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Ausgabe:

Februar/2001

Spalte:

166–167

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Ellis, E. Earle

Titel/Untertitel:

Christ and the Future in New Testament History.

Verlag:

Leiden-Boston-Köln: Brill 2000. XVII, 323 S. gr.8 = Supplements to Novum Testamentum, 97. Lw. hfl 190.-. ISBN 90-04-11533-1.

Rezensent:

Eduard Schweizer

Die ursprünglich selbständigen 18 Aufsätze (A Jesus, 3-94; B Diese und die kommende Welt, 96-211; C Geschichte und Profetie, 212-278) sind hier gesammelt, weil "das Problem des (wissenschaftlichen) Konsenses das ist, dass er gewöhnlich falsch ist" (216). Es ist heilsam, dem nachzudenken. Gegen diesen Konsens vertritt Ellis die Hypothese, dass alle Schriften des NT außer den johanneischen zwischen 50 (Jk vielleicht 40) und 68 zu datieren sind (15.234.223 f.: inkl. 13 Paulus- und 2 Petrusbriefe). Er kennt die Gegengründe; aber Mk 13,14 spielt auf Caligulas Plan anno 40 an, seine Statue im Tempel aufzustellen, und Lk 21,20-24 ist nur vom AT bestimmt (226-299, vgl. u.). Die Vorgeschichte der Evangelien ist kompliziert. Q war nie auf Worte Jesu begrenzt, war vielleicht sogar ein Evangelium (30. 40, Anm.14), wie kleinere Übereinstimmungen in Mt und Lk zeigen, wo sie Mk folgen (64-68). Auch Mt 26,61 ist ältere Fassung als Mk 14,58 (81, Anm. 66), und Lk kennt eine mit Joh gemeinsame Tradition (64-68). Mt ist Übersetzung einer hebräischen Vorlage (240). Er wird oft statt Mk zitiert, z. B. 12,1-8 (31), wo der "Konsens" Mk 2,23-28 schon wegen V. 27 ("der Sabbat für den Menschen") als älter einstuft.

Das entscheidende "Problem" bleibt für mich die konsequente Sicht Jesu als Lehrer, dessen Schüler seine Lehre auswendig lernen oder aufschreiben (26.34.37): "am Anfang war die Schule" (18). Jesus war Schriftausleger wie die Rabbinen, kein Apokalyptiker (23.53.228); von volkstümlicher Überlieferung ist keine Rede (14.247). E. nimmt Einwände ernst. Wie Bultmann zugibt, dass Jesus auch Rabbi war, so E., dass er auch Profet war (24.26 f.201 f.). Das gilt auch für die (219: von Anfang an kontrollierte!) Weitergabe durch die Jünger (241). In der Missionsarbeit zur Zeit Jesu (15 f.246 f.) und der des Jakobus, Petrus, Paulus, Johannes (der Zebedaide, der schon vor 66 missionierte, 75.88!) wurden schriftliche Berichte über Jesus verwendet (19.227), die in den Gottesdiensten der Gemeinden neben dem AT gelesen wurden und zur Grundlage von Mt, Mk, Lk, Joh wurden und ihnen kanonische Geltung (30.235-239. 265) und, recht verstanden, Unfehlbarkeit (186) verliehen. Lehr-Terminologie spielt daher im NT eine wichtige Rolle (243-250), und ethische wie eschatologische Aussagen Jesu wirken darin nach (31-37). Auch hier ist E. nicht stur: Gottes Wort ist auch die Folgerung des Erzählers von Gen 2,24 oder die Aktualisierung in einer bestimmten Situation (Lk 9,23: "täglich"), solange sein wahrer Sinn klar wird (253 f.266 f.). In diesem Sinn kann man mit K. Barth sagen, dass die Bibel Gotteswort wird, so sehr sie es auch ist (275). E. ist auch keineswegs blind für Differenzen; er erklärt sie durch Vielfalt der Kopien, freies (251: prophetisches) Zitieren, die Schwierigkeit des Nachschlagens und textkritische Unsicherheit (240 f.). Theologisch gesehen war das "Messiasgeheimnis", das Jesus erst im Prozess offenbarte, seine "Göttlichkeit" (38.43.76 f.). Unmessianisch war sein Wirken nie (68 f.). Der neue Aeon ist darin schon Gegenwart (112 f.116). Entscheidend ist sein Tempelwort. Schon Mt 21,42 f. sieht er sich implizit als Schluss- oder Eckstein des Tempels (58, Ps 118,22). Wichtiger ist Mk 14,58 in der Form: "Ich werde diesen Tempel zerstören und in drei Tagen einen andern bauen" (44-46), was schon Mk auf den Auferstehungsleib bezieht (wie Joh 2,18-22, 81). Darum interpretiert er auch in Mk 1,2 das Kommen Jahwes in seinen Tempel (Mal 3,1) als seine Inkarnation in Jesu Leib (49 f.). Das ermöglicht die Aussage von der Gemeinde als neuem Tempel (1Kor 3,16; 6,19) und messianischem Israel (57 f.). Mit den Abendmahlsworten schließt Jesus seine Jünger darin ein (86, vgl. auch Lk 10,16; Mt 25,40; Joh 13,20 und S. 114: Apg 9,4). Immer wieder erinnert E. an die hebräische Sicht einer "corporate personality" (85.126. 154.171.187 usf.), "ontologisch" nicht weniger real als der individuelle Leib (und seine sexuelle Verbindung mit anderen, 172). Jesu Hinweis auf den "Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs" (Mt 22,32), also des Bundesvolks, entspricht der "corporate solidarity" von Gal 2,19 f. wie Kol 3,3 f. (96-100).

Das begründet die neutestamentliche Eschatologie. Mit Christus gestorben, auferstanden und erhöht sind die Glaubenden im Jahr 33; individuell bei ihrer Bekehrung und aktualisiert bei der Parusie (100.150-152.176, zu Jesus selbst: 119). Nach 2Kor 5,1.3 ist der "himmlische Bau" nach dem Ablegen des "irdischen Zelts" "Christ's corporate body" (157-160). Auch Lukas denkt nicht platonisch. Der Auferstandene lebt im "Fleisch" (111. 127f.: Lk 24,39; Apg 2,31). Dass Parusieverzögerung für Lk ein Problem war und von ihm durch Heilsgeschichte ersetzt wurde, lässt sich nicht beweisen (gegen Bultmann, Conzelmann: 117). Dass Stellen wie Mt 25,46; Jud 7 nicht ewig dauernde, sondern unser ewiges Leben betreffende Strafen (also den definitiven Tod) lehren, ist tröstlich. Jene gälten also höchstens dem Teufel (Offb 20,10), sind aber in Hebr 2,14 bestritten (194).

So ist der Kern des NT in der Tat als "durch die Person Jesu Christi definierte Eschatologie" (X) zu bestimmen, wie es in den oben schon mehrfach zitierten drei letzten Kapiteln zusammenfassend als durch Propheten geprägte, historisch zuverlässige Geschichte der frühen Christenheit geschildert werden kann (212-278).

So dankbar ich diese sorgfältige Herausforderung bedenken und mich an die nur relative Gültigkeit unserer Hypothesen erinnern lassen will, so viel näher bleibt mir Bultmanns Gewichtung (Jesus "auch" Rabbi) als die von E. ("auch" Prophet). Meine Fragen sind nicht neu. Kann man die späten rabbinischen Traditionen in die Zeit Jesu zurückverlegen? Unmöglich ist das nicht, aber ist es wahrscheinlich? In der Passionsgeschichte spielen Pharisäer keine Rolle, sondern nur der sadduzäische Priesteradel. Gegen ihn kämpfen auch die Qumranschriften. Dass schon vor, aber besonders nach 70 n. Chr. die dann für die Gemeinde entscheidenden Pharisäer und Gesetzesdiskussionen die Tradition stärker prägten, auch historische Auseinandersetzungen Jesu, leuchtet mir immer noch ein. Eine natürlich zu erwartende Freiheit der Überlieferung stört mich kaum, wohl aber die Frage: Wenn diese so "kontrolliert" verlief, wie E. meint, wieso sind nicht einmal die Worte zum Abendmahl und das Unservater eindeutig bezeugt? Und erst recht, werden dann nicht die sich in nicht unwesentlichen Punkten widersprechenden Berichte vom Auffinden des leeren Grabs und besonders von den Ersterscheinungen des Auferstandenen (in Jerusalemlem? - in Galiläa?) zum wirklichen Problem? Außerdem erzählen die Rabbinen Gleichnisse, um einen Lehrsatz zu beweisen. Ein solcher fehlt bei Jesus fast immer, weil sein Gleichnis sich nicht darauf reduzieren lässt und unentbehrliche Form seiner Botschaft bleibt.

Weitere Fragen wären: Dass Jesus gelegentlich vom Gottesknecht von Jes 53 gesprochen hat, ist durchaus denkbar; aber wenn Mt 8,17 das auf Heilungen Jesu bezieht (53) und erst Lk 22,37 (und Apg 8,32 f.) auf seine Passion, bleibt das unsicher. E.s Ablehnung des platonischen Dualismus ist auch mir wichtig. Freilich würde ich 2Kor 5,3 neben 1Kor 15,53 nicht ethisch interpretieren (trotz den Belegen S. 157-159), sondern: "vorausgesetzt (natürlich), dass wir nicht nackt bleiben (wie die Platoniker meinen)", was die platonische Sicht ebenso ausschließt. Auch dass schon Jesus mit seinen Tischgenossen, Hörern und Jüngern so etwas wie eine "corporate identity" im NT begründete, könnte ich ähnlich sagen: "In Christus leben" nimmt gewiss Sterben und Auferstehen in bestimmter Weise vorweg. Vielleicht könnte E. sich auch meiner hermeneutischen Frage anschließen: Müssten wir heute auf Grund der Relativität von Zeit und Raum nicht überlegen, dass diese mit unserem Tod aufhören und wir so direkt vor dem Jüngsten Tag stehen? Dasselbe gilt für E.s Satz, dass die zentrale Aufgabe der Kirche die Christusverkündigung ist, nicht die Herstellung sozialer Gerechtigkeit in der Welt (205.210), mit dem ich einverstanden bin, aber mit Zufügung der Frage, ob in der gegenüber dem Römischen Reich ganz anderen Situation demokratischer Verantwortung das nicht auch von allen gefordert und manchen als Berufung zugeordnet ist. Dass Jesu eschatologische Sicht (Mt 24,43Q) mit der von 1Thess 5,2-4 zusammenhängt (34), leuchtet ein; aber ist nicht 1Thess 5 originaler, weil es das "Kommen wie ein Dieb" auf den Gerichtstag bezieht (wie auch 2Petr 3,16), nicht auf das Kommen Christi wie Mt 24. Bei Lk 21,20-24 denke ich (anders als E., 228-231) an eine durch die Erfahrung der Eroberung Jerusalems und der Wegführung "unter alle Heiden" anno 70 geprägte Einfügung in den Markusbericht. Auch die Streichung des Kommens Jesu "mit den Wolken des Himmels" (Mk 14,62) "mit Macht" (Mk 8,38/9,1) bewerte ich als spätere Redaktion des Lukas, da ich nicht (mit E. 133-139) annehme, dass von Anfang an eine Erfüllung in der Verklärung/Auferstehung Jesu im Gesichtsfeld dieser Stellen lag.

Besser kann ich meinen Dank für E.s faire, immer wieder durch Forschungs- und Philosophiegeschichte ergänzte (20-28.108-112.179-184.216-218.243-250.255-251) Darstellung nicht ausdrücken als mit diesen fragmentarischen Anregungen zu weiterer geschwisterlicher Diskussion im kirchlichen Raum akademischen Forschens und gemeindlichen Lebens.