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Ausgabe:

März/2001

Spalte:

281–283

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Ellis, E. Earle

Titel/Untertitel:

The Making of the New Testament Documents.

Verlag:

Leiden-Boston-Köln: Brill 1999. XXIII, 517 S. 1 Kte. gr.8 = Biblical Interpretation Series, 39. Geb. hfl 245.-. ISBN 90-04-11332-0.

Rezensent:

Andreas Lindemann

Das hier anzuzeigende Buch versteht sich als eine umfassende Infragestellung nahezu aller herkömmlichen Positionen im Zusammenhang der neutestamentlichen "Einleitungsfragen". E. will helfen, eine in der Forschung seit F. C. Baur beschrittene "Sackgasse, a blind alley" zu verlassen und stattdessen "provide a basis and stimulus from which a future history of early Christianity can be written, a history freed from the Hegelian captivity into which New Testament study was led over one hundred fifty years ago" (445; mit diesem Satz endet das Buch). Nicht nur die weithin übliche Datierung der Schriften des NT soll korrigiert werden, sondern generell die Vorstellung von den Abfassungsbedingungen der Evangelien und der Briefe. Der Band umfasst vier Kapitel (1-330), die im Folgenden ausführlich vorgestellt werden; hinzu kommen sechs als Aufsätze bereits früher publizierte "Appendices" zu Einzelfragen (333-445) sowie sehr ausführliche Register (447-517) und eine Karte des Römischen Reiches (um 64 n. Chr.).

Im ersten Kap. ("From Traditions to the New Testament", 1-47) geht E. von der These aus, dass die Evangelien als Darstellungen der "mission and message of the earthly Jesus" auch von Jesus her zu lesen seien (10); die unterschiedlichen Ergebnisse der Forschung sind für ihn Indizien für den falschen Ansatz sowohl der Zwei-Quellen-Theorie als auch der Datierung der Evangelien in die Zeit nach 70. Die altkirchlichen Zuweisungen der Evangelienverfasser an Begleiter der Apostel Jakobus, Petrus und Paulus besäßen ein hohes Maß an historischer Wahrscheinlichkeit, und umgekehrt zeigten die apostolischen Briefe breite Kenntnis der synoptischen Tradition; dass sie sie dennoch kaum zu zitieren brauchten, liege daran, dass ihre Adressaten ebenfalls damit vertraut waren und dass sie selber sich außerdem als "authorized representatives (shaluhim)" Jesu sahen, "whose teaching is thus his teaching" (35). Dass keiner der Evangelisten seinen Namen nenne, sei am einfachsten damit zu erklären "that he produced his work with the aid of colleagues" (38).

Im zweiten Kap. stellt E. seine Sicht der Abfassung ("Making") der neutestamentlichen Briefe dar (49-142). Hier ist seine entscheidende These, dass die Briefe zu einem hohen bzw. sehr hohen Anteil aus zitierter Tradition bestehen; ein Beispiel dafür, wie man sich deren Entstehung vorstellen könne, gebe das Aposteldekret in Apg 15 (64). Ergebnis: Die paulinischen Briefe sind, anders als Deißmann angenommen hatte, nicht "'letters' in the popular sense of the word", sondern "teaching pieces clothed in an adaptable letter-form" (116). E. berechnet den Anteil von Tradition mit einer definitiven Wortstatistik (z. B. Eph 54%, Tit 46 %, 1Thess 37 %, Röm 27 %, 1Kor 17 %, Phil 7%; 116; die beiden aus der "Jakobusmission" stammenden Briefe weisen sehr unterschiedliche Werte auf: Jak 12 %, Jud 72 %; 139). Da die im Umfeld der Missionen des Jakobus, Petrus (2Petr) und Johannes (Apk) zu beobachtenden Gegner starke Ähnlichkeit mit den Gegnern des Paulus aufwiesen, spreche dies für "a roughly contemporaneous origin of these letters". Das alles widerlege die auf Baur zurückgehende "current critical orthodoxy", die die Briefe unterschiedlich datiert habe; dieses diachronische Schema war tatsächlich "an artificial, unhistorical, philosophically driven construct of nineteenth-century criticism" (139).

Im dritten Kap. stellt E. "Traditions of the Johannine Mission" dar (143-237). Von einer johanneischen "Schule" sei schon deshalb nicht zu sprechen, weil es für das frühe Christentum ausschließlich "the school of Jesus" gegeben habe (150f.); Johannes und seine Mitarbeiter bildeten vielmehr "the Johannine mission-circle" (152). Ob Johannes Augenzeuge des Jesusgeschehens gewesen sei, könne offen bleiben; jedenfalls habe er ähnlich wie die Synoptiker in großem Umfang traditionelles Material benutzt, das in der johanneischen Mission verwendet worden sei (182). Es sei also ganz falsch, Joh und die Synoptiker voneinander zu trennen "even if John's Gospel was apparently published several decades later than the others" (183). Joh habe es nicht für nötig gehalten, von den synoptischen Evangelien und auch von den paulinischen Briefen Gebrauch zu machen, da "John's traditions are rooted as deeply in dominical bed-rock and apostolic authority as those of the other three missions"; Johannes "deliberately writes to supplement from his own testimony the witness of the other apostolic missions" (307). Die Apk sei mit großer Wahrscheinlichkeit in der Zeit zwischen 68 und 70 n. Chr. vom selben Autor wie Joh verfasst worden; die Differenzen zwischen den beiden Texten seien nicht als ein Gegenargument anzusehen, "for good minds and writers are not restricted to one style or genre" (216.222). Die im Joh verarbeiteten Traditionen stammten aus der frühen Jerusalemer Gemeinde und seien jahrzehntelang in der johanneischen Mission verwendet worden; möglicherweise habe es um 50/60 n. Chr. ein johanneisches "proto-Gospel" gegeben, doch sei das jetzt vorliegende Joh "a late product of the Apostle and his co-workers", und es sei, wenn man an Joh 21, 21-24 denke, "his and his mission's final and crowning achievement" (237).

Im abschließenden vierten Kap. (238-330) bietet E. eine Rekonstruktion der Geschichte des frühen Christentums für die Zeit von Jesu irdischer Mission (28-33 n. Chr.) bis zur Spanienmission des Paulus und seiner Rückkehr in den Osten in den Jahren 63-67 (Belege dafür seien Apg 1,8; 13,47; 1Clem 5,6 f. und die Petrusakten, 278-282) und zur Abfassung des Hebr (um 68/70 n. Chr.). In dieser Zeit seien alle neutestamentlichen Schriften verfasst worden, beginnend mit Gal (49 n. Chr.); aus späterer Zeit stammten nur die johanneischen Briefe (75/85 n.Chr.) und das Johannesevangelium (85/95 n. Chr.), wobei Joh 21,20-24 erkennen lasse, dass dieses Evangelium "was, in its canonical form, the last written document not only of the Johannine mission but also of our New Testament" (306). E. nimmt an, dass die vier Evangelisten generell die ihnen allen gemeinsame Tradition benutzt hätten; sie "and their missions were active in Palestine AD 58-60, and at that time three shared with Luke Gospel traditions then being read in the congregations of their respective missions" (311). Eine "fünfte Mission", "actually a subversive counter-mission", sei identisch mit den von allen vier Missionen bekämpften falschen Lehrern (316).

Die Annahme, es gebe im NT gleichsam "unschuldige", d. h. nicht als bewusste Fälschungen konzipierte pseudepigraphische Schriften, hält E. für unhistorisch; die Alte Kirche habe Pseudepigrapha ja aus dem Kanon ausgeschieden, eben weil sie als Fälschungen erkannt worden seien (324). Entscheidend sei die Erkenntnis, dass die Briefe nicht auf einen einzigen Verfasser zurückgeführt werden dürften; es habe vielmehr den Sekretär gegeben der, "at the author's instructions, served as an editor, co-author or composer", wobei ihm der Autor große Freiheiten eingeräumt habe. Urteile über die Verfasserschaft "based solely on internal literary criteria" seien deshalb fragwürdig, und wenn man überdies an den großen Anteil von Tradition in den Briefen denke, dann zeige sich, dass die Briefe "while sent under the apostle's name and authority, were the product of the corporate activity of a number of apostles and prophets"; das Problem der Verfasserschaft sei mithin viel differenzierter zu sehen als "the conservative or the liberal critical tradition realized" (326-328). Spätestens hier fragt man sich, ob also in Wahrheit alle neutestamentlichen Briefe faktisch als pseudepigraphisch anzusehen sind, wenn der im Präskript genannte Autor doch offenbar nur einen ganz geringen Anteil am vorliegenden Text hat.

Die sechs Appendices sollen z. T. Thesen aus der vorangegangenen Darstellung näher belegen oder ergänzende Aspekte einbringen. Themen sind (I) die Entstehung der (historisch weithin zuverlässigen) Erzähltexte in den Evangelien, (II) die Datierung des Mk (55-58 in Caesarea), (III) die Entstehung von Lk/Apg, (IV) Traditionen in den Past, (V) die (authentische paulinische) Weisung an die Ehefrauen in 1Kor 14,34-35 und (VI) eine kritische Darstellung F. C. Baurs und seiner Schule (daraus stammt die eingangs zitierte Aussage, 445).

E.s Buch hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck: Einerseits ist es durchaus nicht uninteressant, Alternativen zu den weithin geläufigen Thesen zur Entstehung der neutestamentlichen Schriften zu lesen; denn es kann ja tatsächlich die Gefahr bestehen, dass ein kritischer Konsens unterhinterfragt "orthodox" zu werden droht, wie E. nicht selten feststellt. Andererseits aber wünschte man sich eine sehr viel stärker von den Texten selber her exegetisch argumentierende Beweisführung und nicht eine meist thetisch verfahrende Darstellung der von vornherein als richtig vorausgesetzten Position. Die teilweise recht pauschalen Verweise auf ähnlich argumentierende Sekundärliteratur sind nicht wirklich überzeugend; und die Kritik an abweichenden Positionen erfolgt oft sehr apodiktisch. So fällt es schwer, das Buch als einen Beitrag zum offenen Gespräch über die von E. benannten Fragen zu lesen.