In dieser Krisensituation versprach amicitia in doppelter Hinsicht einen Ausweg aus existentieller Verunsicherung: "durch die Bindung an Gott und die Mitmenschen. Ihr ,Sitz im Leben' liegt in der Aufhebung der Existenzangst: Amicitia war der freiwillige Zusammenschluß von Menschen zu Gruppen, die sich Frieden und Selbstbestätigung nach innen und Schutz nach außen gegen mögliche Feinde und gegen die Bedrohung ihrer Stellung in der Gesellschaft gewährten" (3).

An dieser Stelle setzt Verena Epps gelungene Studie an, die im Wintersemester 1996/97 von der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf als Habilitationsschrift angenommen worden ist. Ihr Fortschritt gegenüber den bisherigen Studien zur Gruppenbindung liegt sowohl in der entschiedenen Berücksichtigung der "prägenden Wirkungen der griechisch-römischen Antike auf die Konzeption von amicitia" als auch in der Herausarbeitung der "Bedeutung des Christentums, insbesondere seiner Vorstellungen der Gott-Mensch-Beziehung" (5). Da diese Traditionselemente im Vordergrund stehen, bilden konsequenterweise die Werke von Ennodius von Pavia (473/4-521), Caesarius von Arles (ca. 470-542), Cassiodor (ca. 485-ca. 580), Gregor von Tours (538-594), Venantius Fortunatus (vor 540-um 600), Gregor dem Großen (540-604) und Isidor von Sevilla (ca. 560-636) die Quellenbasis (20-23). In dem Einleitungsteil wird nach der Erörterung der Fragestellung zunächst breit die Begriffsgeschichte antiker amicitia entfaltet (7-16), die zu der These führt, dass "es langfristige Kontinuitäten des begrifflichen Gehaltes von amicitia von der Antike zum Frühmittelalter gab" (16). Die Skizzierung des Forschungsstandes (17-19) kann wegen kaum vorhandener einschlägiger Vorarbeiten kurz sein und schnell zu methodischen Bemerkungen übergehen. Die Arbeit beansprucht Neuland zu betreten, indem sie sich ausdrücklich von dem Vorgehen des Lexikons Geschichtlicher Grundbegriffe absetzt und unter bewusstem Verzicht auf den Begriff ,Mentalität' an das Forschungskonzept der Nouvelle Histoire anschließt. In dem Bemühen um Erfassung der ganzen Bandbreite eines Begriffs versteht sich die Arbeit "als Plädoyer für eine reflektierte Rückkehr zu methodischen Prinzipien des Historismus, vor allem zu Kategorien wie ,Einfühlung' und ,Verstehen', die in den Zeiten einer sozialgeschichtlich dominierten Geschichtswissenschaft, die sich jenseits des Historismus ansiedelte, verfemt waren" (19; hier wäre genauer zu definieren, was unter ,Historismus' zu verstehen ist; vgl. neben den Arbeiten von Otto Gerhard Oexle einführend Hans-Werner Goetz, Moderne Mediävistik, Darmstadt 1999, 67 ff.). So ganz neu ist dieses Bemühen um Verständnis aus der Zeit heraus zwar nicht, gleichwohl aber unbedingt berechtigt. Bei der Quelleninterpretation stand demzufolge die philologische Bestandsaufnahme am Anfang, aus der sich eine Grobsortierung der Belege für amicitia nach den verschiedenen Gruppenbindungen ergab. In der historischen Analyse wurden diese dann nach den Aspekten Wesen der Beziehung, soziale Träger, Pflichten und Rituale sowie Funktionalisierungen untersucht (24 f.).

Aspektreich und quellennah wird auf dieser Basis im Hauptteil amicitia als personale Beziehung (28-129), als Klientel- und Gefolgschaftsbeziehung (130-175), als außenpolitisches Beziehungsverhältnis (176-233) und als geistliche Beziehung (234-298) erörtert. Nach der jeweiligen Zusammenstellung der einschlägigen Belege werden diese umsichtig interpretiert und so allmählich ein Gesamtbild erstellt. Dieser Durchgang fordert einiges an Detailuntersuchungen, so dass der Leser ein gewisses Maß an Geduld aufbringen muss. Vorläufige Zusammenfassungen zu den vier großen Kapiteln hätten das Nachverfolgen dieses Weges gefördert, obschon hin und wieder überraschende sprachliche Wendungen die Lektüre erleichtern (so, wenn 89 von dem Diakon die Rede ist, "der es vorzog, mit seinem Freund ,einen heben' zu gehen, anstatt seine Morgengebete zu verrichten" oder 294 Prediger als ,Handlungsreisende Gottes' bezeichnet werden). Die Anmerkungen dienen dabei in erster Linie dem Nachweis von Quellen und Sekundärliteratur. Die Auseinandersetzung mit der Forschung wird sparsam vorgenommen, was aber nicht erstaunen muss, wird doch methodisches Neuland betreten. Erschlossen wird der sorgfältig edierte Band durch Quellen- und Literaturverzeichnisse (309-331) sowie sorgfältige Register (Personen, Orte und Länder, Sachen; 333-362).

Die einzelnen Untersuchungsschritte können hier nicht nachvollzogen werden. Gleichwohl sei hervorgehoben, dass in dem Abschnitt über amicitia als geistliche Beziehung (234 ff.) zu Recht die biblische Tradition als der eigenständigste Beitrag des 6. Jh.s zur inhaltlichen Entfaltung des Begriffes betont wird. In diesem Zusammenhang wird immer wieder Joh 15,12-17 zitiert. Das in Jesu Abschiedsrede den Jüngern auferlegte Liebesgebot, die zwischenmenschliche amicitia, wird als Teil der Christusnachfolge verstanden und "verbindet die Menschen, die sich dazu entschließen, gleichzeitig untereinander in der caritas" (235). Am Beispiel von Papst Gregor dem Großen wird deutlich, dass mit dieser Erwählung der im Prinzip alle Menschen einbeziehende Missionsauftrag verbunden ist. Darüber hinaus sei die Gottesfreundschaft "potentiell für alle Schichten erreichbar und damit sogar von emanzipatorischer Bedeutung" (249), ein als Zielvorstellung sicher zutreffender Gedanke, dessen alltäglicher Realisierung freilich Grenzen gesetzt gewesen sein dürften. Wenig überraschend ist in diesem Bereich die Bedeutung der Heiligenverehrung, waren doch die Heiligen gleichsam Prototypen der geistlichen amicitia, die "ihren Hauptauftrag in der heilspädagogischen Erfüllung des Liebesgebotes sah[en]" (248). Aus diesem konnte beides abgeleitet werden, sowohl die Weltverachtung als auch die verstärkte Hinwendung zur Welt, "die sich in Predigt, Mission und Armenfürsorge niederschlug" (275; vgl. dagegen 296). Was hier von E. als ,gegenläufige Tendenzen' und ,Widerspruch' markiert wird, ist aus der biblischen Sicht, der gerade Gregor der Große folgen wollte (vgl. das hier nicht berücksichtigte Werk von Robert A. Markus, Gregory the Great and his World, Cambridge 1997, 34 ff.), eher eine Einheit, denn die Menschen sollten etwa durch die Predigt zu solchen Christen erzogen werden, die ein gewandeltes Verhältnis zur Welt hatten. Außerdem waren es im früheren Mittelalter gerade die irischen und angelsächsischen Missionare, die in großer Selbstverständlichkeit Peregrinatio und Mission verbanden. Was schließlich die auf Christus- und Apostelnachfolge basierenden Lehrer-Schüler-Verhältnisse anbetrifft (275 ff.), so fänden sich in dem hagiographischen Material der Folgezeit zahlreiche weiterführende Konkretisierungen, man denke nur an die Vita Gregorii des Liudger von Münster vom Ende des 8. Jh.s, in der die Aspekte "Selbsterziehung und Heilspädagogik" (290) geradezu exemplarisch entfaltet sind.

Die Zusammenfassung stellt präzise die Ergebnisse der Analyse des erstaunlich einheitlich benutzten Begriffs amicitia (299-307) vor. "Amicitia kann aufgrund der Befunde als eine wechselseitige, wertbezogene und moralisch bindende Verpflichtung verstanden werden, die von zwei oder mehreren Partnern - Individuen oder Kollektiven - geschlossen wird, affektive und kontraktuelle Elemente enthält und sich in gegenseitigen Diensten äußert" (299). Getragen wird sie von den Prinzipien persönlicher Freiheit, Friedens- und Sicherheitsgarantie, wert- und zielbezogener Verpflichtung sowie dem Prinzip der Gegenseitigkeit. E. entgeht dabei der möglichen Fehleinschätzung, nun die gesamten Beziehungen der Gesellschaft gerade auch im politischen Bereich diesem Ideal unterzuordnen, denn die dafür vorauszusetzende "Annahme einer fortgeschrittenen, tiefdringenden Christianisierung der Gesellschaft ist für den Zeitraum bis 600 aus dem untersuchten Material nicht zu belegen" (300) und wurde übrigens auch später nicht erreicht. Das wohl wichtigste Ergebnis der Studie ist die bleibende Bedeutung des antiken Traditionsstranges. "Ein gelegentlich postulierter germanischer Neuansatz im Bereich der außenpolitischen Verkehrsformen ist daher aufgrund der Befunde nicht zu erkennen" (305), wobei freilich die chronologische Eingrenzung der Untersuchung zu beachten ist. Das wiederum führt zu einem neuen Verständnis von Herrschaft, so dass die Kernthese von E. lautet: "Erst aus der teilweisen Konvergenz und dem Zusammenwirken der griechisch-römischen, germanischen und christlichen Tradition, die sich eben in diesem Verständnis von ,Herrschaft' als eines wechselseitigen, kommunikativen Prozesses trafen, formierte sich die besondere ,Staatlichkeit' des Frühmittelalters" (307). Interessant wäre es, dieses Ergebnis jetzt anhand der weiteren Entwicklung etwa im Spiegel der urkundlichen Überlieferung weiter zu verfolgen.