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Ausgabe:

Februar/2001

Spalte:

214–216

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Henkys, Jürgen

Titel/Untertitel:

Singender und gesungener Glaube. Hymnologische Beiträge in neuer Folge.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999. 300 S. gr.8 = Veröffentlichungen zur Liturgik, Hymnologie und theologischen Kirchenmusikforschung, 35. Kart. DM 82,-. ISBN 3-525-57202-6.

Rezensent:

Helmut Kornemann

Die praktische und wissenschaftliche Begleitung des neuen Evangelischen Gesangbuches (EG) ist - trotz einer Reihe respektabler Veröffentlichungen - nicht gerade überbordend. Vor allem grundsätzliche Überlegungen zu Inhalt und Gestalt gemeindlichen Singens unter den Bedingungen eines konsequenzenreichen Traditionsabbruches, zum Zusammenspiel von Dogmatik und Kunst, Liturgie und säkularer Kultur sind nur spärlich erschienen. Umso dankbarer muss man für die verdienstvolle - von Martin Rößler und Jürgen Henkys herausgegebene - Reihe der Veröffentlichungen zur Liturgik, Hymnologie und theologischen Kirchenmusikforschung sein, als deren 35. Band (11. Band der Neuen Folge) Jürgen Henkys eine Sammlung seiner Aufsätze, Vorträge und Forschungsberichte aus den Jahren 1967 bis 2000 vorlegt. Das Vorwort verweist auf Arbeiten, die aus der gleichen Zeit stammend bereits früher veröffentlicht worden sind. Der Titel "Singender und gesungener Glaube" beschreibt die Aufgabe, das, was die Dogmatiker fides qua und fides quae nennen, im Bereich der Hymnologie aufzusuchen und zu durchleuchten. Die Probleme geistlicher Dichtung und ihrer Vermittlung stehen auf dem Prüfstand. Der Autor - selbst ein Poet - kennt sie aus eigenem Erleiden. Ist doch geistliche Dichtung immer ein Tun an der Grenze. Die ihr inhärente Spannung ist unauflösbar, nämlich den singenden und den gesungenen Glauben in ihrem je eigenen Wesen und ihrer Bezogenheit zueinander beisammenzuhalten, damit der gesungene Glaube sich nicht an außerkünstlerische Forderungen preisgibt und der singende Glaube nicht seine Bodenhaftung verliert. H. thematisiert diese Spannung kurz mit einer Liedzeile Waapenars: "Zij mijn zingen: doortocht (Durchzug) geven aan uw overzijdse (jenseitigen) stem ..."(36). Ob sich freilich - wie H. meint - die Unterscheidung von singendem und gesungenem Glauben dort aufhebt, wo Gott selbst als Inhalt und Quelle des Glaubens bekannt wird, bleibe dahingestellt. Bekenntnis ist noch keine Poesie.

Ein Vortrag aus den Jahren 1988/90 setzt die Grenzen der Arbeit. Sie bewegt sich durchweg im Rahmen jenes Typs gemeindlichen Singens, der durch das im Gesangbuch überwiegend gesammelte gegliederte Strophenlied ausgefüllt wird. Ihm gehört die Vorliebe des Autors, der durch eine Reihe von Gesängen dieser Art auch im EG vertreten ist, und zwar - was die Quantität betrifft - mit 12 Liedern an dritter Stelle hinter M. Luther (30 Lieder) und P. Gerhardt (26). Ihre sprachliche Qualität hat hohe Anerkennung gefunden. - Das Werk ist in fünf Abschnitte gegliedert.

I. Singen - Gottesdienst - Gesangbuch: Dieser Abschnitt enthält Überlegungen zu Funktion, Qualität und Praxis des gottesdienstlichen Liedes (am Beispiel eines "gelungenen Liedes" "Sonne der Gerechtigkeit" konkretisiert) und blickt auf das "Erbe" (Schleiermacher, Jorissen - dem verdiente Ehrenrettung widerfährt - und - erstaunlich und anregend - Bobrowski). Dazu gehört der wohl wichtigste, grundlegende - oben schon erwähnte - Beitrag, der dem Gesamtwerk den Titel gab.

II. Singen mit den anderen: diversitas linguarum - unitas fidei: H. lässt uns einen Blick in seine Werkstatt tun und lädt uns ein, die vielfältigen Probleme mitzubedenken, die zu erwägen sind, wenn man das gemeindliche Singen über den deutschen Sprachraum hinaus ökumenisch öffnet. Lehrt doch der Blick in die fremdsprachige Ökumene, dass Deutschland durchaus nicht mehr als hervorragender Ort gesungenen Glaubens angesehen werden kann. Deutscher Kirchengesang ist bisher ein weit wirkender Exportartikel gewesen. Der Import war demgegenüber bescheiden. H. hat sich der Aufgabe gewidmet, aus dem reichen Schatz fremdsprachiger Kirchenlieder deutschen Gemeinden Anregung und Bereicherung zu vermitteln. In diesem Bereich kann es ihm bisher niemand gleichtun, und obwohl er sich bescheiden dagegen wehrt, als Meister angesehen zu werden, von dem andere zu lernen hätten (106): Es wird niemand schaden, bei ihm in die Lehre zu gehen. Seine Urteile sind überzeugend. Besonders sympathisch berührt, dass H., der durchaus deutlich - wenn auch überaus zurückhaltend - Kritik an Produkten anderer übt, sich selbst mit eigenen Vorschlägen der Kritik stellt.

III. Einzelne Lieder und ihre Traditionen: Die Spannweite reicht von Erkenntnissen zur ars moriendi bei Luther und Gerhardt über Auskünfte zu Svein Ellingsen, Huub Oosterhuis und Zinzendorf (dem sich H. in jüngster Zeit besonders intensiv zugewandt hat) bis zum Ohrwurm "Herr, deine Liebe ...".

IV. Themen des Kirchenlieds: Menschsein - Stadt - Friede.

V. Jochen Klepper: Wer weiß mehr über Jochen Klepper als H.? Außer einem frühen, entlegenen aber unentbehrlichen Aufsatz zum Liedschaffen Kleppers (1967) geht H. verschiedenen Spuren nach und präsentiert seine Funde: Klepper im Spiegel seiner Gedichte, sein Berlin, "Schreiben und Verstummen vor Gott" (ein Beitrag, der angesichts mancher oberflächlicher Verurteilungen das Selbstverständnis Kleppers begreifbar machen möchte). "Das Kirchenlied ist nach Kleppers Verständnis nicht dazu da, die Aktualitäten des Lebens in Verse zu setzen und so einer von Gegenwartserfahrung bestimmten Kommunikation mit den Zeitgenossen aus dem gleichen Erfahrungsraum zu dienen. Sondern es legt den Leidenden das Gotteslob in den Mund, und zwar auf eine Weise, daß sie, ohne ihr Leiden verleugnen zu müssen, dem zusingen können, der sie unter rechtfertigendem Gericht zu Überwindern macht." (282)

Fünf Zugänge zum Lied "Du Kind, zu dieser heilgen Zeit" und schließlich der Schlussteil eines Vortrags "Über die Klage ..." sind es, die uns das erschütternde Schweigen Kleppers an seinem Lebensende zeigen; es war dem Dichter unmöglich geworden, seiner eigenen Forderung zu entsprechen, nach der das Lied der Kirche von Liebe, Lob und Dank getragen sein solle - "... hier ist es dem Widersacher gelungen, mich zu verstören." (297)

Es ist nicht eigentlich die Fülle der Auskünfte und aufschließenden Mitteilungen, die das Buch wertvoll macht. Die wohltuend langsam fließende Sprache vermittelt vielmehr eine besondere Gestimmtheit, gleichsam einen Rhythmus des Denkens, dem man sich anvertrauen und eigenen Gedanken nachhängen kann: Ist es wirklich so: "In Gottes irdischer Welt singt die vom Geist geschaffene Gemeinde Jesu Christi, weil sie glaubt und was sie glaubt" (41)? Ist nicht das Singen der Gemeinde mitunter auch deswegen kläglich, weil sie, was ihr in den Mund gelegt wird, allenfalls in lernbereiter, kritischer Solidarität mit der historisch weit entfernten Gemeinde singen kann, nicht aber als Äußerung eigenen - angefochtenen - Glaubens?

Warum hat es die Kirche in Deutschland - im Gegensatz zu manchen Kirchen im Ausland - nicht vermocht, Dichter zu gewinnen, das Lied der Zeit zu gestalten und anzubieten? Darf man bei der Gelegenheit vielleicht auch einmal fragen, was Jürgen Henkys noch in seinem Schreibtisch verbirgt? Deutet sich nicht schon seit langem an, dass das Strophenlied nicht - wie es seine Häufigkeit auszuweisen scheint - die wichtigste Weise des kirchlichen Singens bleiben kann? Müssen wir nicht außer den Dichtern heute die zeitgenössischen Komponisten, Regisseure und Tänzer zu Rate ziehen? Vielleicht sollten wir das von H. abgesteckte Feld als Trainingsbereich verstehen, von dem aus - gestärkt und sensibel gemacht - weitere Felder erobert werden mögen. Und sollten wir nicht noch entschiedener einem Rat folgen, den Ernst Bloch dem Verleger Unseld gegeben hat: "Niveau, Niveau, Niveau"? Was Letzteres betrifft, lässt H. keine Wünsche offen, es sei denn, den nach mehr.