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Ausgabe:

Januar/2001

Spalte:

98 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Reuter, Hans-Richard [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Ethik der Menschenrechte. Zum Streit um die Universalität einer Idee, 1.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 1999. XII, 368 S. gr.8 = Religion und Aufklärung, 5. Kart. DM 98,-. ISBN 3-16-147209-8.

Rezensent:

Joachim Wiebering

Zwischen der Idee der Menschenrechte und ihrer faktischen Beachtung gibt es immer noch eine erhebliche Kluft. Das führt verständlicherweise zu Anfragen an den universellen Charakter dieser Idee, die in einem kulturell begrenzten Kontext entstanden und formuliert worden ist. Welche Geltung kann sie in einer Welt beanspruchen, die empfindlich gegenüber einer "Rhetorik der Menschenrechte" in der internationalen Politik geworden ist? Muss zu ihrer Begründung auf die jüdisch-christliche Tradition und die europäische Rechtskultur rekurriert werden?

Die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg legt in vier Bänden die Ergebnisse eines interdisziplinären Forschungsprojektes zu dieser Thematik vor. Der erste Band enthält elf Beiträge von Soziologen, Philosophen, Juristen und Theologen. Bei allen Unterschieden in Methode und Auswahl der Themenfelder "kommen die Verfasserinnen und Verfasser in dem Versuch überein, Menschenrechte primär als Antwort auf exemplarische Unrechtserfahrungen zu verstehen" (2). Dieser Ansatz hat den Vorzug, nicht bei abstrakten Begründungstheorien stehen zu bleiben, sondern konkrete Erfahrungen zu analysieren.

Beispiele dafür bieten instruktive Studien zur Funktion des Sklavereiverbots in der europäischen Geschichte für die Bestimmung universaler Menschenrechte (Wolfgang Lienemann), zum Menschenrecht auf Eigentum im Verhältnis zum Prinzip der Gerechtigkeit (Matthias Kaufmann) und zu den Unrechtserfahrungen allochthoner Bevölkerungsgruppen mit ihrer Rückkehr zur Ethnisierung des Lebenslaufs (Wolf-Dietrich Bukow). An Stelle einer allgemeinen Letztbegründung werden Menschenrechte auf Grund historischer und aktueller Erfahrungen schweren Unrechtes formuliert und eingeklagt. "Jedoch beruht die Anerkennung dieses Anspruchs und Bereitschaft zur Gewährleistung entweder auf der Unterstützung durch interessenverbundene Staaten oder auf der gravierenden Natur der Unrechtserfahrung" (311).

Dem gewählten Ansatz entsprechend kommen in einem Beitrag von Ute Gerhard Unrechtserfahrungen von Frauen zur Sprache und damit die lange vernachlässigten Frauenrechte. Sie betreffen vor allem "die Erfahrung des Ausschlusses von Staatsbürgerrechten und von politischer Teilhabe im Zusammenhang der bürgerlichen Revolutionen und Demokratiebewegungen des 18./19. Jahrhunderts", die "Mißachtung der persönlichen Autonomie" sowie die Bevormundung von Frauen im Ehe- und Familienrecht und schließlich die bis heute anhaltende "sexuelle Ausbeutung und Gewalt gegen Frauen als strukturelle Gewalt und Beschneidung der Lebenschancen und Handlungsmöglichkeiten von Frauen" (222). Die Autorin verweist mit Recht darauf, dass jahrzehntelang die neuen Menschenrechte nur als männliche Rechte gedacht und proklamiert wurden, weil die untergeordnete Stellung der Frau in Ehe und Gesellschaft nicht hinterfragt wurde.

An diesem Problemfeld wird zudem deutlich, wie es hierbei keineswegs nur um Phänomene der europäischen Zivilisation geht, sondern weltweit in allen patriarchalischen Strukturen Bevormundung und Gewalt gegen Frauen konventionell sind. Das erschwert in solchen gesellschaftlichen Situationen die Inanspruchnahme von Menschenrechten durch die Frauen, die diese Rolle eingeübt und darauf ihre sozialen Beziehungen aufgebaut haben. Trotzdem setzt die Autorin auf die von der UNO geförderte internationale Bewegung für die Menschenrechte der Frauen, die "vom Verdacht eines elitären oder westlichen Feminismus befreit" ist (234).

Weniger einleuchtend erscheint es, nun auch von Rechten der Natur zu sprechen, worauf Konrad Hilpert im letzten Beitrag des Bandes hinweist. Es kann höchstens in Analogie zu den Rechten von Menschen auf persönliche Integrität auch anderen Lebewesen ein derartiges Recht zuerkannt werden, ohne dass diese ihr Einverständnis erklären oder Pflichten übernehmen können. Hilpert nennt als Alternativen zur problematischen Erklärung von Rechten der Natur "die Aufnahme des Umweltschutzes in die Verfassung als verbindliches Ziel allen staatlichen Handelns" und "die Anerkennung von Rechten zukünftiger Generationen" (346 f.).

Die mit generellen Fragen zu den Menschenrechten befassten Beiträge gehen in erster Linie dem Trend nach, deren universellen Anspruch zu relativieren. J. Schwertfeger sieht die moralisch begründete Universalität der Menschenrechte durch die historisch begründeten Souveränitätsrechte der Territorialstaaten keineswegs aufgehoben, plädiert jedoch für eine weitere Entwicklung einer "Weltgesellschaft" im Sinne Luhmanns. Freilich bleibt leider offen, wie weit die positive Rechtsordnung dabei die Menschenrechte aufnimmt und umsetzt.

Auch die Pluralität der Kulturen darf nicht gegen die nötige Anerkennung der Menschenrechte ausgespielt werden, gegen die "keine humane Alternative denkbar" ist (H. Bielefeldt). Das bedeutet allerdings den Verzicht darauf, die Menschenrechte in einen Kanon christlich-abendländischer Werte zu vereinnahmen. Ohnehin sind die "christlichen Elemente" in der Entstehung und Begründung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die W. Vögele in seinem Beitrag analysiert, nur ein Legitimationsmodell unter anderen. Um der Religions- und Gewissensfreiheit willen muss diese Offenheit von der Theologie akzeptiert werden.

Der Herausgeber steuert einen Beitrag zur relativistischen Kritik am Menschenrechtsuniversalismus bei. Weder von der Position des ethischen Partikularismus noch von der des politischen Realismus oder des kulturellen Kontextualismus her lässt sich die Kritik durchhalten. Wohl aber sollte zwischen fundamentalen Ansprüchen und derivativen Rechten, die kontextabhängig sind, unterschieden werden. "Menschenrechte sind von Gott so wenig wie von der Natur gegeben, sie gehen aus Anerkennungskämpfen hervor und gründen in wechselseitiger Zuerkennung" (99). Die religiöse Begründung kann sich nur auf den Aspekt der personalen Würde, die den Rechten vorausgeht, beziehen.

Mit ihren begrifflichen Differenzierungen und historischen Rückblicken tragen die elf Beiträge dieses Buches zur Versachlichung der Diskussion um die Menschenrechte bei, die oft genug auf den Austausch von Behauptungen beschränkt bleibt.