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Ausgabe:

Februar/2001

Spalte:

172–175

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Strecker, Christian

Titel/Untertitel:

Die liminale Theologie des Paulus. Zugänge zur paulinischen Theologie aus kulturanthropologischer Perspektive.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999. 504 S. gr.8 = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 185. Lw. DM 168,-. ISBN 3-525-53869-3.

Rezensent:

Martin Karrer

Die methodischen Zugänge zum Neuen Testament erweiterten sich in den letzten Jahrzehnten außerordentlich, und nicht alle Neuansätze lösten die in sie gesetzten Erwartungen ein. Doch allemal bereichert sich die Forschung, wenn neue Impulse ein fruchtbares Zusammenspiel mit der klassischen historischen Erörterung eingehen. Ein Paradigma dafür bietet die vorliegende Studie, eine in Neuendettelsau bei Wolfgang Stegemann entstandene Dissertation (abgeschlossen 1996, nur im Vorwort Literaturnachträge bis 1998).

Ihren Ausgangspunkt bildet die Kultur- und Sozialanthropologie, vor allem die Erschließung des Rituals durch V. Turner (Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, 1989 [amerik. 1969] und viele andere Beiträge). Im englischsprachigen Bereich regt das die exegetische Forschung bereits einige Zeit an (Hinweise 17-23.77 f.). Deutschsprachig spielt es bislang vor allem in der Theorie über die Übergänge im Leben eine Rolle (im Anschluss an A. van Genneps Theorie der Passageriten). Strecker stellt die Grundzüge ausführlich dar (bes. 40-63 in den eröffnenden Theorieteilen I und II = 1-5 seiner Studie):

Ein Ritus trennt von Bisherigem (Separation, präliminal) und geleitet über eine Schwelle (lat. "limen"; daher das Leitmotiv "liminal" in St.s Titel) zu neuer Eingliederung (Aggregation, postliminal). In der liminalen Phase (an der Schwelle) herrscht eine Ambiguität und Unbestimmtheit, die Bilder von Geburt bis Tod freisetzt und die bis dahin gültigen Regeln bricht, also antinomistisch ist. Ein Ritualleiter erhält hohen Rang, namentlich insofern die Liminalität die "sacra" (den religiösen Bereich) betrifft.

In alledem verwandelt das Ritual mit seinen Symbolen die bestehende Struktur mit einem erheblichen Differenzpotential. Es stabilisiert Gesellschaft nicht nur (wie ein funktional orientierter Strukturalismus betonte). Vielmehr aktualisiert es "Communitas" (Gemeinschaftlichkeit) gegen die allgemeine Struktur, in einzelnen Gruppen (solchen permanenter Liminalität) mit einer Tendenz zu Dauer. Ein Prozess zwischen Communitas- und allgemeiner Gesellschafts-Struktur entsteht.

Dabei ändern sich auch liminale Bewegungen (zu denen Turner das frühe Christentum zählt) häufig allmählich von der Anti-Struktur (der Abweisung aller Strukturverhärtungen) über eine eigene Gegen-Struktur (eine entstehende Organisation) zu einer neuen Struktur (und provozieren so wieder liminale Aufbrüche). Liminalität und das Oszillieren zwischen Anti-Struktur und Struktur fördern gesellschaftliche Innovation, ohne dass wir bewahrende Momente ausklammern dürften.

St. weiß um das Wagnis, eine solche Theorie im geschichtlichen Rückblick zu verwenden. Wie jedes Modell abstrahiert sie. Sie muss darum (neben der Kritik an Einzelzügen) mit partikularen, kulturspezifischen Analysen verbunden werden, und das bei historisch unvollständigem Material. Sie muss unseren Außenblick mit dem Innenblick der Quellen abstimmen, und schriftliche Zeugnisse mitsamt ihren eigenen Nuancen (paulinisch etwa einem Verständnis von "communitas" über die horizontale Gemeinschaft von Menschen hinaus [66]) erhalten stärkeres Gewicht. Da Übergangsprozesse die Literaturentstehung sehr anregen, ist das Wagnis aber vertretbar (Reflexion 24-39 und 64-82).

Freilich braucht St. an einer Stelle eine gewichtige Modifikation. Während Turner den Vollzug des Rituals als vorgeschriebenes formelles Verhalten definiert, stellt er das transformativ-symbolische Handeln in den Vordergrund, um die Paulustexte zu erfassen. Er sieht das zwar bei Turner angelegt (67-69). Doch verschiebt sich der Schwerpunkt. Das feste Ritual tritt ins zweite Glied hinter liminale Transformationen im allgemeinen Sinn. Eine spezifische Ritualforschung wird dies als Eigenwilligkeit vermerken.

Die Anwendung auf die Theologie des Paulus (der große Teil III bei St.; 83-452) ist dadurch vorgezeichnet. St. untersucht nach S. 82 vier Ebenen der Transformation, die individuelle (bei Paulus das Damaskusgeschehen, bei den Gemeindegliedern die Taufe; bes. 6), die christologische (Tod und Auferstehung Christi; 7 und vgl. 9), die kosmische (Äonenwende; 8) und die kollektive Transformation (Aspekte um Communitas; 10).

Als Ritual im engeren Sinn erscheint in dieser Übersicht die Taufe. Aber sie erhält bei St. kein eigenes Kapitel, sondern wird von der Liminalität des Paulus, des Christusgeschehens und der gemeindlichen Communitas aus mit behandelt (neben 6 in den 7 und 10). St.s Erträge zielen - bestätigt sich - mehr auf liminale Theologie als auf Ritualforschung im engeren Sinn. Die Einzelheiten der reichen Darlegung sind im begrenzten Raum nicht zu referieren. Es genüge ein Überblick:

Das Damaskusgeschehen (83-157) erschließt sich laut St. als Initiation. Es transformiert Pauli Person (wie eine Bekehrung) und gibt ihm einen Auftrag (wie eine Berufung) mit der Eigenart, dass er in permanente Liminalität eintritt. Der Einschnitt gegenüber dem vorangehenden Status (dem gesetzes- und beschneidungsbewussten Paulus) erhält in diesem Theorierahmen beträchtliche Schärfe (bes. 115 f.118 ff. nach Phil 3). Die Sonderrolle gegenüber der neuen Gemeinde wird durch den Missionsauftrag (als Art horizontale Christuscommunitas; 107) und Linien zur Taufe, die allem christlichen Leben nach Paulus permanente Liminalität gebe (144 f. u. ö. bis 157), etwas abgefedert. Die Aggregation zu einer neuen, idealen Struktur schiebt sich bis zur Parusie und dem Politeuma von Phil 3,20 f. hinaus (das 133 f. zu antiken Utopien korreliert).

Für die Christologie (158-211) sucht St. seinen Ansatz an Phil 2,6-11 und Röm 6,3 f. zu bewähren. Phil 2,6-11 entschlüsselt er, angeregt durch Anspielungen auf ein Inthronisationsritual in den Versen 9-11, als Abfolge aus Statusbenennung (ÌÔÚÊ, 6a), Separation (V. 6b-7a), Schwellenphase (V. 7 f.) und Aggregation (V. 9-11). Das Leben Jesu und sein Tod am Kreuz werden zur liminalen Voraussetzung seiner Amtsinitiation zum Weltherrscher, die nach V. 11c zur Ehre Gottes gereiche (159-175).

In Röm 6,3 f. begegnet der Dreischritt von Separation, Liminalität und Aggregation an Tod, Begrabensein und Auferstehung Christi. Freilich ist er nun auf ein Passageritual für die Gemeinde bezogen, weshalb die christologische Darstellung nahtlos in eine solche der Taufseparation von der Sünde und der Taufinitiation übergeht (177-189). Der Rez. fragt sich, ob dieser Abschnitt nach der Rahmensetzung der Studie nicht mit den späteren Behandlungen der Taufe zusammen ein primäres Kapitel hätte bilden müssen. Der dortige Schwerpunkt, Taufe transzendiere in ihrer Liminalität alle geläufigen Stratifikationen (Gal 3,28; dazu 384-390 u. ö.), erweitert das Bild und verdient hohes Interesse.

Im Aufbau St.s schließt auf Grund der Verflechtung der Transformation Christi und der an ihn Glaubenden notwendig die Formel "in Christus" an. St. verankert sie an der Taufe und integriert die herkömmlichen Deutungsansätze zu vertikaler und horizontaler Christuscommunitas. Der Rez. hört die klassische "koinonia" in eine Modifikation von Turners Theorie eingebracht (wobei die vertikale Communitas über Turner hinausgeht, aber von der Turner-Schülerin B. G. Myerhoff vorbereitet ist; 189-211).

Bemerkenswert erschließt sich durch das Konzept das paulinische Zeitverständnis (nachdem das klassische Schon und Noch durch jüngere Forschung, bes. B. J. Malinas Betonung der erfahrenen Zeit, relativiert wird): Das spannungsreiche Gegenwartsverständnis des Apostels reflektiert die rituelle Liminalität, sein Motiv des Äonenwandels die Transitionalität (212-247; Akzente bei Röm 13,11-14 usw.). - Als ritueller Ansatzpunkt tritt dabei das Abendmahl neben die Taufe (laut 223 in 1Kor 10,1-11 auf die Wüstenzeit rückprojiziert). Eine strengere Durchführung des Ritusmodells hätte m. E. verlangt, das paulinische Herrenmahl als Ausgangsritus zu behandeln. Bei St. folgt es erst 320-335, dort bes. als Begründung der horizontalen Communitas (innigen Verbundenheit) der Christusgläubigen aus der vertikalen Communitas (313-335 u. ö.).

9 zeichnet darauf im Kreuz, obwohl Paulus es nicht häufig thematisiert, die theologische Mitte und Basis der liminalen Theologie. Denn die Transformation Christi, die Transformation der an Christus Glaubenden und die Wende der Äonen gewinnen hier ihr Schlüsselsymbol (248-299). Die zentrale Wertung des Kreuzes und die Ausführungen über Multivokalität, Effektivität und kritischen Charakter des Symbols bestechen. Doch ebenso fällt die Mühe auf, das Kreuz (durch das Konzept erzwungen) an rituellen Kontexten zu verankern (auch Verkündigung wird zu rituellem Handeln; 249 ff.), und die theologische Ausweitung auf die gesamte Theologie des Paulus wird angesichts der schmalen Belege ein Problem bleiben.

10 widmet sich der Communitas als der sozialen Ausformung der Liminalität (300-452). St. bemüht sich, eine rituelle Verwurzelung der paulinischen Gemeinden stärker als bislang in der Forschung berücksichtigt nachzuweisen, und bezieht dafür Prophetie, Glossolalie, Gesang etc. mit wichtigen Beobachtungen ein. Als zentrales rituelles Symbol (angelehnt an die zentralen Riten Taufe und Abendmahl; zu diesen s. o.) zeichnet er das paulinische Konzept vom Leib Christi. Das reale Erleben aus dem Ritus übersteigt dabei die Metapher, korrespondiert dem besprochenen In-Christus-Sein und konstituiert einen anti-strukturellen Impetus, der die Minimierung ethnischer, geschlechtlicher und sozialer Unterschiede fordert (Gal 3,28 usw.). Freilich gerät dieser (so 407-449) rasch in Konflikte, da die Communitas nicht Anti-Struktur bleibt, sondern sich (wie nach Turner theoretisch beschrieben) auf ein eigenes dauerhaftes soziales System auszurichten beginnt. St. wählt dafür den Begriff "normative Communitas" (407 ff. nach 61). Über den Begriff kann man streiten; das Licht, das auf die paulinischen Dilemmata um soziale und ethnische Gleichheit, um Sklaverei und Aufwertung der Frau fällt (Phlm; 1Kor 7 und 11,2-16), fesselt (wichtig auch der Einbezug des antiken honos-Denkens 448 u. ö. nach 279 ff.). St. verbindet Kritik schließlich mit positiver Würdigung: Selbst beschwerlicher normativer Communitas hafteten durch ihre Basis noch Momente der Freiheit an (452).

Überschauen wir die Studie, brilliert sie durch den Reflexionsgrad und den Reichtum der Exegesen (so gewiss der Rez. nicht allen folgen würde). St. wagt, ein Gesamtbild der paulinischen Theologie von der Überzeugung des Paulus aus, die Welt sei in einem fundamentalen Wandel begriffen, zu entwerfen und gibt der Paulusforschung damit einen überaus dankenswerten Impuls. Kritik hat demgegenüber ins zweite Glied zu treten. Der wichtigste Einwand liegt dabei auf der Hand: Die Ritentheorie im engeren Sinn wird durch die Textanalyse nicht ganz eingelöst. Paulus bewegt sich von seinen christologisch-theologischen Grunderfahrungen aus eher auf deren Aktualisierung an Riten zu, statt bei den Riten umfassend für seine Theologie anzusetzen. Indes ändert diese Gewichtverschiebung wenig an der grundsätzlichen Fruchtbarkeit dessen, urchristliche Theologie - und nicht nur die paulinische - aus einer Schwellen- und Umbruchserfahrung heraus zu entfalten. "Liminale" Theologie darf sich in der neutestamentlichen Forschung einbürgern (möglichst allerdings mit etwas weniger Spezialbegriffen).

Der Band ist im Übrigen, wie bei der Reihe gewohnt, vorzüglich gesetzt, und Fehler sind selten. Das Register (499-504) erschließt wenigstens die wichtigsten Bibelstellen.