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Ausgabe:

März/2001

Spalte:

284–286

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

O'Brien, Peter T.

Titel/Untertitel:

The Letter to the Ephesians.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 1999. XXXIII, 536 S. gr.8 = The Pillar New Testament Commentary. Geb. $ 40.-. ISBN 0-8028-3736-0.

Rezensent:

Michael Gese

Der in Sydney lehrende Neutestamentler P. T. O'Brien legt nach seinen bisherigen Einzeluntersuchungen (Introductory Thanksgivings in the Letters of Paul; Gospel and Mission in the Writings of Paul u. a.) nun einen umfassenden Kommentar zum Epheserbrief vor. Vorangestellt ist eine ausführliche Einleitung, in der O'B. zunächst der Frage der Autorschaft nachgeht. O'B.s Resultat, der Brief müsse vom Apostel Paulus während seiner römischen Gefangenschaft 61/62 n. Chr. geschrieben worden sein (vgl. 57), überrascht, hat sich doch in der neueren kritischen Forschung weithin die Pseudonymität des Eph durchgesetzt. O'B. lehnt die gängigen Argumente ab: Der unpersönliche Charakter des Briefes wie die Auffälligkeiten in Sprache und Stil seien kein hinreichender Beweis für die Pseudonymität. Auch die literarischen Beziehungen zum Kolosserbrief widersprechen seiner Meinung nach nicht der paulinischen Verfasserschaft, sondern weisen darauf, dass Paulus beide Briefe innerhalb kurzer Zeit verfasst habe. Die theologischen Unterschiede zu den genuinen Paulinen erklärt O'B. als Weiterentwicklung, die Paulus selbst durchlaufen habe. Auch das Paulusbild des Briefes entspreche ganz der Selbstdarstellung in den genuinen Briefen. Nach der Meinung von O'B. berechtigt darum keines der angeführten Argumente zum Zweifel an der paulinischen Autorschaft. Außerdem bezeuge die Urkirche durch die Aufnahme in den ntl. Kanon die Authentizität des Eph, da pseudepigraphische Werke ausgeschieden worden seien. Man wird O'B. darin zustimmen, dass keines der Argumente für sich genommen die Pseudonymität erweist. Dass jedoch die Fülle von Hinweisen eine pseudepigraphische Abfassung nahe legt, lässt O'B. nicht gelten. Vielmehr kontert er mit dem Hinweis, die Annahme pseudepigraphischer Verfasserschaft schaffe mehr Probleme als sie löse (37). Bei diesen Darlegungen wird man den Verdacht nicht los, für O'B. trage Pseudepigraphie einen moralischen Makel an sich. Seine Überzeugung, es gebe im NT kein einziges pseudonym verfasstes Schriftstück (vgl. 40 f.), macht den Eindruck einer petitio principii und wird sicher nur bei sehr wenigen Exegeten des NT Zustimmung finden.

Wer die Echtheit des Eph vertritt, muss umgekehrt die Ortsadresse bezweifeln, sonst kommt er mit der unpersönlichen Haltung des Briefes nicht zurecht. Darum nimmt O'B. an, Paulus habe diesen Brief an Gemeinden rings um Ephesus gerichtet (vgl. 49). Tychikus und Onesimus hätten den Brief dann zusammen mit dem kurz zuvor verfassten Kolosserbrief (darum identische Tychikusnotiz!) nach Kleinasien gebracht (vgl. 57). Die allgemeine und unpersönliche Haltung will O'B. damit erklären, dass Paulus sich an eine breite Leserschaft wendet, die er in ihrem Glauben stärken und auf eine einheitliche Glaubensnorm bringen möchte: "Paul wants to 'ground, shape and challenge' his readers in their faith. In other words, the main purpose of his letter is 'identity formation'" (57).

Während die Einleitung stellenweise apologetisch und plakativ wirkt, ist O'B.s eigentlicher Kommentar solide und differenzierend gearbeitet. Eine besondere Stärke des Kommentars ist die gesamtbiblische Perspektive. O'B. interpretiert die Aussagen des Eph aus der atl. Tradition und dem frühjüdischen Kontext heraus. Ein weiterer Vorzug ist die klare Gliederung der oftmals sehr verschachtelten Sätze des Eph. O'B. gelingt es, die Theologie des Briefes verständlich zu machen. An wichtigen exegetischen Entscheidungen seien genannt:

1. In Eph 1,22 f. unterscheidet O'B. zwischen Christus als dem Haupt des Alls und Christus als dem Haupt der Kirche und kann so zwischen ekklesiologischem und kosmologischem Aspekt trennen (149).

2. In Eph 2,5 ff. arbeitet O'B. die Balance zwischen futurischer und gegenwärtig realisierter Eschatologie heraus (169). Von einer Aufhebung der Eschatologie könne keine Rede sein, da die Partizipation an dem in Christus erschlossenen Heil die eschatologische Spannung nicht aufhebe, sondern sie begründe (gegen Lindemann). Auf die terminologische Unterscheidung zwischen Rechtfertigung und Rettung wird jedoch nur am Rande eingegangen.

3. Den Begriff Leib in Eph 2,16 bezieht O'B. nicht auf den Kreuzesleib, sondern auf den in Christus geschaffenen Leib der Kirche als Parallelbegriff zu einem neuen Menschen in Eph 2,15. Nach O'B. kann nicht von einem Primat der Ekklesiologie vor der Soteriologie gesprochen werden (geg. Merklein), da in dem einen Leib, in der Versöhnung von Juden und Heiden, die horizontale Dimension der Versöhnung Gottes am Kreuz zum Ausdruck komme (202). O'B. macht deutlich, dass dabei nicht die Kirche in das historische Israel inkorporiert wird, sondern aus Heiden und Juden eine neue Einheit geschaffen wird (203 f.; gegen M. Barth). Das Kommen des Friedenswortes Christi nach Eph 2,17 ereignet sich - so stellt O'B. richtig heraus - in der Verkündigung der Apostel (205).

An einigen Punkten muss jedoch Kritik geübt werden. Da O'B. so vehement die Authentizität des Eph vertritt, steht in seiner Interpretation die Person des Paulus oftmals zu stark im Vordergrund und versperrt den Blick auf die Unterschiede zwischen Eph und den genuinen Paulinen. So wird manche charakteristische Eigenart des Eph zu schnell mit den übrigen Paulinen harmonisiert, und wichtige theologische Konsequenzen gehen verloren. Versteht man den Eph dagegen als ein Schreiben, das die paulinische Theologie als eine Art Vermächtnis für die nachfolgende Generation zusammenfasst, kann man den spezifischen Eigenheiten des Eph m. E. viel eher gerecht werden. Die Interpretation des Eph hätte damit noch plastischer werden können. Als Beispiele seien genannt:

1. In die Bilder der Kirche als Bau (Eph 2,20-22) und als Leib (Eph 4,7-16) ist durch Apostel und Propheten bzw. die Wortämter eine Vermittlungsstufe eingebaut: beide Bilder sind - im Unterschied zum paulinischen Gebrauch - dreigliedrig angelegt (Christus - Vermittlung durch Apostel und Propheten - gegenwärtige Gemeinde). Das ist nicht nur ein deutlicher Hinweis auf die nachpaulinische Entstehung des Briefes, sondern zugleich ein fundamentaler Grundzug der Ekklesiologie im Eph: der erste Beleg für die apostolische Sukzession!

2. Auch auf die Auffälligkeit, dass im Eph die Kirche ausnahmslos als Universalkirche im Blick ist, nie dagegen als Ortsgemeinde - wie die Mehrzahl der Belege bei Paulus - hätte O'B. genauer eingehen müssen.

3. Das nur blass stilisierte Paulusportrait in Eph 3,1.8.13 hätte darauf aufmerksam machen können, dass die biographischen Elemente eine theologische Funktion bekommen: Paulus wird zum Garanten apostolischer Autorität.

4. Die völlig singuläre Verdopplung des Revelations-Schemas in Eph 3,2-7; 8-12 (Offenbarung des Mysteriums an Apostel und Propheten als 1. Stufe und Weitergabe des Mysteriums an die Völker als 2. Stufe) wird nur dann präzise interpretiert, wenn man die 1. Stufe auf die Generation des Paulus und die 2. Stufe auf die nachfolgende Generation bezieht.

An einigen Stellen hätte O'B. noch stärker traditionsgeschichtlich arbeiten können:

1. Das Zitat von Psalm 68,19, bei welchem Eph 4,8 das ursprüngliche Verb "nehmen" durch "geben" ersetzt, ist eine crux interpretum, für die O'B. keine überzeugende Interpretation anbietet. Versteht man Eph 4,8 als Kombinationszitat aus Ps 68,19 und Ps 68,12 LXX, lässt sich das Problem gut lösen: Eph 4 sieht in Ps 68 bereits die Evangeliumsverkündigung angesprochen (vgl. ,Evangelisten' in Eph 4,11 und Ps 68,12).

2. In der Interpretation von Eph 5,25 ff. vermisst man ein genaueres Eingehen auf die Tradition des Brautbades. Hier lässt sich nämlich der gesamte frühjüdische Brautzuführungsritus aufweisen. In Anlehnung an Gen 2,21-24 wird der Brautzuführungsritus in Erschaffung, Bereitung und Präsentation der Braut eingeteilt in Parallele zur Erschaffung Evas. Das Zitat von Gen 2,24 unterstreicht den Bezug.

Trotz der kritischen Bemerkungen ist abschließend zu sagen: Der Kommentar von O'B. stellt einen wichtigen und wertvollen Beitrag zur Erforschung des Epheserbriefes dar. Gerade die Interpretation im Einzelnen gibt viele Anregungen, die das Verständnis des Eph erschließen.