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Ausgabe:

Oktober/1998

Spalte:

957–959

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Kippenberg, Hans G.

Titel/Untertitel:

Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne.

Verlag:

München: Beck 1997. 342 S. gr.8. Kart. DM 39,80. ISBN 3-406-42882-7.

Rezensent:

Rainer Flasche

Bei dieser vom dem Bremer Religionswissenschaftler H. G. Kippenberg vorgelegten "Wissenschaftsgeschichte" der Religionsgeschichte handelt es sich um eine ausgesprochen postmoderne Darstellung. Dies gilt in dreierlei Hinsicht: 1. Dieses Buch ist in weiten Teilen narrativ und nicht nur dort, wo der Vf. es ausdrücklich erwähnt, wenn er von "einer systematischen Erzählung von Religionsgeschichte" (228) spricht. 2. Es hat vordergründig einen (wissenschafts-)historischen Aufbau, der Vf. geht aber eindeutig genealogisch vor und vermeidet jedwede genetischen Aussagen, auch wenn er sich nicht ganz von entwicklungstheoretischen Tendenzen freimachen kann; dies gilt besonders für die Zeichnung des gesellschaftswissenschaftlichen Hintergrunds, der wie eine Folie unter der Gesamtdarstellung liegt. 3. Das Buch hat z. T. einen ausgesprochen essayistischen Charakter und bietet so eine Rezeptionsgeschichte von "Religion" im wissenschaftlichen Diskurs, oder - anders gesagt - es zeigt die Inbezugnahme von "Religion durch die hier behandelten Wissenschaftler unterschiedlicher Konvinienz, und gibt weniger eine Darstellung der Religionswissenschaft bzw. Religionsgeschichte im engeren Sinn.

Freilich ist letzteres auch nicht die Aufgabe, die sich der Vf. gesetzt hat; denn er möchte "Ansätze und Entwürfe wissenschaftlicher Religionsforschung als Teil einer gemeinsamen Problemgeschichte ... behandeln" (9) und "die frühen Religionswissenschaftler zu etwas machen, was sie zu selten sind: zu klassischen Theoretikern einer Moderne, in der vergangene Religion noch Zukunft hat" (10). Dies ist wohl auch mit dem Untertitel gemeint: Religionswissenschaft und Moderne.

Beginnend mit Hobbes und Hume, über Rousseau, Kant, Herder, Schleiermacher, Hegel, Schopenhauer, mit einigen eingeschobenen Kapiteln z. B. über die "Entzifferung unbekannter Kulturen" - "Entstehung der Prähistorie" bis hin zum Darwinismus spannt er so den Bogen über Friedrich Max Müller, E. B. Tylor, W. R. Smith, Nietzsche, J. E. Harrison, die religionsgeschichtliche Schule, Troeltsch und R. R. Marett, um schließlich die Darstellung mit Emil Dürkheim und Max Weber enden zu lassen. Auffällig ist dabei, daß der Vf. Religion fast ausschließlich im Singular benutzt - seinem rezeptionsgeschichtlichen Ansatz gemäß - und gleichsam der Rolle von Religion in der Geistesgeschichte und ihres Status in den jeweiligen europäischen Gesellschaften nachgeht. Die in Bezug genommenen nichtchristlichen Religionen werden, etwas überspitzt gesagt, so zumindest die unterschwellige These des Vf.s, zu Vehikeln für das je eigene Verständnis von Religion, sei es in historischer oder psychologischer Hinsicht.

Dies ist einerseits die Stärke dieses Buches, andererseits aber auch eine gewisse Schwäche. Denn die Wurzeln "der Moderne" im Hinblick auf die Beschäftigung mit "Religion" macht der Vf. im 16./17. Jh. fest, was vor allem auch daran liegt, daß er die Religionsgeschichte im Rahmen der oder im Zusammenhang mit der Religionsphilosophie abhandelt. Zum anderen scheint die Moderne in Bezug auf die Religionsgeschichte in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts "irgendwie" auszulaufen, was schon die viel zu kurzen und nachklappenden Abschnitte über Rudolf Otto und Gerhardus van der Leeuw zeigen - trotz ihres großen Einflusses auf die Religionswissenschaft bis heute, und obwohl besonders große Teile der theologischen Wissenschaften ihre "religionsgeschichtliche Verortung" bis heute hier haben; während Joachim Wach völlig fehlt, der mit seiner 1924 erschienenen "Religionswissenschaft. Prolegomena zu ihrer Grundlegung" den ersten Versuch wagte, die Religionswissenschaft als eigenständige Wissenschaft zu begründen.

Dieses Fehlen oder dieser Mangel ist auch nicht mit dem begrenzten Umfang des Buches zu entschuldigen; denn die Abschnitte über Emile Durkheim (23 S.) und Max Weber (25 S.) sind auch im Verhältnis zu allen anderen dargestellten Wissenschaftlern sehr umfangreich und zeugen von auch aus anderen Publikationen bekannten "Vorlieben" des Vf.s

Das Buch liest sich hervorragend und teilweise mit großer Spannung, allerdings bin ich mir nicht sicher, ob jemand, der nicht die gesamte Wissenschaftsgeschichte der Religionsgeschichte im Hinterkopf hat, die hier dargelegten Zusammenhänge, die oft auch nur aus Andeutungen bestehen, durchschaut. Deshalb hätte ich mir auf alle Fälle gewünscht, daß die hinten beigegebenen 32 Seiten Anmerkungen zum besseren Verständnis unter den Text gesetzt worden wären. Dann würde eventuell noch einsichtiger, daß "Religion" fast ausschließlich in den Köpfen europäischer Gelehrter existiert hat, die das religionsgeschichtliche Material dann nur noch als Ersatzstücke für ihr jeweiliges Bild von Religion nutzten bzw. in ihre jeweilige Religionstheorie einbauten. Gerade hier aber liegt das eigentliche Problem der Religionsgeschichte/Religionswissenschaft, denn die empirischen Religionen sind nun einmal historische und gesellschaftliche Phänomene, die nicht nur von den jeweiligen Gläubigen als selbstverständlicher Teil ihres Lebens verstanden werden, sondern auch zu deren Wirklichkeitsverständnis gehören, also völlig unabhängig von jedweder Religionstheorie als konkrete Lebensbewältigungs- und Welterklärungssysteme bestehen. Unter diesem Aspekt bleibt die Frage, ob Religionsgeschichte überhaupt dazu dienen kann und soll, daß in der Moderne vergangene Religion noch Zukunft hat.

Dem Buch ist eine umfangreiche Bibliographie beigegegeben (31 S.) sowie ein Register, aufgeteilt in "Sachen und Begriffe" und "Personen", das sich allerdings schon bei einer kurzen Überprüfung als recht unvollständig erweist.

Zum Abschluß sei mir noch eine Bemerkung zur kurzen Nennung von Charles de Brossds (80) gestattet, der auf Grund einer Fehlübersetzung aus dem Portugiesischen den Fetisch bzw. Fetischismus erfunden hat. Denn er hat feitico ("künstlich, gemacht") mit feitisso verwechselt, was geheiligt oder heilig bedeutet, und womit die Portugiesen in Westafrika all jenes bezeichneten, was in den Bereich der dortigen Stammesreligionen gehört, was eben selbstverständlich "religiös" war, wie ich anhand früher Quellen nachweisen konnte.1 Auch dies wäre ganz im Sinne des vorliegenden Buches ein weiterer Beweis dafür, daß nicht nur die Ursprungstheorien von Religion, sondern auch die Religionstheorien überhaupt ausschließlich den Gehirnen europäischer Denker entsprungen sind, und es niemals "Fetichisten", "Animisten" oder "Dynamisten" gegeben hat.

Fussnoten:

1 Flasche, Rainer: Die Bedeutung früher Missionarsberichte für die Religionengeschichte und systematische Religionswissenschaft. In: Der Missionar als Forscher (Hrsg. Johannes Triebel) Gütersloh 1988, 36 ff.