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Ausgabe:

Februar/2001

Spalte:

208 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Ulrich, Ferdinand

Titel/Untertitel:

Homo Abyssus. Das Wagnis der Seinsfrage. Mit einer Einleitung von M. Bieler. 2. Aufl.

Verlag:

Freiburg: Johannes Verlag Einsiedeln 1998. LIV, 534 S. gr.8 = Sammlung Horizonte, N. F. 30. Pp. DM 55,-. ISBN 3-89411-284-0.

Rezensent:

Rochus Leonhardt

In seiner Habilitationsschrift hat der Philosoph Odo Marquard eine "fast unzumutbare Unvollständigkeit und Undifferenziertheit" der metaphysischen Seinslehre in ihrer vor allem durch Thomas von Aquin geprägten Gestalt behauptet. Die damit verbundenen Probleme haben nach Marquard folgerichtig zur Ablösung der klassischen Ontologie durch die Transzendentalphilosophie geführt (Transzendentaler Idealismus. Romantische Naturphilosophie. Psychoanalyse, Köln 1987, 72ff.). In dieser Äußerung spiegelt sich ein weitgehender common sense der neueren Philosophie bezüglich der Unhintergehbarkeit von Kants ,kopernikanischer Wende'. Dagegen hat die katholische Philosophie seit der Neuscholastik an der Konsistenz und Suffizienz der älteren Ontologie festgehalten, und erst 1998 hat Johannes Paul II. in seiner Enzyklika Fides et ratio eine weitgehend dem thomanischen Denken verpflichtete Vision des Verhältnisses von Glaube und Vernunft formuliert. Vielleicht ist es deshalb auch kein Zufall, dass ebenfalls 1998 der Hauptteil von F. Ulrichs Salzburger Habilitationsschrift aus dem Jahre 1958 zum zweiten Mal publiziert wurde (die 1. Auflage erschien 1961 als Band 8 der ersten Folge der Reihe Horizonte im Johannes Verlag).

Die von M. Bieler verfasste Einleitung (XIII-LIV) stellt die Arbeit von U. in den Kontext von dessen wissenschaftlichem Gesamtwerk und betont nachdrücklich die Diskrepanz zwischen der philosophischen Bedeutung von Homo Abyssus und der geringen Resonanz, die der 1. Auflage beschieden war. Für Bieler ist die "Sperrigkeit der Werkgestalt" die wichtigste Ursache dafür, dass der "Sachgehalt dieses erstaunlichen Buches" (XIV) bislang weithin ignoriert worden ist. Gemeint ist mit dieser "Sperrigkeit" der dem ,kreisenden Denken' (10-14) verpflichtete kontemplative Stil, d. h. die von U. selbst zugestandene redundante Gestalt des Textes ("Man möge ob der ständigen Wiederholung nicht ungehalten sein!", 256). Freilich ist diese Redundanz auch sachlich begründet, weil, wer nach dem Sein fragt, zugleich immer schon vom Sein herkommt und so gewissermaßen vom Ziel her auf das Ziel orientiert ist: "wir bewegen uns ,im' Sein, indem wir in der Vielfalt des Seienden auf dem Wege sind" (9).

U.s Buch kann letztlich als groß angelegte Erläuterung eines einzigen Satzes verstanden werden: esse significat aliquid completum et simplex sed non subsistens (das [Wort] ,Sein' bezeichnet etwas Erfülltes und Einfaches aber nichts Subsistierendes; Thomas von Aquin, De potentia 1,1). Damit ist gemeint, dass das Sein als Sein, obwohl es alle denkbaren Vollkommenheiten in sich trägt, an denen das Seiende Anteil haben kann, "seine Einheit als ipsum esse nicht wie einen ,Raub'" bewahrt (70), sondern nur insofern ,ist', als es in einer "Subsistenzbewegung" (46 ff.) auf das endliche Seiende hin zu sich selbst kommt: "Deshalb ist das Sich-hin-weg-geben des Seins ein Auf-sich-selbst-zukommen, indem es sich auf sich hin zur Aufgabe macht. Das Sein ist sich selbst Aufgabe in der Selbst-auf-gabe" (71). Die Schwierigkeit, ein nichtsubsistierendes Prinzip alles Seienden zu denken, führt nun in eine zweifache Unsicherheit und schließlich in Aporien, die nach U. sowohl die vorchristliche Tradition (alttestamentlicher wie griechischer Prägung: 29-35; 55, Anm. 8) als auch die neuzeitliche Metaphysik (56-60 u. ö.) bestimmen. Einerseits führt die Frage, wie von einem selbst nicht Subsistierenden her Seiendes seiend genannt werden kann, zum "Verzicht auf das spekulative Aushalten des Seins" (52). Andererseits strebt das Denken danach, das von seiner ,Selbst-auf-gabe' abstrahierte Sein "in die Schwebe der Pseudosubsistenz zu heben" (51). In beiden Fällen aber wird "das bonum als die Herzmitte des Seins nicht mehr gesehen" und die "positive Realität" des endlichen Seienden vom "Vollzug der Verendlichungsbewegung" abgeschnitten (152); entsprechend treten Äquivokation oder Univokation an die Stelle der Analogie des Seins. Der Verzicht auf den "spekulativen excessus auf das Sein" (51) unterschlägt aber nach U. das Charakteristikum rationaler Erkenntnis: "Vernimmt ... die endliche Vernunft das konkret materiell Seiende, dann ist dieses niemals in verschlossener Partikularität gegeben, sondern vom Seinslicht in das omnia der eröffneten Welt verwiesen" (250).

Der letzte Hinweis auf rationale und mithin menschliche Erkenntnis macht (wie bereits der Titel des Buches) deutlich, dass es U. nicht um ,pure' Ontologie geht. Er zielt vielmehr auf die Entfaltung einer "anthropologischen Ontologie" (236; Hervorhebung: R. L.), ist doch der Mensch "die Richte und Grundgestalt der ontologischen Differenz des Seins zum Seienden und das letztlich von Gott gemeinte Thema der Seinsteilhabe" (1). Salopp formuliert wäre U.s Intention so zu beschreiben: Sage mir, was für eine Ontologie Du hast, und ich sage Dir, ob Du Dein Menschsein angemessen realisieren kannst. - "Aus der Überwesenhaftigkeit des Seins erst kann das Menschenwesen auf sich selbst zukommen. Indem der Mensch ... sich selbst als Maßgrund der Verendlichungsbewegung des Seins enhüllt, muß er darin ausweisen, daß das Sein ,simpliciter superius' ist" (344). Die anthropologisch relevante Pointe der Lehre vom Sein als completum et simplex sed non subsistens besteht also darin, "daß der Mensch das Sein als Gabe so vernimmt, daß er ,durch' sich die Seienden ,sein-läßt' und in diesem Seinlassen liebend affirmiert" (362 f.). Wo dies nicht der Fall ist, erliegt der Mensch der großen Versuchung, sein "Gespiele-sein als Seiender unter Seienden einer falschen, angemaßten ,Hirtenschaft des Seins' zu opfern" (422). Genau dies ist nach U. in der neuzeitlichen Philosophie geschehen. Wo aber "das Vernehmen der Vernunft zum Leistungsakt einer entfesselten Verstandesspontaneität degradiert ist", kann die Welt "für den Menschen nicht mehr Gabe" sein, sein "Denken lebt nicht mehr als Dank", und es kommt zu einer "Entfremdung des Menschen von der Welt. Er wird heimatlos!" (445-447). Aus dieser Situation kann nach U. die skizzierte anthropologische Ontologie herausführen, die er mit (hier nicht zu vertiefenden) trinitarischen (165-168.270), christologischen (184 f.232 f. u. ö.), ekklesiologischen (93 f.409-412) und mariologischen Aspekten (274-276) verbunden und so gleichsam (katholisch-)theologisch ,konfirmiert' hat.

Wie ein auf konkrete gegenwärtige Probleme bezogener Beitrag eines an Thomas von Aquin orientierten Seins- und Vernunftverständnisses genau aussehen kann, wird von U. allerdings nicht eigens dargestellt. Zwar ist immer wieder von sich eröffnenden "gewaltigen Perspektiven" die Rede (390), nicht nur für "eine fruchtbare Auseinandersetzung mit Kant und dem gesamten Deutschen Idealismus" (420, Anm. 194), sondern auch "für eine medizinische Anthropologie" (379), eine "Theologie der Materie" (333), eine "Metaphysik der Erziehung" (409, Anm. 191) oder eine "Theologie der Zeit" (183, Anm. 286). Aber U. geht an keiner Stelle über beiläufige Andeutungen hinaus. Das ist vor allem deshalb bedauerlich, weil dadurch sein systematisches Interesse an Ontologie und Anthropologie des Thomas von Aquin dem Missverständnis nicht wirksam begegnen kann, im Grunde gehe es lediglich um die Repristinierung einer vormodernen Metaphysik.