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Ausgabe:

Februar/2001

Spalte:

194–197

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

(1) Mehlhausen, Joachim, u. Leonore Siegele-Wenschkewitz [Hrsg.] (2) Nowak, Kurt, u. Leonore Siegele-Wenschkewitz [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

(1) Zwei Staaten - zwei Kirchen? Evangelische Kirche im geteilten Deutschland.
(2) Zehn Jahre danach. Die Verantwortung von Theologie und Kirche in der Gesellschaft (1989-1999).

Verlag:

(1) Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2000. 174 S. 8. Kart. DM 35,20. ISBN 3-374-01792-4.
(2) Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2000. VIII, 133 S. 8. Kart. DM 38,-. ISBN 3-374-01791-6.

Rezensent:

Rudolf Mau

Im November 1998 trat das im Jahr zuvor bei der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte begonnene Forschungsprojekt "Die Rolle der evangelischen Kirche im geteilten Deutschland" mit einem in Potsdam gehaltenen Symposion an die Öffentlichkeit. Dessen Ertrag bildet den Inhalt des Bandes "Zwei Staaten - zwei Kirchen?" (Im Folgenden: I). Im Oktober 1999 widmete sich eine Leipziger Tagung unter dem Motto "Zehn Jahre danach" (fortan: II) dem Umgang von Theologie und Kirche "mit der Historia und der Memoria von 1989" (II, VII). - Noch vor seiner schweren Erkrankung hatte Joachim Mehlhausen ( 3. April 2000) das erste Symposion konzipiert und vorbereitet. Zu beklagen ist auch der Tod von Leonore Siegele-Wenschkewitz ( 17. Dezember 1999), Direktorin der Ev. Akademie Arnoldshain und amtierende Vorsitzende der Ev. Arbeitsgemeinschaft, die noch zum zweiten Band beitrug, ohne an der Tagung teilnehmen zu können.

Der Umgang mit der jüngsten Zeitgeschichte wurde zum Anlass für mehrere Beiträge grundsätzlicher Art. Schon im einleitenden Übersichtsreferat ("Der Protestantismus in der deutschen Geschichte 1949-1989"; I, 11-32) äußert sich Trutz Rendtorff zu den Forschungsmethoden. Erwägungen zum Protestantismusbegriff gehen hier bis zu der Frage, ob angesichts des "strukturellen Rätsels ,DDR' (H.-P. Krüger) etwa von einem "protestantischen Sozialismus" zu sprechen sei, der sich zu einem "sozialistischen Protestantismus" entwickelt habe (19). Eingehender reflektiert Detlef Pollack ("Die Rolle der evangelischen Kirche im geteilten Deutschland in religions- und kirchensoziologischer Perspektive"; I, 85-106) die Methodenfrage.

Gegen Besiers Ansatz beim Staat-Kirche-Verhältnis als "zwei politischen Akteuren", der die gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen völlig vernachlässige, plädiert er für "ursächlich erklärende und motivational verstehende Ansätze" (86.88) wie Biographieforschung, Ideengeschichte, Milieutheorie und v. a. für den eigenen, gesellschaftstheoretischen Ansatz: In der DDR habe sich die Kirche "an der Bruchstelle zwischen Lebenswelt und [politischem] System" befunden (98). Herleitungen kirchlichen Handelns unter DDR-Bedingungen aus "Staatsfixierung" ("Obrigkeitsorientierung", C. Vollnhals) oder gemeinwohlorientierten Leitvorstellungen des 19. Jh.s ("antikapitalistisch", "antiindividualistisch", F. W. Graf) weist er mit Recht zurück.

Die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für den Weg der Kirche während der deutschen Teilung thematisiert der Tübinger Zeithistoriker Anselm Doering-Manteuffel: "Die ideologische Blockbildung im Kalten Krieg und ihre Bedeutung für den westdeutschen Protestantismus in den 1950er und 1960er Jahren" (I, 33-34).

Der Vf. benennt "schärfste innerprotestantische Rivalitäten" bei dem Versuch eine "protestantische Leitkultur" wieder herzustellen (34), markiert die politischen Positionen von Heinemann (entschieden für das parlamentarische Repräsentativsystem), Niemöller und Karl Barth und die des Netzwerkes des "Kronberger Kreises" (E. Müller/Bad Boll, R. von Thadden-Trieglaff und H. Lilje), der, im Sinne "positiv verstandene[r] Kontinuitätslinien" "die Neigung zum Wiederanknüpfen und Weitermachen" stärkend (40 f.), weitgehend die Positionen der CDU-Politik vertrat. Statt einer "protestantischen Leitkultur" habe sich eine bürgerliche ("von den konfessionellen Milieus und ihren kirchlichen Werthaltungen noch spürbar durchsäuert") gebildet (45). Das Urteil, Barth habe mit dem "prophetischen Wächteramt" der Kirche die ",Richtlinienkompetenz' einiger weniger ... ohne Kontrolle durch konkurrierende Meinungsbildung" postuliert (38 f.), dürfte auf einem kategorialen Sehfehler beruhen.

Kurt Nowak wendet sich in weit ausgreifenden geschichtstheoretischen Überlegungen gegen bislang stark betonte Sichtweisen ("Die Konstruktion der Vergangenheit. Zur Verantwortung von Theologie und Kirche für den Gedächtnisort ,1989'", II, 3-20). Peter Steinbach, Professor für historische Grundlagen der Politik, wendet sich der "Gedenktagshistorie" zu ("Geteilter Himmel? Der Aufstand vom 17. Juni 1953, der Mauerbau und die militärische Intervention in Prag als Herausforderung für die politische Orientierung des deutschen Protestantismus", I, 46-65).

Nowak verweist für 1989 auf das explosive "Entstehen" und "Wachstum der Vergangenheit" (II, 3), reflektiert u. a. über "kommunikatives" und "kulturelles Gedächtnis" und fragt: "Wie freizügig ist die kommunikative Gedächtniskultur im Blick auf die gelebte Geschichte der DDR?" (6). "Relativ unbeachtlich" sei das Jahr 1989 "im Kontext der modernen Zivilisationsdynamik" (13). Die mehr beiläufige Frage, ob sich hinter dem oppositionellen "reformsozialistischem Impuls" als weiterreichendes Ziel "die Beseitigung des Sozialismus" überhaupt verborgen habe (15), verdient m. E. besondere Beachtung. - Steinbach exemplifiziert am Umgang mit Gedenktagen (1953, 1961, 1968) den "geschichtspolitischen Kampf um Deutungen" und weist die Kollaborations- und "Kumpanei"-Bezichtigung gegen die Kirchen im SED-Staat zurück. Der Historiker dürfte sich nicht "als rückwärtsgewandter Prophet" "die Funktion eines Beisitzers im Welt- oder Gottesgericht" zuschreiben (53 f.). "Wir sollten gestehen, wie wenig wir wissen, weil wir uns nicht interessiert haben für das, was uns angeblich seit 1989 so bedrängt" (63).

Claudia Lepp von der Ev. Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte untersucht "Rollenerwartung und Rollenwandel" zum Topos "Evangelische Kirche als ,Klammer' im geeinten Deutschland" (I, 66-84). "Unter dem Reformdruck der schon teilstaatlich sozialisierten Jugend" habe die EKD 1968 "Die Friedensaufgaben der Deutschen" thematisiert (78); der Begriff der "Klammer" hatte erst nach 1989 wieder Konjunktur. - Zwei Beiträge gelten dem Demokratieverständnis in der evangelischen Kirche. Harald Schultze untersucht "Konvergenzen und Differenzen" beim "Leitbild Demokratie" in den Positionen von EKD und BEK (I, 157-172). Jürgen Schmude plädiert unter dem Motto "Unser Glaube mischt sich ein - Demokratie als Angebot und Aufgabe" (II, 81-94) für ein entschiedenes politisches Engagement evangelischer Christen.

Schultze betont die wegweisende Bedeutung Karl Barths (Christengemeinde und Bürgergemeinde, 1946) und Thielickes (Ethik des Politischen, 1958) und stellt auf Grund von Reaktionen auf die Demokratiedenkschrift der EKD von 1985 (insbesondere dem aus dem BEK kommenden Vorwurf einer zu unmittelbaren Identifizierung mit der Staatsform der Bundesrepublik) "Rückfragen" (I, 160 ff.): Gab es im Osten "Desinteresse" an Demokratie und somit "Nachholbedarf"? Der Ost-West-Vergleich zeige bei differenten Rahmenbedingungen ein konvergentes "kirchliche[s] Engagement für die Demokratisierung" (I, 170). Dies werde für die DDR belegt durch kirchliche Erklärungen (u. a. die "Zehn Artikel" von 1963), die Tendenz ständiger Auseinandersetzungen (Bildungswesen, [Einheitslisten-]Wahlen, Realisierung des Helsinki-Abkommens) oder das Erleben von Synoden als "Arbeitsfeld echter Demokratie". Zu Recht wird hier auch an den von der SED scharf zurückgewiesenen Anspruch auf "mündige" Mitarbeit an einem "verbesserlichen" Sozialismus (H. Falckes Synodalreferat 1972) erinnert.- Angesichts der auf Stasi-Vorgänge gestützten Kampagne gegen die angeblich "ungetreue und unzuverlässige Kirche" verweist auch Schmude auf die Demokratiedenkschrift als klares Bekenntnis zur Demokratie samt Aufruf zum Engagement für Verbesserungsbedürftiges. Deren "kritische[n] und fordernde[n] Ton" habe man auch im Osten "in seiner Tragweite begriffen" (II, 82 f.). Auch Schmude nennt zahlreiche Indizien für die "Demokratiegeschichte der Kirche im Osten" (85 ff.), dem "einige[n] demokratische[n] Sektor in der DDR" (92).

Zwei frühere Bischöfe äußern sich zu Befindlichkeiten der Kirchen in der DDR. Johannes Hempel interpretiert die Rede vom "begrenzten politischen Mandat" der Kirche (II, 97-108) als "positive Abwehr einer mißverstandenen Zwei-Regimenten-Lehre" (99). Er betont: "Die Kirche Jesu Christi lebt ,von innen nach außen'". Die DDR-Situation brachte als Dauerbeschäftigung "Konfliktlösungen im Alltag". Wichtig war: "Wir haben die Hoffnung und das christliche ,Dennoch' gepredigt" (101. 104). - Christoph Demke notiert zum Topos "Kirche und Öffentlichkeit. Zwischen Medienwirklichkeit und Alltagserfahrung in der DDR und in der Bonner Republik" (I, 126-134) interessante Beobachtungen "aus der Umbruchsgeschichte der deutschen Vereinigung", verweist auf "paradoxe und bisweilen skurrile Züge" im Umgang der SED-Führung mit den "Westmedien" (130) und vermerkt, dass die Kirche, ohne Zugang zu einem großen Teil der Bevölkerung ("Kommunikationsghetto"), doch eine Ersatzfunktion für die fehlende bzw. diskreditierte gesellschaftliche Öffentlichkeit wahrnehmen konnte.

Zum "Verhältnis von Katholiken und Protestanten im geteilten Deutschland" referiert aus katholischer Sicht Heinz Hürten, Zeithistoriker an der Universität Eichstätt (I, 135-144), aus evangelischer Sicht der Catholica-Experte Hubert Kirchner (I, 145-156).

Hürten beschreibt die Veränderung der politischen Rolle des Katholizismus in Westdeutschland gegenüber der alten reichsdeutschen Situation; für die Fälle des Zusammengehens beider Kirchen betont er deren "nahezu unüberwindliche Größe" im gesamtgesellschaftlichen Diskurs (139). Den Minderheitskatholizismus in der DDR bezeichnet er als eine trotz vieler neuer Publikationen noch fast "fremde Welt vor der eigenen Haustür" (136). Hierzu aber bietet Kirchner eine auf jahrzehntelanger Beobachtung und Praxis beruhende, profunde Unterrichtung und benennt u. a. die Chancen und Hemmnisse des "Konziliaren Prozesses". Für die Umbruchsituation 1989/90 verweist er mit dem katholichen Friedensforscher Garstecki auf den gesellschaftspolitischen "Rollentausch": 1989/90 sei "die bis dahin völlig abstinente katholische Kirche mit fliegenden Fahnen" in das vormals evangelische Engagement übergegangen (156).

Günther Wartenberg thematisiert Erfahrungen mit wichtigen Forschungsgrundlagen ("Landeskirchengeschichte und landeskirchliches Archivwesen im geteilten Deutschland"; I, 107-125). - Zum Topos "Theologische Fakultäten in den Umbrüchen der Politik" notiert Leonore Siegele-Wenschkewitz eine Vielzahl zu klärender Fragen ("Protetantische Universitätstheologie des 20. Jahrhunderts unter dem Einfluß der Politik"; II, 23-31). Friedemann Stengel bietet ein materialreiches Referat "Zur Rolle der Theologischen Fakultäten in der DDR 1980-1990" (II, 32-78).

Er verweist darauf, dass "die jüngste Studentengeneration der DDR" samt jüngerem akademischem Personal über die "stalinistischen fünfziger und sechziger Jahre", wiewohl in ihrer Sozialisation durch diese mitgeprägt, "nur Oberflächenkenntnis ... besaß". Reich illustriert wird die weitgehende Vergeblichkeit des Bemühens der SED, mittels langfristiger personalpolitischer Strategien die Fakultäten, "zu einem in ihrem Sinne ,fortschrittlichen' Korrektiv für die Kirchen auszubauen" (33 f.), stark mitbedingt durch das Faktum der konkurrierenden kirchlichen Hochschulen (Naumburg, Berlin, Leipzig). Viel Interessantes bietet S. auch zu den Vorgängen im Bereich der Studentenschaften.

Ein "Blick von außen" beschließt den zweiten Band. Zoltán Balog, reformierter Pfarrer und persönlicher Berater des ungarischen Ministerpräsidenten, vergleicht die evangelischen Kirchen in der DDR und in Ungarn ("Kirchen inmitten des Geschehens"; II, 111-129).

Das Studium in den 80er Jahren in Ungarn und der DDR (Theologische Fakultät Halle und Begegnungen in Berlin, Naumburg und Dresden) gehören zum Erfahrungshintergrund. In Ungarn war es angesichts weitreichender Staatsabhängkeit und Angepasstheit von Kirchen und theologischen Lehrkörpern für Oppositionelle unvorstellbar, dass, wie in der DDR oder in Polen, gerade und nur von den Kirchen eine Alternative zur monolithischen Gesellschaft und ihrer Ideologie zu erwarten sein sollte. Der Vf. bekennt, der theologischen Arbeit in der DDR in der Tradition von Barmen viel zu verdanken, findet in ihr wichtige Orientierungen auch für heute und hält auf Grund von erfahrener Solidarität die Kirchen im Osten Deutschlands für besonders geeignet, in der europäischen Politik für die östlichen Länder zu werben. Zum Streit "um die Wahrheit der Geschichte" (Totalitarismus-Debatte): Es sollte möglich sein, "die Leidensgeschichte der Völker im totalitären System sowjetischen Typs so in Erinnerung zu rufen, ... dass dabei die Leidensgeschichte des Volkes Israel und anderer Völker nicht relativiert wird" (128).

Die beiden Bände vermitteln dank perspektivischer Vielfalt, differenzierter Beobachtung und beachtlichem Reflexionsniveau einen starken Eindruck vom Fortschritt der Arbeit an der jüngsten Zeitgeschichte.

Corrigendum zu I,21: Die erwähnte Kontroverse mit Karl Barth führte Otto (nicht Martin) Dibelius.