Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/2001

Spalte:

148–151

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Jonas, Hans

Titel/Untertitel:

Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Christian Wiese.

Verlag:

Frankfurt-Leipzig: Insel 1999. 544 S. 8. Geb. DM 68,-. ISBN 3-458-16944-X.

Rezensent:

Rainer Kattel

"Mit Hans Jonas beginnt die moderne Gnosisforschung."1 In diesem schlichten und heute auch unumstrittenen Satz verbirgt sich ein mühsamer Weg der Anerkennung. Es ist das Schicksal der frühen Arbeiten von Jonas zur Religionsphilosophie - hierzu gehört auch seine erste selbständige Veröffentlichung "Augustinus und das paulinische Freiheitsproblem"2 - und insbesondere zur Gnosis gewesen, vornehmlich wegen ihrer philosophischen Interpretationen und des an Heidegger erinnernden Sprachgebrauchs auf großes Un- oder Missverständnis in der Fachwelt gestoßen zu sein. So beurteilt z. B. H. Koch das Augustinus-Buch wie folgt: "Die Schrift ist Herrn Prof. Bultmann gewidmet und er mag an einer solchen Sprache seine Freude haben. Andere sehen darin mit mehr Recht einen groben Unfug, durch den deutsche Gelehrte sich und die deutsche Wissenschaft vor der übrigen Welt lächerlich machen. ... [U]nd der neuzeitliche Jonas verdient wegen der deutschen Sprache drei Tage und drei Nächte Haft im Bauche eines großen Fisches."3

Es ist wohl eine bewusste Haltung von J. gewesen, die traditionellen Interpretationen herauszufordern: "I deliberately took risks and made very bold statements in the philosophical interpretation."4 Auch wenn inzwischen nicht nur seine Beiträge zur Gnosisforschung, sondern auch z. B. die im Augustinus-Buch befindlichen Überlegungen zur stoisch-christlichen Freiheitsproblematik und zur Entmythologisierung als klassisch gelten, blieben die philosophischen Ansätze in einer Schattenlandschaft der Missverständnisse zurück. Es schien daher angemessen, auf diese zu verzichten. Das im Jahre 1958 erschienene "The Gnostic Religion. The message of the alien God and the beginnings of Christianity"5, dessen erstmalige deutsche Übersetzung hier vorliegt, ist demzufolge eine kürzere und vor allem philosophisch-methodologisch sowie sprachlich vereinfachte Fassung von "Gnosis und spätantiker Geist", Teil I: Die mythologische Gnosis, 1934 erstmals erschienen.6

Der Zeitpunkt des jetzigen Erscheinens dieser Übersetzung scheint wohl eher zufällig zu sein. Aus dem mittlerweile zugänglichen Nachlass von Hans Jonas im Philosophischen Archiv der Universität Konstanz geht hervor, dass die Vorbereitungen der deutschen Übersetzung durch seine Frau Lore Jonas schon Anfang der 60er Jahre begonnen haben.7 Sie müssen dann ins Stocken geraten sein; spätestens im Jahre 1982 wurden sie aber wieder aufgenommen, vermutlich durch Bemühungen Jacob Taubes'8 und des Insel-Verlages9, wobei die deutsche Ausgabe ursprünglich durch einige weitere Wiederveröffentlichungen erweitert werden sollte. Die jetzt vorliegende Übersetzung folgt aber der erweiterten 2. Auflage des englischen Originalwerks von 1958; weder aus dem Nachlass noch aus dem Buch selbst geht hervor, aus welchen Gründen die früheren Versuche scheiterten und - was problematischer ist - wer die jetzt erschienene Übersetzung nun eigentlich angefertigt hat.

Es ist die geniale Leistung von "Gnosis und spätantiker Geist" gewesen, die wild über die ersten nachchristlichen Jahrhunderte zerstreuten gnostischen Zeugnisse unter den einen Begriff der Gnosis zu bringen. "Der Begriff der Gnosis", so heißt nicht nur die 1928 angenommene und 1930 als Teildruck erschienene Marburger Dissertation10 von J., sondern dieser ist auch gleichzeitig Voraussetzung und Endergebnis von Gnosis I-II. Er wird durch die Frage "nach der letzten wurzelhaften Einheit des Prinzips in dieser Erscheinungsmannigfaltigkeit" gnostischer Bewegungen gewonnen und "führt zuerst zu den existentialen Wurzeln selbst, d. h. zu der ,gnostischen' Daseinshaltung." (Gnosis I, 12) Diese einheitliche Grunderfahrung besteht für J. in einem antikosmischen eschatologischen Dualismus, dessen bewegendes Motiv "Entweltlichung" ist (5). Solch ein geistesgeschichtlicher Oberbegriff ermöglichte erstmalig in der Forschungsgeschichte, die Gnosis als geschichtliche Erscheinung und Objekt der wissenschaftlichen Schau als etwas entscheidend Neues und damit Selbständiges anzusehen. Dadurch wurde ein umfassend erweiterter Blick auf die Gnosis und den spätantiken Geist als geistesgeschichtliche Erscheinungen nicht nur ermöglicht, sondern sogar erforderlich: die Gnosis ist nunmehr nicht nur das Endergebnis, sondern zugleich auch Anfang einer neuen religionsgeschichtlichen Entwicklung (was wiederum die verblüffende Freiheit der Gnostiker im Umgang mit der Tradition erklärt). So konnte J. auch u. a. Philo und Plotin in das Thema Gnosis einbeziehen, was streng historisch-philologisch gesehen schwierig, wenn nicht unmöglich gewesen wäre. Die Ursprungsfragen der Gnosis, die die Forschung am Anfang des letzten Jahrhunderts wie auch heute noch im Übermaß bestimmen, wurden aber freilich auf eine eher unbedeutende Position gerückt.

Diese bewusst philosophische Begriffsbildung geschah durch eine anscheinend nicht nur methodologische Verwendung von Heideggers Sein und Zeit, vor allem durch Verwendung von Begriffen wie In-der-Welt-sein und Geworfenheit und Begriffsbildungen wie Daseinshaltung: "Zu Beginn hatte ich jene Tauglichkeit einfach als einen Fall ihrer vermeintlichen Allgemeingültigkeit angesehen, die ihren Nutzen für die Auslegung einer jeden menschlichen ,Existenz' verbürgte." (Gnosis, 378) Nicht zuletzt deswegen sah J. sich genötigt, dieses Thema nach Jahrzehnten erneut aufzugreifen; auch das vorliegende Buch endet mit dem vielfach nachgedruckten "Gnostizismus, Existentialismus und Nihilismus" (377-400; Erstveröffentlichung in Social Research, 1952, 19, 430-452), das zum einen die anscheinend neutrale Anthropologie der fundamental-ontologischen Daseinsanalyse und zum anderen eine explizite Kritik am frühen Heidegger thematisiert. Dabei bleibt erstere durch letztere überschattet und die eigentliche, auch in der weiteren Forschung außer Acht gebliebene Frage nach der geistesgeschichtlichen und systematischen Bedeutung des Begriffs der Gnosis bei J. unbeantwortet.

Gnosis/The Gnostic Religion verzichtet aber völlig auf diese oft missverstandene philosophische Begriffsbildung und beginnt stattdessen mit einer hervorragenden geschichtlichen Einleitung (23-52), in der die Gnosis vom geschichtlich-politischen Gesichtspunkt her als Entstehung und Entwicklung eines allgemeinen Prinzips der spätantiken Geistesgeschichte dargestellt wird. Trotz der herrlich zu lesenden Prosa und des unübertrefflich genauen historischen Blicks ist sich J. selbst bewusst, dass seine Beschreibung eher hypothetisch ist (52). Das heißt aber, dass auch hier der einheitliche geistesgeschichtliche Begriff der Gnosis der früheren Arbeiten angenommen, aber nicht mehr entwickelt wird; es wird lediglich auf Gnosis I verwiesen. Die in der Gnosis zu Tage getretene einzigartige (religiöse) menschliche Erfahrung wird in einer geschichtlichen Beschreibung aufgelöst. Dies bringt die darauf folgende eher systematische Darstellung in eine sonderbare Stellung, da die geschichtliche Linie nicht weiter verfolgt wird. Die beiden ersten Teile des Buches, "Gnostische Literatur - Hauptlehren, symbolische Sprache" (Kapitel 2 und 3, 53-130) und "Gnostische Systeme" (Kapitel 4 bis 9, 131-281), erscheinen zudem fast in derselben Reihenfolge wie in Gnosis I, aber sprachlich neubearbeitet und vereinfacht. So ist ein äußerst lesbares und lehrreiches Buch entstanden, das aber seine bewegende Kraft nicht aus sich selbst, sondern von irgendwo anders her bezieht.

Der dritte Teil, "Gnosis und klassisches Denken" (Kapitel 10 und 11, 287-344), ist eine selbständige Zusammenfassung der insbesondere in Gnosis I von Anfang an unternommenen, begrifflich sehr starken Gegenüberstellung von Antike und Gnosis. Hier versucht J., die gnostische Weltfremdheit und Personifizierung der himmlischen Mächte in einer Spiegelung gegenüber der antiken klassischen Kosmosfrömmigkeit und Mythologie mit ihren subtilen Entwicklungen hin zum Monotheismus zu skizzieren. Obwohl man in diesem Teil einen ausgezeichneten Altphilologen sieht, betreibt J. diese Gegenüberstellung, die religionsgeschichtlich schwer nachweisbar ist und hier als eine eher heuristische Leistung anzusehen ist, wohl allzu direkt.

Das 12. Kapitel, "Die neuesten Entdeckungen auf dem Gebiet der Gnosis" (345-376), erst für die 2. englische Auflage geschrieben, versucht die bis dahin (1963) veröffentlichten Schriften der Nag Hammadi-Bibliothek in die ältere Gesamtdarstellung einzubeziehen. Dieses Kapitel fällt aus der übrigen Darstellung einigermaßen heraus, da es eine eher philologische Beweisführung bietet. Hinzu kommt, dass zu diesem Zeitpunkt nicht alle Schriften veröffentlicht und für J. zugänglich waren, womit der Wert dieses Kapitels fraglich geworden ist. Der Herausgeber, der das Buch mit einem ausgezeichneten, J.' Lebenswerk zusammenfassenden Nachwort (401-429) versehen hat, hätte hier doch wohl eine andere Entscheidung treffen müssen, wobei er die Alternative gehabt hätte, entweder dieses Kapitel wegzulassen oder - z. B. in ausführlichen Anmerkungen - auf den gegenwärtigen Forschungsstand zu bringen. Letzteres wäre um so wichtiger gewesen, als gerade dieses Kapitel die Anforderung stellt, das Jonassche Begriffsschema im Lichte der veränderten Quellenlage (und dazu gehören auch die neueren Erkenntnisse über gnostische Riten) neu zu überdenken, insbesondere im Hinblick auf die wachsende Kritik am Jonasschen Begriff und an der diesen bestimmenden Annahme eines radikalen antikosmischen Dualismus.

J. selbst hat seine frühen Gnosisarbeiten in ein neues Licht gesetzt, indem er in zusammenfassender Rückschau in der Gnosis mehr und mehr ein systematisches Problem gesehen hat, was wiederum mit seinen späteren Arbeiten zu einer philosophischen Biologie und Ethik in Zusammenhang steht.11 Auch in diesem Buch äußert er sich dazu: "Erstmals in der Geschichte wurde die radikale ontologische Differenz von Mensch und Natur entdeckt und diese tief aufwühlende Erfahrung in fremdartigen und faszinierenden Lehren zu Ausdruck gebracht. Dieser Riß zwischen Mensch und Natur ließ sich danach nie wieder schließen" (196). Leo Strauss, ein lebenslanger Freund von Jonas, schreibt nach der Lektüre von "The Gnostic Religion" an Jonas: "Things changed radically when I came to Part III [auch hier der dritte Teil], where you made abundantly clear that the historical phenomenon discussed by you must be of concern to every thinking man. In other words, ... I saw for the first time the connection between this fundamentally earlier study of yours and your present preoccupations. I would state it as follows: gnosticism is the most radical rebellion against physis. Our problem now is to recover physis."

Darauf antwortet J.: "Die Verbindung zwischen diesem Thema und meinem neuen hast Du mit dem Problem der physis wunderbar richtig gekennzeichnet."12 Es geht darum, dass im gnostischen existentialen Vollzug (oder wie J. sagt: "auf der Gefühlsebene", 298) eine Erfahrung des Selbstseins gegenüber dem Anderssein, d. h. der Subjektivität und deren Freiheit zum Guten wie zum Bösen, vorhanden ist und im Mythos und in den Riten eine religiöse Äußerung findet. Wenn man eine solche Deutungsmöglichkeit der inhaltlichen Begriffsbestimmung bei Jonas voraussetzt (für weitere Hinweise in diesem Buch s. 76-77, 120, 130, 185, 253, 270, 275, 325), ist es aber in der Tat zumindest schwierig nachweisbar, in der Gnosis einen radikal antikosmischen Dualismus zu sehen, zumal das Empfinden einer Distanz zwischen Mensch und Gott wahrscheinlich zum religiösen Bewusstsein an sich gehört. Auf der anderen Seite tritt so viel deutlicher das in der Gnosis steckende systematische Problem zu Tage, und hier kann man mit Recht auch Wurzeln der modernen, sich selbst überlassenen Subjektivität sehen, die J. in: Das Prinzip Verantwortung (Frankfurt a. M. 1979) behandelt.

Es ist aber eigentlich selbstverständlich, dass die neueren Quellenmaterialien eine gewisse Kritik der religionsgeschichtlichen Details bei J. erforderlich machen. Diese Kritik13 bezieht sich hauptsächlich auf folgende Punkte: die Einbeziehung von Origenes, Philo und Plotin in den gnostischen Bereich und die damit verbundene Thematik des "spätantiken Geistes" als einer dominanten Weltanschauung; die gnostische Moral, für die J. eine Typologie von asketischer und libertinistischer Praxis aufgestellt hat - insbesondere für letztere gibt es in den neuen Texten keinen Beleg, vielmehr dominiert die Askese, "während der libertinistische Vorwurf ein häresiologischer Topos der Polemik zu sein scheint" (Rudolph) -; und schließlich die Ursprungsfrage, wobei die Kritik gegen J.' entschiedene Ablehnung einer Verwurzelung der Gnosis im Frühjudentum gerichtet ist: die Annahme eines status nascendi der Gnosis in der jüdischen weisheitlichen Literatur scheint doch möglicherweise gerechtfertigt.

Das hier vorliegende Buch, das "auf den gebildeten Leser wie auf den Gelehrten ausgerichtet ist" (17), ist jedoch insgesamt nur scheinbar mit einer Verspätung von Jahrzehnten erschienen. Inhaltlich ist es immer noch, zusammen mit "Gnosis und spätantiker Geist", die tiefste Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Gnosis inmitten einer Forschung, die anscheinend andere Wege einzuschlagen sucht.

Fussnoten:

1) B. Aland, in: dies. (Hrsg.), Gnosis. Festschrift für Hans Jonas, Göttingen 1978, 11.

2) Göttingen 1930; 2., neubearb. und erw. Auflage mit einer Einleitung von J. M. Robinson, 1965.

3) ThLZ 55, 1930, 469. Nach Robinson hat die Kochsche Rezension beinahe die Publikation von "Gnosis und spätantiker Geist I" verhindert; "nur das Einsetzen der ganzen Autorität Bultmanns als Herausgeber der Reihe hat die geplante Veröffentlichung dennoch durchgesetzt." S. Augustinus, "Einleitung", 11, Anm. 1.

4) Interview mit I. P. Culianu, in: Gnosticismo e pensiero moderno: Hans Jonas, Rom 1985, 138.

5) Seit 1963 in zweiter erw. Auflage; erschienen in Boston bei Beacon Press und das letzte Mal 1991 nachgedruckt. Das Buch wurde in der ersten Auflage in der ThLZ von K. Rudolph besprochen; 1961, 26-31. "The Gnostic Religion" ist in der angelsächsischen Welt wohl die bekannteste Gnosisarbeit von Jonas; vgl. K. Rudolph, "Hans Jonas und die Manichäismusforschung", Gnosis und spätantike Religionsgeschichte. Gesammelte Aufsätze. Nag Hammadi and Manichaean Studies, XLII, 1996, 778.

6) Dieses Werk liegt heute in 4. Aufl. (Göttingen 1988) vor; der zweite Teil, "Von der Mythologie zur mystischen Philosophie", wurde in einer von Rudolph herausgegebenen Fassung in zwei Hälften - II,1 erschien schon 1954 - 1993 veröffentlicht (die Plotin-Interpretation ist wohl unvollständig geblieben). Die entsprechenden Besprechungen in der ThLZ durch H.-M. Schenke sind: ThLZ 84, 1959, 813-820; ThLZ 85, 1960, 657-661; ThLZ 122, 1997, 237-239.

7) S. HJ 3-10-1 bis 13. - Im Folgenden wird die Bezeichnung HJ für die Konstanzer Archivmaterialien verwandt; hierauf folgt jeweils die Dokumentennummer.

8) S. Brief an Jonas vom 2.8.1982, HJ 6-1d-7.

9) S. Korrespondenz zwischen Hans Jonas, der Übersetzerin Angelika Schweikhardt, Siegfried Unseld u. a., HJ 5-24-1 bis 5; und die in HJ 6-1 enthaltenen Briefe und Kopien von Teilen eines von Hans Jonas schon korrigierten Typoskriptes der Übersetzung.

10) Diese ist identisch mit Teilen aus Gnosis II: 1-55, 2. Abschnitt S. 57, 2. Hälfte der S. 61, 2. Abschnitt S. 62 und Ende der S. 63 bis S. 65.

11) Hier sei nur auf "A Retrospective View" (Proceedings of the International Colloquium on Gnosticism, Stockholm August 20-25, 1973, Stockholm 1977, 1-15) hingewiesen.

12) 19.10.1958, HJ 7-13b-10 und 28.12.1958, HJ 7-13b-10.

13) Zusammengefasst in K. Rudolph, "Hans Jonas als Gnosisforscher", Vortrag an der Universität Konstanz anlässlich der Eröffnung des Hans Jonas-Archivs, 15.05.1998, demnächst in: Trames, 2000, 4.