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Ausgabe:

Februar/2001

Spalte:

203–206

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Schneider, Theodor, u. Wolfhart Pannenberg [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Verbindliches Zeugnis, Bd. 3. Schriftverständnis und Schriftgebrauch.

Verlag:

Freiburg: Herder / Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998. 446 S. gr.8 = Dialog der Kirchen, 10. Kart. DM 68,-. ISBN 3-451-26673-3/3-525-56931-9.

Rezensent:

Gunther Wenz

Nach Abschluss der Studie über die Lehrverurteilungen des 16. Jh.s hat sich der Ökumenische Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen (= ÖAK) seit seiner Frühjahrstagung 1986 vergleichsweise langfristig mit der Thematik Kanon und Schriftauslegung beschäftigt, weil sich im Kontext des Lehrverurteilungsdokuments präzisierende Klärungen in diesem Zusammenhang als besonders dringlich erwiesen hatten.

Folgende Konvergenzen, die sich bereits als Ergebnis vorangegangener Dialoge abzeichneten, ließen sich bestätigen: Evangelische Theologie leugnet nicht, dass Kanon und Kirche zusammengehören und die Bibel in bestimmter Weise selbst eine Traditionsgestalt ist, die auf aktuelle Auslegung im kirchlichen Zeugnis hin angelegt ist. Katholische Theologie vertritt nicht mehr die Behauptung, der Trienter Grundsatz (vgl. DH 1501), das eine Evangelium sei in geschriebenen Büchern und ungeschriebenen Überlieferungen enthalten, die man beide gleichermaßen (pari pietatis affectu ac reverentia) zu verehren habe, müsse in dem Sinne verstanden werden, als bedürfe die in der Schrift gegebene Tradition (traditio scripta) einer materialen Ergänzung durch kirchliche Zusatztraditionen. Unter dieser Voraussetzung konnte die überkommene Kontroverse um Schrift und Tradition auf das Problem der Begründung des Kanons bzw. der Gewissheit seiner Kanonizität sowie auf das Problem authentischer Schriftauslegung reduziert werden.

Zu den genannten Aspekten wurde von den Hgg. im ersten Band von "Verbindliches Zeugnis" (= VZ I; vgl. ThLZ 119, 1994, 456-461) zusammenfassend folgendes bemerkt: "Was die Entstehung des biblischen Kanons angeht, so können heute beide Seiten darin übereinstimmen, dass die Autorität der kanonischen Schriften im Kernbestand sich von sich aus, nämlich wegen ihrer Ursprünglichkeit im Verhältnis zur göttlichen Offenbarung und wegen ihres Inhalts, dem Urteil der Kirche aufgedrängt hat, der biblische Kanon also nicht eine freie Schöpfung der Kirche ist, obwohl der Prozeß seiner Abgrenzung sich in der Kirche und nicht ohne kirchenamtliche Entscheidungen vollzogen hat. Ersteres bleibt Voraussetzung dafür, daß es auch heute eine kritische Autorität des Kanons gegenüber der Kirche und ihrem Lehramt gibt. Dabei stimmen beide Seiten darin überein, daß die Schrift alle heilsnotwendige Wahrheit des Glaubens enthält und keiner inhaltlichen Ergänzung bedarf (materiale Suffizienz). Ihr Inhalt bedarf aber sehr wohl der ,Weitergabe' durch Verkündigung und Lehre der Kirche. Die Notwendigkeit der ,Tradition' in diesem Sinne ist von der Reformation nicht bestritten worden. Sie fällt auch nicht unter die von den Reformatoren als nicht allgemein verbindlich bezeichneten traditiones humanae. Die Auslegung der Schrift kann nach der gemeinsamen Überzeugung des Arbeitskreises nicht ausschließlich der wissenschaftlichen Bibelexegese überlassen werden, sondern ist eine Aufgabe der Kirche. Deren Wahrnehmung bleibt jedoch angewiesen auf die Rezeption durch das Volk Gottes. Dabei kommt der Prüfung der in der Kirche stattfindenden Lehrverkündigung am Zeugnis der Schrift entscheidende Bedeutung zu." (VZ I, 7 f.) Eine abschließende (VZ I, 371-397) "Gemeinsame Erklärung" des ÖAK zum Thema "Kanon - Heilige Schrift - Tradition" unterstrich diese Ausführungen und differenzierte sie in Aufnahme der beigegebenen Einzeluntersuchungen im Blick namentlich auf die Entstehungsgeschichte des biblischen Kanons.

Nach weitgehend befriedigender Lösung der die Kanongenese und insbesondere den Umfang des (alttestamentlichen) Kanons betreffenden Kontroversen verlagerte sich der Schwerpunkt der Debatte mehr und mehr auf die Frage, welche Funktion der Kirche sowie ihrem mit der öffentlichen Lehrverkündigung beauftragten Amt bei der Auslegung der kanonischen Schriften zukommt und wie diese Funktion ins Verhältnis zu setzen ist zur historisch-kritischen Schriftforschung, zum consensus fidelium und den damit angezeigten Rezeptionskompetenzen, zum gottesdienstlichen Sitz im Leben des Schriftgebrauchs, zur Inspiration und charismatischen Schriftauslegung, zum Geist-Buchstabe-Problem, zur Gesetz-Evangeliums-Thematik sowie zum Schriftgebrauch bei synodalen Lehrentscheidungen usw. Die Behandlung dieser Problemzusammenhänge war bereits für die Texte des dem Themenkreis "Schriftauslegung - Lehramt - Rezeption" gewidmeten zweiten Bandes von "Verbindliches Zeugnis" bestimmend (vgl. ThLZ 121, 1996, 771-775); sie findet in den Beiträgen des hier anzuzeigenden dritten Bandes (= VZ III) ihre kontinuierliche Fortsetzung: nach einem kurzen Rechenschaftsbericht von Th. Schneider und einem thematischen Überblick über einschlägige ökumenische Dokumente von D. Sattler erörtert Th. Söding das hermeneutische Problem der Mitte und Einheit der Schrift.

Die mit der Wendung spiritus et littera bzw. Gesetz und Evangelium zu umschreibenden Themenkomplexe werden von K. Kertelge, F.-L. Hossfeld und R. Slenczka sowie von B. Lohse, U. Kühn, H. H. Eßer und D. Sattler behandelt. Beiträge über Schrift und Lehramt betreffende Weichenstellungen in der römisch-katholischen Kirche des 16. Jh.s von H. Smolinsky, über den Schriftgebrauch bei Lehrentscheidungen evangelischer Synoden von J. Mehlhausen sowie über Paradigmen der klassischen Kanonistik bezüglich Schrift- und Lehrautorität von I. Riedel-Spangenberger schließen sich an. Den Versuch einer thetischen Zusammenschau des Problemkreises von Schriftauslegung, kirchlicher Lehre und Rezeption unternimmt O. H. Pesch. Beigegeben ist ein um Integration der durch die Einzelbeiträge gebotenen Perspektivenvielfalt bemühter "Abschließender Bericht" zu Schriftverständnis und Schriftgebrauch, der vom ÖAK mit großer Mehrheit verabschiedet wurde. Dass der "Abschließende Bericht" mit Bedacht nicht "Gemeinsame Erklärung" genannt wurde, weist auf verbleibende noch ungelöste Probleme hin. Dennoch konnten bemerkenswerte Konvergenzen erzielt werden.

Der Abschlussbericht ist nach folgenden Gesichtspunkten gegliedert: nach einer Einleitung, die den ökumenischen Kontext und das zu erreichende Ziel markiert, wird von der Hl. Schrift als Wort Gottes und vom Gottesdienst als Ort der Verkündigung des Evangeliums Gottes gehandelt. Abschnitte über die Einheit und Ganzheit der Hl. Schrift, über die beiden Testamente in der einen Hl. Schrift sowie über die Mitte der Hl. Schrift und die Vielfalt ihrer Theologien schließen sich an. Ein Abschnitt über Gesetz und Evangelium ist zwischengeschaltet. Die folgenden beiden Passagen sind der Schriftauslegung im Leben der Kirche sowie dem Zusammenhang von Schriftauslegung und verbindlicher kirchlicher Lehre gewidmet. Ein Epilog zum Thema Gottes Geist in Gottes Wort beschließt das Dokument. Während das kritische Gegenüber der Schrift zur Kirche zwar gemeinsam betont, aber noch keiner wirklich präzisen Verhältnisbestimmung zugeführt worden ist, sind in Bezug auf die enge Beziehung von Bibel und Liturgie neue Verstehenshorizonte zweifellos erschlossen worden. Das gilt entsprechend auch für die Thematik von Einheit und Ganzheit der Hl. Schrift, etwa wenn es heißt: "Die materiale Suffizienz der Schrift, über die zwischen evangelischer und katholischer Theologie Einverständnis besteht, setzt ihre theologische Kohärenz voraus. Die Verbindlichkeit des biblischen Zeugnisses läßt sich ohne die Einsicht in seine Einheit und Ganzheit weder in der Schriftauslegung noch in der Glaubenspraxis der Kirche insgesamt zur Geltung bringen." (VZ III, 304 f.) Was die beiden Testamente der einen Hl. Schrift betrifft, so wird mit Recht betont, dass die verbliebenen Unterschiede zwischen evangelischer und katholischer Lehre bei der Umfangsbestimmung des alttestamentlichen Kanons das gemeinsame Grundverständis der Hl. Schrift Alten Testaments nicht im Kern berühren. In diesem Zusammenhang wiederholt der ÖAK seinen Vorschlag, in künftigen Bibelausgaben so zu verfahren, wie es die "Guidelines for Interconfessional Cooperation in Translating the Bible" von 1987 vorsehen, nämlich die sog. deuterokanonischen bzw. apokryphen Bücher in einem eigenen Block vor den neutestamentlichen Schriften abzudrucken. Auch bezüglich des differenzierten Zusammenhangs von AT und NT besteht weitestgehende Übereinstimmung. Ausdrücklich wird betont, dass die Kirche um ihrer authentischen Evangeliumsverkündigung willen das Glaubenszeugnis aller alt- und neutestamentlichen Schriften zu hören hat. Umgekehrt habe zu gelten, dass alles, was als normativer Gehalt der Evangeliumsverkündigung zu behaupten ist, in den Schriften des Alten und Neuen Testaments seinen Niederschlag gefunden hat.

Besonders bemerkenswert ist, was im "Abschließenden Bericht" über Schriftauslegung als Grundvollzug im Leben der Kirche verhandelt wird. Erörtert wird die Schriftauslegung in der Liturgie, die Schriftlesung, die Predigt als Schriftauslegung, die Psalmen in der Liturgie, weitere alt- und neutestamentliche Gesänge der Liturgie, Hymnen und Lieder auf der Basis biblischer Zitate und Motive und schließlich das liturgische Gebet. Zusammenfassend wird festgestellt: "Die Vielfalt des Schriftgebrauchs in der Liturgie, die sich vor allem in geschichtlicher Perspektive und im ökumenischen Vergleich zeigt, spiegelt die der Hl. Schrift ihrerseits innewohnende Vielfalt wieder, die gerade ein Ausdruck der Ganzheit und Einheit, des spirituellen und theologischen Reichtums der Heiligen Schrift ist. Umgekehrt ist es bei allen konfessionellen Differenzen, die es im Spannungsfeld von Bibel und Liturgie gibt, doch der allen Konfessionen gemeinsame Gebrauch des Alten und Neuen Testaments zur liturgischen lectio und Predigt, der im Verein mit den anderen Schriftrekursen des Gottesdienstes Zeugnis von der Einheit der Kirche ablegt, die im Willen ihres Kyrios begründet liegt" (VZ III, 343).

So sehr vom Dokument die reichen Reformen liturgischer, homiletischer und katechetischer Lesung und Auslegung der Bibel sowie die persönliche Schriftmeditation ihrer ekklesiologischen Bedeutung gewürdigt werden, so sehr wird zugleich die kirchliche Notwendigkeit wissenschaftlicher Analyse und Interpretation der Bibel herausgestellt. Die Exegese des Alten und Neuen Testaments sei zu einer theologischen Disziplin geworden, die der Ökumene wichtige Impulse gegeben habe. Ausführlich thematisiert wird die traditionelle Lehre vom mehrfachen Schriftsinn, die Suche der Exegese nach dem geschichtlichen Schriftsinn und die Frage nach der Verbindlichkeit der Schrift sowie die Spannung zwischen geschichtlicher und aktualisierender Schriftauslegung. Was schließlich das Problem von Schriftauslegung und verbindlicher kirchlicher Lehre anbelangt, so wird eingangs die gemeinsame Überzeugung zum Ausdruck gebracht, "daß die Alternative Schriftprinzip oder lehramtliche Schriftauslegung, Autorität des Wortes Gottes oder Autorität des kirchlichen Amtes den Positionen beider Konfessionen nicht gerecht wird" (VZ III, 357).

Entscheidend für die argumentative Begründung dieser Aussage ist, was über die Hl. Schrift als alleinigen Maßstab der Verkündigung und die Tradition als Ort der Vergewisserung gesagt wird (VZ III, 360 ff.). Das diesbezügliche Ergebnis wird wie folgt umschrieben: "Die evangelische Theologie erläutert das Prinzip ,sola scriptura' und den - nicht unmißverständlichen - Begriff ,Selbstauslegung der Schrift' als auf den Inhalt des auszurichtenden und zu überliefernden Evangeliums, auf die richtende und rettende Botschaft selbst zielend und weist ein rein formales Verständnis des ,Schriftprinzips', das die notwendige kirchliche Überlieferung und Auslegung der Schrift sowie die Normierung solcher Auslegung durch die Bekenntnisse der Kirche (als einer maßgeblichen Gestalt kirchlicher Tradition) ausschlösse, als Mißverständnis zurück. Die katholische Theologie erläutert die Aussage ,Schrift und Tradition' so, daß das maßgebende Wort Gottes allein im Zeugnis der Heiligen Schrift ... gegeben ist, und Tradition als Vollzug lebendiger Überlieferung dieses Evangeliums ... funktional-modal zu beschreiben ist. Sie weist eine Auffassung von Tradition im Sinne inhaltlich ,ergänzender' Überlieferungen von Wahrheiten neben der Heiligen Schrift als Mißverständnis zurück. Wenn damit beide Positionen im wesentlichen getroffen und angemessen wiedergegeben sind- wovon wir überzeugt sind -, besteht zwischen den Kirchen trotz unterschiedlicher Formulierungen Übereinstimmung in der Sache." (VZ III, 369 f.)

Die anschließenden Überlegungen über die Gesamtverantwortung des Volkes Gottes als Träger der Glaubensüberlieferung sowie über die besondere Verantwortung der ordinierten Amtsträger für die Überlieferung des Glaubens versuchen diese Konvergenz fortzuentwickeln und zu differenzieren. Hingewiesen wird in diesem Zusammenhang auf die häufig erhebliche Diskrepanz zwischen den richtigen Prinzipien und der konkreten Ausübung kirchlicher Lehrverantwortung. "Die Sündigkeit und beständige Reformbedürftigkeit der Kirche beeinträchtigt nicht nur die konkrete Lebensführung aller, sondern auch die Wahrnehmung der Verantwortung für die authentische Vermittlung des Evangeliums." (VZ III, 386) Als gemeinsame Glaubensüberzeugung wird indes ebenso betont, "daß in all solchen Fällen der zugesagte Beistand des Heiligen Geistes Gottes die Kirche dennoch in der Wahrheit halten wird" (ebd.). Man wird nicht sagen können, dass mit Feststellungen dieser Art die einschlägigen Probleme restlos beseitigt sind. Gleichwohl lassen sich gewachsene und weiter wachsende Übereinstimmungen erkennen, die es verbieten, mit den verbleibenden Problemen nach Maßgabe fixierter kontroverstheologischer Alternativpositionen umzugehen.

Unter dieser Voraussetzung dürfte es reizvoll und ökumenisch fruchtbringend sein, die im ÖAK zum Thema Schriftverständnis und Schriftgebrauch erzielten Annäherungen der konfessionellen Standpunkte ins Verhältnis zu setzen zu dem, was im jüngsten Dokument der Bilateralen Kommission der Deutschen Bischofskonferenz und der Kirchenleitung der VELKD (Communio Sanctorum. Die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen, Paderborn-Frankfurt/M. 2000) über das Zusammenwirken unterschiedlicher Erkenntnis- und Bezeugungsinstanzen (Hl. Schrift, Tradition, Glaubenssinn der Gläubigen, Lehramt, Theologie) beim Finden und Verkünden der geoffenbarten Wahrheit des Evangeliums gesagt wird.