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Ausgabe:

Februar/2001

Spalte:

220–223

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Witschke, Reinhard [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Diakonie bewegt. 150 Jahre Innere Mission und Diakonie im Rheinland.

Verlag:

Köln: Rheinland-Verlag GmbH 1999. XVIII, 659 S. gr. 8 = Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, 140. Geb. DM 40,-. ISBN 3-7927-1791-3

Rezensent:

Jan Hermelink

Im Anschluss an J. H. Wicherns Initiativen zur Profilierung der "Inneren Mission" wurde 1848/49 auch in der preußischen Rheinprovinz ein "Provinzialausschuss für innere Mission" gegründet, der die mannigfachen Vereine und Anstalten der "christlichen Nächstenliebe" koordinieren und weitere Aktivitäten anregen sollte. Anlässlich des 150. Gründungsjubiläums hat der Nachfolger des Provinzialausschusses, das Diakonische Werk der Evang. Kirche im Rheinland, eine umfängliche Festschrift vorgelegt. Ihr Untertitel führt insofern in die Irre, als hier weniger einzelne Institutionen oder Arbeitsgebiete der Diakonie dargestellt werden. Es ist vornehmlich die Geschichte ihres Dachverbandes, die der Band zum Thema macht, und dies im Wesentlichen nur bis 1963, als Innere Mission und Hilfswerk auch im Rheinland fusionierten.

Der Band enthält ca. dreißig Beiträge und ist in vier Teile gegliedert. Dazu kommen ein statistischer Anhang und ein ausführliches Register.

Im Teil I wird die "Geschichtliche Entwicklung" des Provinzialausschusses in fünf chronologisch geordneten Beiträgen skizziert (1161). Elsbeth Lohbeck beschreibt die "Gründungsphase" bis 1871 anhand der Satzungen und Jahresberichte; Aktivitäten und Initiativen des Ausschusses werden übersichtlich benannt.- Dietrich Höroldts Darstellung bis 1914 zeichnet interne Diskussionen nach und stößt bis in interessante Details der Finanzierung vor. Der gesamtkirchliche, auch der sozialgeschichtliche Kontext kommt stärker in den Blick. - Für die Zeit bis 1933 stellt Kurt A. Holz vor allem seine politikhistorische Belesenheit unter Beweis. Die kirchliche Situation kommt auf wenigen Seiten, die rheinische Diakonie nur anhand von drei (!) Jahresberichten zur Sprache. - Günther van Norden beschreibt aus guter Quellenkenntnis das Lavieren der Funktionäre, seit 1933, zwischen betonter "Volksverbundenheit" (99) und bleibender Kirchlichkeit der Inneren Mission, und damit "zwischen Selbstsicherung und Resistenz" (104). Die Auseinandersetzungen um Zwangssterilisierung und schließlich "Ausmerzung" von Pfleglingen werden differenziert nachgezeichnet. - Rudolf Mohr führt die Kompetenzstreitigkeiten der Nachkriegsdiakonie vor Augen. E. Gerstenmaier und sein "Hilfswerk" werden ausführlich gewürdigt, das Rheinland tritt in den Hintergrund.

Ein II. Teil gibt "Thematische Einblicke" in die Geschichte des Provinzialvereins (163-354). Ferdinand Magen geht detailfreudig auf die "Reiseprediger der rheinischen Inneren Mission" ein. Gleichwohl wird die Aufgabenverschiebung dieses Amtes, von missionarischer Arbeit in der Diaspora und bei Wanderarbeitern über Austausch von Informationen und Anregungen zu sozialen Notlagen bis zur Geschäftsführung des Provinzialausschusses, nur implizit deutlich. Umfassend und durchaus kritisch skizziert Ruth Felgentreff das Verhältnis des - exklusiv männlich besetzten - Ausschusses zu den diakonischen Schwesternschaften. Hinsichtlich der "Rolle der Vereine und Verbände" kommt Ursula Freese dagegen über eine Aufzählung und Statistiken nicht hinaus. Roland Rosenstock bietet einen guten Überblick zur "Publizistik der Diakonie", der die rheinischen Aktivitäten eher kursorisch schildert. Günter Ruddats Beitrag zu den Anfängen der Religionspädagogik für "blödsinnige" Kinder in Hephata/Mönchengladbach ist ohne gute Kenntnis des diakonischen und pädagogischen Kontextes der Zeit schwer verständlich. Zu den historisch-thematischen Studien gehört auch der knappe, in Teil IV eingeordnete Beitrag von Helmut Seifert über die satzungsrechtliche Entwicklung des Ausschusses.

Zwischen "geschichtlichen" (I) und "thematischen" (II) Beiträgen finden sich zahlreiche inhaltliche Überschneidungen (etwa zu den Reisepredigern/Agenten, zur Publizistik oder zu Anstaltsgründungen), die eine energische Redaktion hätte tilgen können.

Im Überblick über die genannten Beiträge zeigt sich weiterhin die sachliche Schwierigkeit, den rheinischen Dachverband in seinem doppelten Kontext zu würdigen: im Horizont der politischen, kirchlichen und diakonischen Geschichte Gesamtdeutschlands sowie im Bezug auf die ungezählten Institutionen praktisch-diakonischer Arbeit vor Ort. Neben van Norden (zum III. Reich) ist eine solche Profilierung der Ausschussarbeit vor allem Dietrich Meyer gelungen, der für 1849-1933 das komplexe Verhältnis zur "verfassten Kirche" nachzeichnet. An instruktiven Beispielen werden die unterschiedlichen Haltungen zur Inneren Mission in Kirchenkreisen, in der Provinzialsynode und im Konsistorium skizziert. Höchst aufschlussreich ist sodann Volkmar Wittmütz' Untersuchung zum - durch die Erweckung geprägten - Honoratiorenmilieu des niederbergischen Städtchens Langenberg, in dem der Provinzial- bzw. Landesausschuss bis 1966 seinen Sitz hatte. Eindrücklich wird dargestellt, wie Mitglieder und Vorsitzende des Ausschusses aus den Langenberger Kaufmanns- und Fabrikantenfamilien ihre Finanzkraft und Organisationserfahrung, aber auch ihre nationalkonservative Gesinnung in die Arbeit einbrachten.

Den III. Teil des Bandes bilden zwölf "Lebensbilder - Leitbilder". Die Auswahl, unter ihnen fünf Frauen, ist "etwas zufällig", wie der Herausgeber selbst bemerkt (XII). Sie reicht von Wilhelmine Bräm, deren Ehemann Andreas 1845 den Neukirchener Erziehungsverein gründete, über Leiter einzelner Anstalten, über Vorsteherinnen und Mitglieder von Schwesternschaften bis zu leitenden Funktionären des Verbandes in der Nachkriegszeit. Die persönliche Erinnerung, aus der einige Beiträge geschrieben sind, kann plastische Detaileinsicht erbringen (479), mitunter verstärkt sie hagiographische Tendenzen.

Hervorzuheben ist zum einen Georg Becks "Versuch über das Leben des Mannes Otto Ohl", der die Geschäfte des Ausschusses über vierzig Jahre führte. Leider bricht die reflektierte, sozialgeschichtlich scharfsichtige Schilderung bereits mit dem Theologiestudium Ohls ab - eine Fortführung "an anderer Stelle" wird angekündigt (399*). Ergänzend hat Henning Theurich (in Teil II) drei Festpredigten Ohls vorgestellt und knapp kommentiert. - Zum anderen verfolgt Ruth Felgentreff den "besonderen Lebensweg zweier Kaiserswerther Diakonissen", der aus einer jüdischen Familie stammenden Schwestern Johanne und Erna Aufricht. Präzise und einfühlsam wird geschildert, wie es trotz hinhaltenden Widerstandes der Kaiserswerther Leitung 1942 zur Deportation der Schwestern nach Theresienstadt kam. Anhand von Tagebuchaufzeichnungen wird ihr weiterer Weg sichtbar: Erna starb 1944 in Auschwitz; Johanne überlebte und kehrte nach Kaiserswerth zurück.

Felgentreff fragt - wie van Norden - differenziert nach Verantwortung und Schuld des kirchlich-diakonischen Handelns im III. Reich. Hier wird gezeigt, wie angemessen die Diakonie sich ihrer Geschichte stellen kann. Erhellend für diesen Aspekt sind auch die Beiträge über den Leiter der Aprather Diakonie, Paul Erfurth, der offen mit dem Nationalsozialismus sympathisierte, und über Hans Helmich, der sich in Hephata vergeblich der Ermordung Behinderter entgegenstellte und sich nach dem Krieg offen zu einer Mitschuld bekannte (473-476). Die Biographin von Elisabeth Jaeger, 1932 bis 1968 Vorsteherin der Kreuznacher Diakonissen, widmet jener unausweichlichen Verstrickung dagegen nur wenige, formelhafte Sätze (371 f.).

Was ist, über die Mahnung "wider das Vergessen" (Felgentreff, 396) hinaus, für die aktuelle praktisch-theologische Verantwortung aus dieser diakonischen Regionalgeschichte zu lernen? Der relativ knappe Teil IV "Herausforderungen der Diakonie heute" (513-601) gibt faktisch eine positive und eine negative Antwort.

Moritz Linzbach beschreibt die "rechtliche Verbandsarbeit" im rheinischen Diakonischen Werk 1978-1998. Anhand einer Fülle von Themen macht er die Bedeutung einer Dachorganisation deutlich, die "alle örtlichen Ebenen" und "alle Typen von diakonisch-missionarischen Einrichtungen" verbindet (527), daraus "entscheidungserhebliche Sachverhalte destillieren" und "ihnen Durchsetzung verleihen" kann (546 f.). Dass die Lage der Diakonie gerade in diesem juristischen Beitrag präzise reflektiert wird, auch mit Grundsatzüberlegungen zum kirchlichen Selbstbestimmungsrecht (532 f.547 ff.), zeigt die Bedeutung einer institutionstheoretischen Reflexion des diakonischen Handelns. Auch die historischen Beiträge lassen als entscheidendes Dauerthema der Inneren Mission ihr institutionelles Verhältnis zur Kirche, zum Staat und (zunehmend) zur Öffentlichkeit erkennen - wobei jede dieser Größen sich in unterschiedliche Ebenen ausdifferenziert.

Eine solche strukturelle Reflexion der Diakonie wäre komplementär zu ergänzen durch die Frage, wie die Biographie einzelner Personen jene Institutionen geprägt hat. Auch für diese subjektive Fragestellung bietet der vorliegende Band reiches, freilich kaum ausgewertetes Material - etwa durch den Hinweis auf die Langenberger Unternehmerfamilie Colsman (Wittmütz, 272 ff.276 ff. u. ö.). Hier war die ökonomische Dimension in der Diakonie schon lange vor den aktuellen Debatten präsent!

Zu den juristischen Beiträgen kommen im IV. Teil zwei theologische Betrachtungen: eine Festpredigt von Wolfram Fröhlich, deren Abdruck weder durch ihre thematische Ausrichtung noch durch ihre inhaltliche Qualität gerechtfertigt ist, und ein resümierender Beitrag des Herausgebers zum Verhältnis von "angewandter Rechtfertigung" und sozialer Gerechtigkeit. Er präsentiert sich als eine kaum geordnete Zusammenstellung von diakonietheologischen Gemeinplätzen und knappen Skizzen aktueller Arbeitsfelder und Herausforderungen.

Dass die theologischen Ausführungen zu den schwächsten Texten des Bandes gehören, verweist auf ein Grundproblem der diakonischen Handlungstheorie: Das in der Diakonie verbreitete, eher erbauliche als reflexive theologische Reden vermag jene institutionell und personal komplexe Wirklichkeit offenbar nicht zureichend zu erfassen oder gar zu orientieren. Dieses Defizit lassen auch die historischen Untersuchungen erkennen: An kaum einer Stelle vermögen sie von einer theologische Reflexion der Arbeit des Provinzialausschusses zu berichten. In diesem Horizont klingt eine Einsicht von Karl-Wilhelm Gattwinkel, dem ehemaligen Direktor des rheinischen Diakonischen Werkes, geradezu selbstkritisch: "Vieles, was in den letzten Jahren veröffentlicht worden ist, erscheint mir wie eine Selbstbefriedigung mit Worten, die nach außen keinerlei Wirkung hat." (458)