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Ausgabe:

Januar/2001

Spalte:

105–107

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Schnitzspahn, Gerhard

Titel/Untertitel:

Der evangelische Kindergarten. Ein religionspädagogischer Beitrag zur Neubestimmung des evangelischen Profils.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1999. 366 S. gr. 8. DM 68,95. ISBN 3-17-015984-4.

Rezensent:

Rainer Lachmann

Spiritualität hat in vielen Bereichen unvermindert Konjunktur. Nicht zuletzt gilt das für die Handlungsfelder der Praktischen Theologie: 1993 erschien z. B. für den Bereich Evangelischer Erwachsenenbildung Hans-Joachim Petschs Arbeit "Reflexion und Spiritualität" (Studien zur Theologie Bd. 7, Würzburg); 1999 für den Bereich Evangelischer Kindergartenarbeit von Schnitzspahn die hier zu besprechende Mainzer Dissertation. Sie versucht in "doktorabler" Breite eine "Neubestimmung" des evangelischen Profils "evangelischer Kindergärten von der Spiritualität" her (17) und könnte sich dabei von dem jüngst in England erschienenen "International Journal of Children's Spirituality" unterstützt und bestätigt sehen. Auch wenn man der Arbeit insgesamt eine straffere und zielgerichtetere Gedankenführung und Stoffauswahl mit weniger Wiederholungen und Zusammenfassungen gewünscht hätte, muss man doch dankbar anerkennen, dass mit ihr endlich auch für das Gebiet des evangelischen Kindergartens eine umfassende und eingehende religions- und gemeindepädagogische Untersuchung vorliegt. Sie bietet - bei gezielt kritischer und selektiver Lektüre - aspektreiche Information und kann zu heilsamen Infragestellungen, Neubelichtungen und Ergänzungen eingefahrener Traditionen und Positionen führen, die anregen, aufregen und der Sache zugute weiterführen können. Wo so in kritischer Ausrichtung an Sch.s fragwürdiger spiritueller Zielsetzung der Geist den Leser bewegt, lassen sich für diesen auch die bisweilen weitschweifigen Durststrecken der Dissertation bewältigen und aushalten.

Die "Einleitung" (11-24) beschäftigt sich mit den bekannten Dilemmata volkskirchlicher Kindergartenarbeit, konstatiert eine allgemeine "spirituelle Leere" und entwickelt aus dem "vielbeklagten Mangel an Spiritualität" die "Kernthese der vorliegenden Arbeit", durch "Bildung und Spiritualität (durch Gebet)" einen Weg profilierter evangelischer Kindergartenarbeit aufzuzeigen (17 ff.). Daraus ergeben sich die "Ziele" der Arbeit, ihre "Methodik" und ihr "Aufbau", der in vier Teilen 1. die historische Entwicklung, 2. die gegenwärtige Praxis des konfessionellen Kindergartens, 3. die religionspädagogischen "Voraussetzungen für die Neubeschreibung" seines Profils und 4. den "neuen Begründungszusammenhang für evangelische Kindergärten" erarbeitet.

Das 2. Kapitel befasst sich zunächst mit dem "evangelischen Kindergarten aus allgemein-historischer Perspektive", als "eine evangelische Erfindung" (25) natürlich mit Martin Luther beginnend und im 19. Jahrhundert mit Johannes Fölsing (1818-1882) endend. Diesem primär personenorientierten Überblick folgt eine Auseinandersetzung mit bedeutsamen Vertretern und Werken der Praktischen Theologie von Carl Immanuel Nitzsch (1787-1868) und Theodosius Harnack (1817-1889) bis Gert Otto und Dietrich Rössler. Der Befund unter der Fragenperspektive des Kindergartens ist eindeutig: In der praktisch-theologischen Theorie der letzten 100 Jahre kommt dem Kindergarten nur "eine untergeordnete Rolle" zu (89). Mit der religionspädagogischen "Wendezeit" Ende der sechziger/Anfang der siebziger Jahre änderte sich die allzu lang gepflegte Marginalisierung evangelischer Kindergartenarbeit und entwickelten sich unter allgemein- und sozialpädagogischem Einfluss eigenständige Konzepte und Theorieansätze, wobei Sch. vor allem auf den "Situationsansatz" abhebt. Besonders im Kontext der Gemeindepädagogik, die sich seit Mitte der siebziger Jahre neben der schulischen als gemeindliche Religionspädagogik (unter dem Dach einer übergreifenden allgemeinen Religionspädagogik) neu herausbildete, erfuhr die Theoriebildung evangelischen Kindergartens kritische Aufarbeitung und konstruktive Neuansätze, die von Sch. kurz bis verkürzt referiert und im Interesse eigener Profilierung kritisch gewürdigt werden.

Er wirft besonders den Konzepten von Nipkow und Lachmann, die - ohne Verleugung des Propriums und christlichen Profils (!) - für "offene Repräsentanz" des Christlichen im evangelischen Kindergarten plädieren, vor, dass ihr Kirchenverständnis und ihre Situationsanalyse nicht mehr der bundesdeutschen Realität (nach der Wende?) entsprechen (120 f.). Die daraus ex negativo gezogenen Schlüsse machen deutlich, in welche Richtung die Neuprofilierung Sch. geht: "Vornehme kerygmatische und konfessorische Zurückhaltung" in der Kindergartenarbeit ist "nicht mehr Höhe der Zeit". Deshalb dürfen die "Erzieherinnen von ihrer Aufgabe der Glaubenstradierung mit kerygmatischen Elementen" nicht dispensiert werden, sondern muss der evangelische Kindergarten "der Ort sein, an dem Kindern in angemessener Weise zu ihrem Recht auf religiöse und spirituelle Erfahrungen verholfen wird" (121 f.). Wer wollte das nicht? Aber welche Erzieherin kann das in unserer säkular-pluralistischen Gesellschaft wirklich leisten? Die gesellschaftliche Situation hat sich in dieser Hinsicht nicht verändert, höchstens verschärft, und das ändert auch die Tatsache nicht, dass sich mit der Wiedervereinigung die "Monopolstellung der kirchlichen Einrichtungen gegenüber den staatlichen oder anderen freien Trägern relativiert" hat (158).

Mit einer problemsichtigen "Bestandsaufnahme gegenwärtiger Herausforderungen" aus der Perspektive der Träger, der Gemeinde, der Erzieherinnen, der Eltern und der Kinder versucht das 3. Kapitel "Struktur und Funktion des evangelischen Kindergartens heute" zu erfassen. Dem, was Sch. in seinen Ausgangsthesen an defizitären Herausforderungen herausstellt - die Kirche "nimmt nicht genügend Rücksicht auf die Kinder"/"Eltern wünschen Begleitung in religiösen Fragen und bekommen sie nicht"/"Die Ausbildung in kirchlichen Erzieherinnenschulen ist zu wenig religionspädagogisch ausgerichtet" (150) -, kann man nur zustimmen. Das gilt im Wesentlichen auch für die "Schlußfolgerungen", die der Vf. aus seiner Bearbeitung und "Bewertung" der fünf Perspektiven zieht: Das Kind "muß im Mittelpunkt einer kindgerechten Kindergartenarbeit stehen". Da "eine Vertrautheit der Bevölkerung mit der Kirche nicht mehr gegeben" ist, werden "neue und andere Zugänge zu Religiosität und Spiritualität, die offener sind und stärker bei der Lebenswelt der Kinder ansetzen, immer wichtiger" und gilt es zu überlegen, wie man Religion im Kindergartenalltag ausdrücklich machen kann! Wenn es dabei kompensatorisch möglich ist, "daß Kinder im Kindergarten Dinge lernen können, die sie zuhause nicht lernen können, dann muß das auch für alle Aspekte der religiösen Erziehung gelten", wie - und damit ist Sch. wieder bei seiner "Profilierungsnummer" angelangt! - "beispielsweise das Beten". Dass der festgestellte Bedeutungsverlust religiöser Erziehung im Elternhaus die Kirche nicht von "ihrem Verkündigungsauftrag" bzw. religionspädagogisch exakter (?): ihrer Erziehungs- und Bildungsaufgabe entbinden darf, versteht sich nach dem bisher Ausgeführten und Aufgeführten beinahe von selbst.

Nach dem 4. Kapitel "Religionspädagogik und Entwicklungspsychologie", das im Wesentlichen bekannte Modelle der Glaubensentwicklung referiert, kommt Sch. im 5. Kapitel endlich zur "Sache", zu seiner "Neubestimmung" des Profils evangelischer Kindergartenarbeit, für die leider nur noch (zusammen mit der "Synopse" des 6. und dem "Ausblick" des 7. Kapitels) 20 Seiten "übrig" bleiben. Das neue profilbildende "Heil" wird dabei in der "Spiritualität als Bildungsaufgabe" gesehen, die primär am "Gebet als Paradigma spiritueller Erfahrung" (330 ff.) festgemacht wird. Was in den bisherigen Konzeptionen evangelischer Kindergartenarbeit vernachlässigt wurde, die Gebetspraxis, bekommt jetzt ihren zentralen Stellenwert: "Das Erlernen und das Praktizieren des Gebets" soll für die Kinder "gleichsam zur dritten Fremd-Sprache" werden, die "ihnen die Grenzüberschreitung in den Bereich der spirituellen Erfahrungen möglich macht." Das bedeutet für die Kinder im Kindergarten, am und im Gebet die Sprache und "Grammatik" des Glaubens zu lernen und dadurch "Spiritualität im Sinne eines habitus" (336) anzubahnen.

Wie das in didaktischer und methodischer Umsetzung aussehen würde, hätte man gerne gewusst. Doch passt hier die Arbeit und belässt es bei den ohnehin schon allzu knappen grundsätzlichen Überlegungen zur beanspruchten Neubestimmung des evangelischen Profils. Was nicht ist, kann, ja sollte, hier noch werden, damit der von Sch. vertretene Ansatz nicht reaktionär konfessionalistisch missverstanden und missbraucht wird. Das hätte er bei seiner breiten auch human- und sozialwissenschaftlichen Fundierung nicht verdient. Denn aufs Ganze gesehen handelt es sich bei vorliegender Dissertation um eine verdienstvolle Arbeit, auch wenn sie relativ viele Druckfehler und ein lückenhaftes Literaturverzeichnis (u. a. fehlt z. B. Stoller ...) aufweist und man vor allem große Vorbehalte gegen eine Übergewichtung der Spiritualität im Sinne eines "Allheilmittels" und bevorzugten Profilierungsinstruments meint anmelden zu müssen. Sicher hat Sch.s Untersuchung auf Defizite aufmerksam gemacht und voranbringende Impulse gesetzt, doch sollte die von ihm eingeforderte Spiritualität den oben referierten und kritisierten gemeindepädagogischen Konzepten eher - und was sollte man auch bei dem Rez. anders erwarten - bereichernd integriert werden, als sie einseitig dominieren zu lassen.