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Ausgabe:

Februar/2001

Spalte:

197–199

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Oelke, Harry

Titel/Untertitel:

Hanns Lilje. Ein Lutheraner in der Weimarer Republik und im Kirchenkampf.

Verlag:

Stuttgart-Belin-Köln: Kohlhammer 1999. 430 S., 1 Porträt, gr.8. Geb. DM 59,85. ISBN 3-17-016104-0.

Rezensent:

Rolf-Ulrich Kunze

Autoren vorzuwerfen, welche Bücher sie nicht geschrieben haben, aber hätten schreiben sollen, ist eine so übliche wie wenig konstruktive Form der Kritik, da sie das Recht und die Pflicht jedes Autors zur Schwerpunktsetzung als Form wissenschaftlicher Selbstbestimmung geringschätzt. Die Bewertung nach dem jeweils selbstgewählten Maßstab hingegen ist legitim und notwendig. Harry Oelke hat in seiner 430-seitigen Kieler Habilitationsschrift über Hanns Lilje schon im Titel einen klaren zeitgeschichtlichen und kirchenzeitgeschichtlichen Schwerpunkt vorgegeben: "Ein Lutheraner in der Weimarer Republik und im Kirchenkampf". Im Folgenden sollen zur Charakterisierung der Arbeit nach diesem Maßstab drei interdependente Bereiche berücksichtigt werden: der methodische Umgang mit Forschungspositionen der kirchlichen und Zeitgeschichtswissenschaft, der konzeptionelle Umgang mit inhaltlichen Ergebnissen der kirchlichen und Zeitgeschichtswissenschaft und der formale Umgang mit Quellen und Literatur.

O.s biographische Studie ist klar gegliedert. Auf eine ausführliche Einleitung mit Angaben zur Methode (5-24) - dazu gleich - folgen zwei chronologisch-thematische Hauptteile, der erste zum Werdegang Hanns Liljes in der Zeit der Weimarer Republik (25-147, 6 Unterkapitel), der zweite zu seiner Entwicklung im Nationalsozialismus (148-381, 6 Unterkapitel). Die Arbeit ist durch eine Zusammenstellung der Lebensdaten von Lilje, ein Verzeichnis seiner Schriften sowie den Abdruck einiger aussagekräftiger Fotos didaktisch ansprechend gestaltet. Die archivalische Grundlage ist trotz, oder vielmehr: wegen der vom Autor referierten, z. T. diffusen Quellenlage (12-14: "Zur Quellenlage") breit: O. hat gründlich recherchiert und neben den Archivalien eine Unmenge an einschlägiger ,grauer Literatur' mit ungedrucktem Material abgeglichen. Das alles ist mühe- und verdienstvoll, füllt bestehende Forschungslücken u. a. zur Person Liljes und erreicht in manchen Unterkapiteln die Dichte der Detailstudie, so z. B. bei der Darstellung von Liljes Rolle im DCSV (109 ff.) oder im ,Lutherrat' (275 ff.). Sinnvoll ist auch die thesenartige Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse am Ende der Arbeit (382-390). Hier präsentiert O. in begründeter Differenzierung einen in vieler Hinsicht charakteristischen lutherischen Lebensweg vom Spätwilhelminismus in die ,deutsche Katastrophe', dessen Ambivalenz wesentliche Rückschlüsse auf die Protestantismusgeschichte im ,Weltbürgerkriegsjahrhundert' zwischen den theologischen Aufbrüchen der Zwischenkriegszeit und der Ära der ,Rechristianisierungs'-Mentalität nach 1945 erlaubt. Damit ist die Liste der Vorzüge allerdings auch am Ende.

Kein Verfasser einer Biographie muss sich für sein Genre entschuldigen. Es steht ihm frei, auf die vor 25 Jahren im Kontext der Etablierung der makroorientierten historischen Sozialwissenschaft geführte und längst abgeschlossene geschichtswissenschaftliche Diskussion um die Gattung einzugehen. Das setzt allerdings eine Auseinandersetzung mit geschichtswissenschaftlichen Positionen und ihrer Veränderung seit den 1970er Jahren voraus. O.s Abschnitt "Möglichkeiten und Grenzen einer ,biographischen Studie'" (18-22) deutet bereits auf das Grundproblem der gesamten Arbeit hin: Sie enthält zeit- und geschichtswissenschafliche Erkenntnisse nur als ,Spurenelemente' und ist mit dem geschichtswissenschaftlichen Forschungsstand nicht vertraut. Dass O. als Beleg für die Diskussion um die Problematik der Biographik ausgerechnet die - nun wirklich in einem vollkommen anderen Kontext stehende - Kritik des ewig-gestrigen, dogmatischen Marxisten-Leninisten Reinhard Kühnl am Autor der bekanntesten deutschsprachigen Hitler-Biographie anführt, ist symptomatisch (19, Anm. 29 und 30). Auf eine derartig hochideologische Polemik ohne kritische Differenzierung einzugehen, ist schon an sich, vor allem aber dann problematisch, wenn die eigentlichen und zum Teil durchaus berechtigten, nämlich sozialgeschichtlichen Einwände gegen die konventionelle Biographie überhaupt nicht wahrgenommen werden, der Autor gleichwohl aber vom "Stand gegenwärtiger Forschung" (19) spricht. Dann hätte er statt soziologischer Detailstudien (20, Anm. 33) anführen müssen, dass gerade die sozial- und alltagsgeschichtliche Kritik diese historiographische Urform stark verändert und bahnbrechende Arbeiten wie die von Friedrich Lenger über Werner Sombart oder Ulrich Herbert über Werner Best ermöglicht hat: indessen kein Wort davon!

Das, was man einem - gleichwohl kirchengeschichtlich ausgewiesenen - Theologen als Unvertrautheit mit geschichtswissenschaftlichen Methodendebatten nachzusehen bereit sein mag, findet im Konzeptionellen, im Umgang mit dem Stand der Zeitgeschichtsforschung, eine Entsprechung. Nur als Beispiel: Die zeitgeschichtliche Argumentation O.s stützt sich stark auf die Beiträge in zwei - verdienstvollen! - Sammelbänden von Bracher/Funke/Jacobsen, die von der Bundeszentrale für politische Bildung mit Blick auf eine interessierte Öffentlichkeit und auch auf Studierende der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften vertrieben werden. Er zitiert auch Eberhard Kolb und Heinrich August Winkler, arbeitet jedoch nicht mit deren ausführlichen Problematisierungen und strukturgeschichtlichen Argumentionen zu Schlüsselfragen der ersten deutschen Demokratie. Wirklich schwer erträglich wirkt diese Vorgehensweise im zweiten Hauptteil zum Nationalsozialismus: Namen wie Martin Broszat, Norbert Frei, Saul Friedländer, Hans Mommsen, Hans-Ulrich Thamer kommen im Literaturverzeichnis nicht vor. Bezeichnend ist wiederum eine Belegfußnote: zum gesamten Prozess der ,Machtergreifung' zitiert O. "dazu und zum Ganzen" summarisch Eberhard Jäckel, Hitlers Herrschaft, dann Albrecht Tyrell und den Oldenbourg-Grundriss-Band von Klaus Hildebrand (148, Anm. 4): als ob es da keine Unterschiede in der Sichtweise und Akzentuierung gäbe! Um dies abzukürzen: Auch die Ergebnisse und Differenzierungen zeitgeschichtlicher NS-System- und Widerstandsforschung u. a. zum konservativen Widerstand im ,Dritten Reich' (mit unterschiedlichen Akzenten u. a. Mommsen, van Roon, Lill, Oberreuter, Altgeld), zur Gestapo (Mallmann u. a.), zum ,Volksgerichtshof' und seinen Verfahren (u. a. Stolleis) sind O. offenbar entgangen. Dies lässt sich auch nicht mehr als ,kirchengeschichtliche' Perspektive entschuldigen. Schließlich schreibt O. über Liljes Bedeutung im zeitgeschichtlichen Kontext. Dann gilt:Wer sich auf das hochkontroverse Feld zeitgeschichtlicher Argumentation begibt, sollte dem formal (z. B. durch die korrekte bibliographische Angabe des Ersterscheinungsdatums! Ist Fritz Sterns Klassiker ,Kulturpessimismus' 1986 erschienen?) und konzeptionell gewachsen sein.

Grundlegende sozial- und mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen sowie integrative kirchenzeitgeschichtliche Konzepte wie das der interdisiziplinären Forschergruppe ,Konfession und Gesellschaft' führt O. zwar an (z. B. 16, Anm. 16 und 17), nutzt ihre methodischen und inhaltlichen Überlegungen zu einer Neupositionierung der kirchlichen Zeitgeschichte allerdings in keiner Weise. Dass O. (16, Anm. 19) auf den in der Tat in hohem Maß aussagekräftigen Bereich des Verbandsprotestantismus und auf diesbezügliche "wichtige Pionierarbeiten" (ebd.) hinweist, ohne die grundlegenden Arbeiten des ausgewiesenen Marburger Spezialisten Jochen-Christoph Kaiser auch nur anzuführen, ist unbegreiflich.

Am Ende bleibt das Bild einer fleißigen, konventionalistischen kirchengeschichtlichen Materialsammlung mit biographischem Schwerpunkt, die weiterer, vor allem zeitgeschichtlicher Durchdringung harrt. Insofern charaktersiert der Autor seine Vorgehensweise sogar treffend: "Da die mit dem zeitgeschichtlichen Kontext verknüpften Problemfelder durch den Filter einer individuellen Lebensgeschichte zum Untersuchungsgegenstand werden, kann als Ergebnis nur ein Beitrag mit einem entsprechend eingeschränkten Blickwinkel erwartet werden." (21)