Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2001

Spalte:

260 f

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Fokkelman, Jan

Titel/Untertitel:

Reading Biblical Narrative. A Practical Guide. Transl. by I. Smit.

Verlag:

Leiden: Deo 1999. 216 S. 8 = Tools for Biblical Study, 2. Pp. hfl 80.-. ISBN 90-5854-001-4.

Rezensent:

Eckart Reinmuth

Erzähltexte zu lesen bedeutet, dem Gelesenen einen Sinn beizumessen. Einen Sinn in einem Text zu entdecken, einen Sinn zu konstruieren - der Verdacht, dass mit solchem Anspruch aller Willkür Tor und Tür geöffnet seien, liegt irritierend nahe und wird kritisch geäußert. Freilich - ein Blick auf die Rezeptionsgeschichte biblischer Texte bestätigt es - nichts konnte je die Texte gegen willkürliche Vereinnahmungen, Instrumentalisierungen, widersinnige Verdrehungen schützen. Das wird so bleiben. Auch die erzähltextanalytische Interpretation biblischer Texte tritt nicht mit dem Anspruch auf, einen ,objektiven' oder ursprünglichen Sinn der Texte zu eruieren - sie realisiert vielmehr die uneinholbare Andersartigkeit ihrer produktiven und rezeptiven Ursprünge, und sie reflektiert die Bedingungen des eigenen Standortes, ihre Kriterien und Geltungsansprüche. Sie baut nicht auf ,den' richtigen Sinn eines Textes, sondern auf die Internalisierbarkeit und Überzeugungskraft reflektierender und konnektiver (den Textzusammenhang stets beachtender) Lektüre. Dem anzuzeigenden Buch gelingt es in überzeugender Weise, diese Perspektiven deutlich zu machen. Jan Fokkelman, Semitist und Alttestamentler in Leiden, ist bereits vor 25 Jahren mit einer Studie zur Erzählkunst in der Genesis hervorgetreten und hat seitdem profunde narratologische Studien zur Hebräischen Bibel vorgelegt. Die vorliegende ,praktische Anleitung' (zuerst 1995 in den Niederlanden erschienen) ist auch für interessierte Laien brauchbar. Sie ist flüssig geschrieben und verzichtet auf Anmerkungsapparat und Register sowie explizite Bezüge auf andere Fachliteratur (nur nebenher werden die Namen Ricur [23] und Greimas [195] genannt); einige kommentierte Literaturhinweise sollen die selbständige Weiterarbeit befördern (209 ff.). Überhaupt ist die eigenständige Mitarbeit und Weiterarbeit der Leser ein klares Ziel des Vf.s. Das wird einerseits deutlich an seinem erfolgreichen Bemühen, wesentliche narratologische Voraussetzungen zu elementarisieren, andererseits an der Sorgfalt, mit der sinnvolle Frageperspektiven gegenüber den Texten erarbeitet und begründet werden. Das Buch endet denn auch mit "ten productive questions" (207 ff.), die der eigenen Lektüre auf den Weg gegeben werden. Gleichsam als Appendix sind in Form eines Überblicks "the next 110 stories" angehängt (212-216); mit diesen Strukturvorschlägen zu einigen alttestamentlichen Erzählkomplexen ist dem eigenständigen Studium dieser und weiterer Texte ein sinnvolles Hilfsmittel an die Hand gegeben.

Das Buch ist in 12 Kapitel unterteilt, in denen Grundzüge einer narratologischen Lektüre alttestamentlicher Erzähltexte entwickelt werden. Nach einer Einführung, in der Probleme von Sprache und Zeit als die zwei grundsätzlichen Komponenten reflektierender Lektüre skizziert werden, wendet sich der Leitfaden dem Erzähler und seinem Verhältnis zu den Erzählfiguren zu. Es folgen Überlegungen und exemplarische Analysen zu komplexen Themen wie Handlungsführung, Erzählstruktur, Wiederholung (Dialektik von Ähnlichkeit und Unterschiedenheit als Gestaltungsmittel biblischen Erzählens), Erzählperspektive, größere Erzähleinheiten (Zyklen, Bücher), Verbindung von Prosa und Poesie in Erzähltexten. F.s Buch ist indessen keine theorielastige Einführung in die Erzähltheorie, sondern ein stets an konkreten biblischen Texten entwickeltes kleines narratologisches Kompendium. Das Prinzip der konkreten Textarbeit beginnt gleichsam mit der ersten Seite (2Kön 4,1-7); es wird sodann auf die Basis 12 exemplarischer Geschichten gestellt (sie werden S. 47-54 knapp skizziert), auf die im weiterenVerlauf immer wieder zurückgegriffen wird. Spätestens hier muss leider die wesentliche Beschränkung auf alttestamentliche Erzähltexte kritisch angefragt werden. Der Abschnitt zum Neuen Testament (188-205) - er ist in der Sache auf das Lukasevangelium beschränkt - wirkt in mehrfacher Hinsicht merkwürdig. Es könnte z. B. scheinen, als habe das Neue Testament an ,lohnenden' und den Erzähltexten der hebräischen Bibel gleichrangigen Erzählungen lediglich das Lukasevangelium zu bieten (dieser Eindruck wird durch die - zutreffende - Betonung seiner biblischen Prägung noch verstärkt; vgl. bes. 189-192: Luke and the Hebrew Bible). Das wäre - wiederum in mehrfachem Sinne - falsch und würde die Eigenart neutestamentlicher Erzählkunst nicht zu ihrem Recht kommen lassen. Für mich wäre das Buch ohne den neutestamentlichen Teil überzeugender; zumindest sollte m. E. die sachliche Beschränkung auf Erzähltexte der hebräischen Bibel auch im Buchtitel kenntlich gemacht werden. Diese Kritik mindert indessen nicht die wesentlichen Vorzüge dieses Buches. Hier ist einer breiten Leserschaft ein Hilfsmittel an die Hand gegeben, das zu einer unvoreingenommenen und spannenden Lektüre biblischer Erzähltexte führen kann.