Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2001

Spalte:

278–281

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Dobbeler, Axel von

Titel/Untertitel:

Der Evangelist Philippus in der Geschichte des Urchristentums. Eine prosopographische Skizze.

Verlag:

Tübingen-Basel: Francke 2000. 345 S. 8 = Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter, 30. DM 98,-. ISBN 3-7720-2822-5.

Rezensent:

Hans-Martin Schenke

Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung einer aus der Schule von K. Berger hervorgegangenen Habilitationsschrift, die 1998 von der Theologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität zu Heidelberg angenommen worden war. Ihr Thema erklärt sich aus der Überzeugung des Vf.s, dass eine umfassende Arbeit über den Evangelisten Philippus und die ihre Zeugnisse tragende Philippustradition ein dringend zu behebendes Desiderat der gegenwärtigen Forschung sei. Wer aber nun denkt, dass diese Notwendigkeit in den zwei neuen Quellen, die dem Dossier der Philippus-Überlieferung durch das Evangelium des Philippus (NHC II,3) und den Brief des Petrus an Philippus (NHC VIII,2) hinzugewachsen sind, begründet ist, die aufzuarbeiten und in die Diskussion einzubeziehen wären (wie dies in einer [ungedruckten] Dissertation von C. R. Matthews für den englischen Sprachraum schon geschehen ist: Trajectories through the Philip Tradition, Harvard University, Cambridge, Mass., 1993), und erwartet, dass eben dies (in einer auf den gegenwärtigen Stand gebrachten deutschen Gestalt) in diesem Buch geschieht, der sieht sich sogleich getäuscht. Diese beiden NH-Texte werden nur einmal beiläufig in einer Anmerkung unter dem Gesichtspunkt erwähnt, dass "Philippus auch in gnostischen Kreisen eine gewisse Bedeutung gehabt haben dürfte" (147). Wie immer es sich erklären mag, dass die Relevanz dieser Texte für sein Thema dem Autor gar nicht erst in den Horizont seines Bewusstseins getreten ist - es besteht wohl ein Zusammenhang damit, dass in seinem Literaturverzeichnis (318) nur die 4. Aufl. von Hennecke/Schneemelcher erscheint, während beide Schriften erst von der 5. Aufl. (1987/1989) an voll aufgenommen sind und da auch ausführlich in ihrem Wert für die Philippustradition diskutiert werden. Auch an einem Einzelpunkt, nämlich bei der Diskussion der Bedeutung des Philippus-Titels evangelistes (222-232), hätte die Einbeziehung des Belegs aus einer NH-Schrift von Nutzen sein können (AuthLog, NHC VI,3, p. 35,6).

Wenn man aber nun das Buch doch nicht gleich enttäuscht beiseite legt, sondern anfängt zu lesen, fühlt man sich, nach einiger Zeit des Einlesens, reich belohnt. Denn, wenngleich der Autor nur mit dem alten, wohlbekannten Quellenmaterial und der Fülle der auf ihm aufbauenden und einander überlagernden oder sich gegenseitig ausschließenden Deutungen desselben arbeitet (in diesem "Dschungel von Möglichkeiten", wie er selbst sagt [266]), kann er sich doch, in aller Vorsicht, wie er immer wieder hervorhebt, durch etwas andere Betonungen oder auch andere Verknüpfungen der schon vorhandenen Fäden bzw. durch Erprobung von bisher noch gar nicht gesehenen exegetischen Möglichkeiten so in die exegetische Diskussion einbringen, dass sich ihm tatsächlich ein eindrucksvolles neuartiges Philippus-Bild ergibt. In diesem mit unterschiedlichen "Tempi" durchgeführten sic et non begegnen übrigens auch viele an- oder aufregende und zum Teil ungewohnte Aspekte, Thesen oder Ideen, sei es, dass sie nur genannt sind, sei es, dass sie akzeptiert und eingebaut werden. So erfährt z. B. der Simon Magus von Apg 8,4-25, der ja im Grunde nicht mehr "zaubert", als es Philippus auch tut, insofern eine Art von Gerechtigkeit, als er zu dem konkurrierenden Vertreter eines (noch) frühe(re)n samaritanischen Christentums gemacht wird (Berger-Schule). Leider erfährt man nicht, ob diese Auffassung impliziert, dass auch Simon selbst schon ein Täufer war. Natürlich wird zum Unterbau auch auf traditionelle Fundamente zurückgegriffen. Das geschieht z. B. im Falle der Übernahme von zwei wahren "Bänken" der exegetischen communis opinio (die ich persönlich noch nie akzeptieren konnte), nämlich einerseits, dass Apg 8,1 eine wirkliche Verfolgung in Jerusalem im Zusammenhang mit der Steinigung des Stephanus bezeuge, die aber nur die Hellenisten betroffen hätte, und andererseits, dass Lukas auch damit recht habe, dass die andres Kyprioi kai Kyrenaioi von Apg 11,20 zu derselben Gruppe der Jerusalemer Hellenisten gehört hätten. Das passt eigentlich auch gar nicht zu der vielfach zum Ausdruck kommenden Grundüberzeugung des Autors von der unüberschaubaren Vielfalt bei den Anfängen des Christentums, wie er das besonders bei dem Thema der Taufe dann ausführt. Der Vf. nimmt die Texte beim Wort, hat dabei den exegetischen Blick für das Wesentliche und vermag die Dinge im Zusammenhang zu sehen und darzustellen. Dabei führt seine erstaunlich flexible Sprache allerdings gelegentlich in den Grenzbereich des Realen; so z. B. wenn er bei der Deutung der pneumatischen Translokation, wie sie Philippus nach Apg 8,39 erfährt, mit geradezu beschwörenden Worten vor einer rationalistischen Deutung warnt (z. B. 179), obgleich seine eigene doch eine eben solche ist.

Da nun die behandelten Texte die üblichen sind, glaube ich hier auf ihre Nennung und die Angabe der Reihenfolge ihrer Erörterung verzichten zu dürfen. Und da der Vf. sein Ergebnis selbst auf S. 305-313 ("Ergebnis und Ausblick") wunderbar zusammenfasst, verweise ich die potentiellen Leser einfach auf diese Seiten, die ihnen sicher Lust machen werden, das Ganze zu lesen, um meinerseits nur einige Aspekte herauszuheben, besonders solche, über die ich mit dem Autor ins Gespräch kommen möchte. Es ergeben sich dem Vf. vier Phasen der Wirksamkeit des Philippus: "die Jerusalemer Zeit als Mitglied des Siebenergremiums, die Zeit der Wandermission in Samaria und der Küstenebene, die Leitung eines charismatisch-prophetischen Zentrums in Cäsarea und schließlich die letzten Jahre in Hierapolis" (305 [die Möglichkeit, dass das Siebenergremium historisch überhaupt nicht nach Jerusalem gehört, sondern die Leitung der frühen Christenheit von Cäsarea war, wonach die ersten drei Phasen dann gar kein Nacheinander sein müßten, findet sich nicht erwogen]). Für Philippus und die anderen Vertreter des Siebenerkreises sei "die Verbindung von charismatisch-prophetischem Wirken, praktischer Diakonie und Gemeindeleitung kennzeichnend" gewesen (305). "Der ,Dienst an den Tischen' hatte für diese Gruppe geradezu konstitutive Bedeutung" (305).

Die zwei besonderen Punkte aber, auf die ich nun "lossteuern" möchte, sind einerseits, dass der Autor immer wieder auf die Beziehung der Philippus-Gestalt der Apg zu der Jesus-Gestalt des MkEv hinweist, die somit den Philippus in der Kontinuität des Wirkens Jesu agierend erscheinen lässt, andererseits die Betonung der Rolle einer bestimmten Form der Taufe, die für die Mission des Philippus typisch gewesen sei. Für "das Taufverständnis des Philippus" habe "die ,Anrufung des Namens des Herrn' als Abschluss der Exhomologese wesentliche Bedeutung gehabt". "Die Taufe, in der Missionspraxis des Evangelisten ein konstitutives Element, wurde offenbar - entsprechend dem Taufverständnis Johannes des Täufers - als eine Bußtaufe zur Vergebung der Sünden verstanden. Die Taufpraxis deutet auf den Exodus als Bezugsrahmen und damit auf die Aspekte des Schutzes, der Reinigung und der Bindung der Täuflinge an den Täufer. Als reine Wassertaufe ohne Geistmitteilung stand die Philippustaufe in der Nähe zu Taufformen, wie wir sie für Ephesus und Damaskus vermutet haben" (309). An diesen beiden Punkten erzeugt das Buch nämlich eine Spannung wie ein Kriminalroman. Hinsichtlich des ersten Punktes erreicht die Spannung ihren Höhepunkt bei der Erörterung des alten Problems, ob es denn wirklich zwei Männer mit dem Namen Philippus gegeben habe, die die Kirchenväter dann zusammengeworfen hätten, oder doch nur einen, den Lukas aus Versehen "zweigeteilt" habe (283-303: "Der Philippus der Zwölf und der Philippus der Sieben"). Man zittert beim Lesen in der Hoffnung, dass der Autor nun endlich einen "Punkt auf dem i" machen möge, um ihn dann doch sich davor scheuen zu sehen. Er entscheidet sich schließlich für eine vorsichtigere Variante, und zwar ganz in Entsprechung zu seiner alles Vorhergehende ja tragenden Auffassung von der relativen Zuverlässigkeit der lukanischen Informationen über Philippus, in deren Rahmen er sich um die Entwicklung eines Verständnisses bemüht hatte, "das weder der Gefahr der unkritischen Benutzung der Apg als historischer Quelle noch der Gefahr eines Hyperkritizismus erliegt, der sich nur einer Sache sicher ist, dass nämlich das, was uns die Texte sagen, auf gar keinen Fall den historischen Gegebenheiten entspricht" (266). Der Autor ist aber in Wirklichkeit hier in einer Zwickmühle. Denn seine Auffassung von der Kontinuität der Wirksamkeit Jesu, in der Philippus (real und im Bilde) steht, würde ja erst wirklich rund, wenn der spätere Evangelist ehemals ein direkter Jünger Jesu gewesen wäre.

Die Spannung bei dem anderen Punkt wird dadurch erzeugt, dass der Leser darauf wartet, dass irgendwann erklärt wird, wie es eigentlich dazu kommen konnte, dass es im frühen Christentum neben der "eigentlichen" christlichen Taufe, die auch den Geist verleiht, noch diese "geistlose" Taufe in Entsprechung zu der Johannestaufe gab. Aber eine solche Erklärung gibt es nicht. Und so scheint irgendwie der Schlussstein des Gebäudes zu fehlen. Und der Leser muss sich wohl nun selbst seinen Vers darauf machen. Es gibt aber m. E. nur eine Lösung, und die besteht in der einfachen Annahme, dass das 4. Evangelium darin die historische Wahrheit widerspiegelt, dass Jesus selbst die Johannestaufe übernommen und bis zu seinem Tode weiterpraktiziert hat, also auch selbst ein Täufer war. Entprechend hätte es also Jesusjünger gegeben, die auch nach Ostern Jesu Taufpraxis fortgesetzt hätten, während andere auf Grund der Ostererfahrungen dieser Taufe eine neue Deutung und eine neue Form gegeben hätten. Übrigens ist mir die von dem Vf. des hier besprochenen Buches so klar herausgearbeitete Rolle des Evangelisten Philippus als eines gerade für seine Taufe bekannten Missionars auch deswegen so interessant und wichtig, weil das Thema des oben (als vermisst) genannten Philippus-Evangeliums eben die Taufe ist und dieses sich (auch) damit als echtes Glied der Philippus-Tradition zu erweisen scheint.