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Ausgabe:

Februar/2001

Spalte:

218–220

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schwier, Helmut

Titel/Untertitel:

Die Erneuerung der Agende. Zur Entstehung und Konzeption des "Evangelischen Gottesdienstbuches".

Verlag:

Hannover: Lutherisches Verlagshaus 2000. IX, 581 S. 8 = Leiturgia, NF 3. DM 39,80. ISBN 3-7859-0808-3.

Rezensent:

Jörg Neijenhuis

Der Vf. legt mit diesem Buch eine Darstellung der Entstehung und Konzeption des seit 1999/2000 in Gebrauch genomme- nen neuen Evangelischen Gottesdienstbuches der EKU und VELKD vor. Die Untersuchung des vorrangig auf den sonntäglichen Gottesdienst zielenden Agenden- und Gottesdienstreformprozesses, der sich über viele Jahre hin erstreckte, stützt sich in erster Linie auf Archivmaterialien, die z. T. noch nicht öffentlich zugänglich sind, und darüber hinaus auf in Privatbesitz befindliche Unterlagen. Außerdem wurden Personen befragt, die an diesem Reformprozess beteiligt waren.

Diese erstmalige Auswertung all dieser Materialien hat dem Vf. eine gewisse Zurückhaltung in der Beschreibung und ggf. auch Wertung abgenötigt, da der Schutz lebender Personen zu gewährleisten war. Neben der Auswertung der Materialen bietet der Vf. eine Reflexion, welche die Schwächen und Stärken des Evangelischen Gottesdienstbuches, z. B. der Konzeption für diese neuartige Agende, der Erarbeitung von Texten etc., hervorhebt und mit Blick auf das nun vorliegende Ergebnis erhellend ist. Insbesondere für jene, die mit dieser neuen Agende arbeiten und sich dabei über die eine oder andere Sonderbarkeit wundern, dürften die Überlegungen des Vf.s interessant sein. Denn hier finden sich einerseits Erklärungen, wie es zu gewissen Entscheidungen gekommen ist, andererseits bietet der Vf. für solche Fälle weiterführende und anregende Überlegungen an. Zum Schluss seiner Untersuchung legt er Perspektiven vor, wie- die Stärken und Schwächen aufnehmend - auch nach Erscheinen dieser Agende zum Thema Gottesdienst weitergearbeitet werden könnte.

Der Vf. setzt beim sog. Strukturpapier ein, mit dem 1974 die Konzeption für eine zu erneuernde Agende vorlag. Er untersucht es auf seine Vorgeschichte und Entstehung, seinen Inhalt und seine Wirkungsgeschichte und stellt heraus, dass das Strukturpapier ein heuristisches Modell ist, mit dem konvergente Liturgietraditionen zu erkennen sind. Die so gewonnenen Kenntnisse sollten in den Erarbeitungsprozess der neuen Agende einfließen und damit für die Gottesdienstgestaltung fruchtbar gemacht werden. Doch das Strukturpapier wurde recht unterschiedlich rezipiert - z. T. ist es offenbar nicht verstanden worden oder wurde gar ignoriert. Deshalb stellt der Vf. die Überlegung an, ob ein Theoriemodell, das der gesamten Kommissionsarbeit vorausgesetzt worden wäre, die sich dort einstellende Begriffsverwirrung hätte vermeiden helfen können. Denn schon über den Begriff "Struktur" wurde keine Einhelligkeit erzielt, so dass anschließend die Vorschläge für Liturgien und Texte in ihrer Qualität entsprechend unterschiedlich ausfallen. Die schließlich über Liturgien und Texte gefällten Entscheidungen spiegeln die fehlende Einhelligkeit wider. Um der Unbestimmtheit vieler Begriffe zu entgehen, führt der Vf. seinerseits nun eigene Begriffe ein - was für die klare Darstellung des Gegenstandes verständlich ist und sich als nützlich erweist. Aber dabei bleibt doch die Frage ungeklärt, ob nicht mancher Wechsel und manche Unbestimmtheit der Begriffe während der Agendenerarbeitung einen Inhaltswechsel anzeigen und eine Unschärfe der Begriffe von vornherein intendiert wurde.

Im Anschluss an diese Grundlegung stellt der Vf. den Erarbeitungsprozess chronologisch dar von der Konstituierung der "Arbeitsgruppe Erneuerte Agende" 1980 bis hin zum Erscheinen des Vorentwurfs der Erneuerten Agende 1990, und von der darauf folgenden Neukonstituierung der Arbeitsgruppe bis hin zur Synodenvorlage, dem sog. Entwurf der Erneuerten Agende 1997/1998, und dem daraus hervorgegangenen Evangelischen Gottesdienstbuch.

So werden die ersten Vorschläge für die Erneuerung der Agende dargelegt, wobei der Vf. dem Lesenden an dieser wie an vielen anderen Stellen seiner Untersuchung das Erfassen der oftmals unterschiedlichen Vorschläge für Liturgien und Strukturen erleichtert, indem er graphische Übersichten einfügt. Des Weiteren legt der Vf. dar, wie die Arbeitsgruppe die Vorschläge so weit miteinander in Einklang brachte, dass mit dem Kompromiss weitergearbeitet werden konnte. Neben solchen Kontroversen hebt der Vf. hervor, dass in der zweiten Phase nach 1990 weitere Defizite immer deutlicher in den Vordergrund traten, die gar nichts mit dem Strukturgedanken zu tun hatten: Z. B. wurden Frauen während der ersten Phase der Erarbeitung nicht einbezogen, auch Ergebnisse des christlich-jüdischen Dialogs waren nicht berücksichtigt worden. Die Strukturfrage taucht wieder - wenn auch nur am Rande - bei der Auseinandersetzung um die im Vorentwurf enthaltenen Eucharistiegebete auf.

Neben der internen Arbeit der Arbeitsgruppe Erneuerte Agende finden auch die auf Grund von Veröffentlichungen erfolgten Reaktionen von Kirchenleitungen sowie der sich zu diesem Thema ausbildende wissenschaftliche Diskurs einen breiten Raum sowohl in der Darstellung der Äußerungen als auch in der durch den Vf. vorgelegten eigenen Reflexion. Er zeigt dabei auf, inwiefern sich die publizierten Kritiken und die offiziell eingereichten Stellungnahmen auf die Arbeit der Kommission ausgewirkt haben.

Dabei gibt sich der Vf. als Befürworter des Strukturpapiers zu erkennen, das die verschiedenen evangelischen Gottesdiensttraditionen aufeinander beziehen will, um so zumindest zu einer Konvergenz, wenn nicht gar zu einer Integration unterschiedlicher Traditionen zu kommen. Der Vf. ist in seiner Reflexion bemüht, den Kurs des Strukturpapiers aufzunehmen und ggf. die Defizite des Reformprozesses aufzuarbeiten. Seine Intention ist an seiner Einschätzung des Strukturgedankens zu erkennen: Er plädiert "für einen Verbund inhaltlicher und struktureller Überlegungen mit einem regulativ-dialogischen Status" (157, wieder aufgenommen 517 ff.). Deutlich kommt diese Absicht zum Ende der Untersuchung zum Ausdruck, wenn er die Kriterien, die von der Arbeitsgruppe selbst entwickelt wurden, auf die erneuerte Agende anwendet, die die Arbeitsgruppe als Ergebnis vorgelegt hat, und die unterschiedliche Umsetzung feststellt. Er nimmt daraufhin die in der Arbeitsgruppe nicht zu Ende geführte Debatte um ein Leitkriterium auf und formuliert dieses seinerseits: "Evangelischer Gottesdienst bleibt in der Vielfalt seiner Feiergestalten ausgerichtet auf die Einheit des christlichen Gottesdienstes, die im Gefüge von Sammlung, Wortteil, Mahlgemeinschaft und Sendung aufbewahrt und repräsentiert wird und in der Doxologie des dreieinen Gottes konzentriert zum Ausdruck gelangt." (525) Der Vf. fügt eine Erläuterung an, wie sie sich im Gottesdienstbuch ebenfalls zu den dort aufgeführten sieben Kriterien findet. Dabei hebt er hervor, dass der evangelische Gottesdienst der lutherischen und unierten Kirchen anhand der beiden Grundformen der Messe und des Predigtgottesdienstes in vielfältigen Gestaltungen gefeiert werden kann. Nun fragt sich der Lesende allerdings, ob denn auch die Mahlgemeinschaft als ein Element des Predigtgottesdienstes gelten soll. In der Beantwortung dieser von ihm selbst aufgeworfenen Frage erweist der Vf. seine meisterliche Beherrschung des inaugurierten Strukturgedankens des Strukturpapiers, der auf Konvergenz und Integration zielt: Zwar ist es erstrebenswert angesichts ökumenischer Praxis, die Notwendigkeit sonntäglicher Abendmahlsfeier hervorzuheben, gleichwohl kann aber die Gültigkeit des Predigtgottesdienstes, der auch als abendmahlslose Messe verstanden werden könnte, nicht bestritten werden - zumal das Gottesdienstbuch es ermöglicht, eine Abendmahlsfeier in den Predigtgottesdienst zu integrieren. Trotzdem ist dem Abendmahlsgottesdienst keine höherwertige Gültigkeit eigen als anderen Gottesdiensten. Hier unterlässt es der Vf. aus nachvollziehbarem Grund, den Begriff "Gültigkeit" zu klären. Denn mit Hilfe des Strukturgedankens ist eine solche Begriffsbestimmung kaum zu leisten, weil dann über eine Form- statt über eine Strukturfrage entschieden werden müsste: Ist die Form des Gottesdienstes als Messe, die am Tag der Auferstehung Christi gefeiert wird, dem Feieranlass angemessener als ein Predigtgottesdienst? Die Predigt in einer "abendmahlslosen Messe" wird ja nicht ungültig dadurch, dass kein Abendmahl gefeiert wird. Ihre Verkündigung kann unabhängig von der Abendmahlsfeier die Wahrheit aussprechen oder nicht. Im Sinne des Strukturgedankens legt der Vf. nahe, im Predigtgottesdienst zumindest einen Merkposten für das "fehlende" Abendmahl zu installieren: Das Glaubensbekenntnis, das wie das Eucharistiegebet Anamnese und Doxologie beinhalte, solle regelmäßig die Abendmahlsfeier eröffnen und an derselben Stelle im Gottesdienst auch dann gesprochen werden, wenn das Abendmahl nicht gefeiert wird. Hier kommen Überlegungen des Vf.s zum Zuge, die er als Ausblick an den Schluss seiner Untersuchung stellt: Er reflektiert die Frage nach Einheit und Vielfalt des Gottesdienstes im ökumenischen Kontext anhand der beiden Diskussions- und Konsultationsprozesse zum Thema Gottesdienst innerhalb des Lutherischen Weltbundes und des Ökumenischen Rates der Kirchen.

Der Vf., der mit diesem Werk an der Kirchlichen Hochschule Bethel habilitiert wurde, hat damit eine Untersuchung vorgelegt, die sowohl für das Verstehen des Gottesdienstbuches als auch für seine nun beginnende Rezeption grundlegend bleiben wird. Er bietet Ansatzpunkte für ein über das vorliegende Gottesdienstbuch hinausweisendes Nachdenken über die Agendenarbeit, die ja mit dem Erscheinen des Gottesdienstbuches nicht beendet ist. Auch hier urteilt der Vf. ganz im Sinne des Strukturgedankens - und ebenso im Sinne des Gottesdienstbuches, das ja kein Ritualbuch mehr ist, sondern die Gestaltungsaufgabe in den Mittelpunkt rückt -, dass auch weiterhin heuristisch geforscht und gearbeitet werden soll.