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Ausgabe:

Januar/2001

Spalte:

91–94

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Wittkau-Horgby, Annette

Titel/Untertitel:

Materialismus. Entstehung und Wirkung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998. 308 S. 8 = Sammlung Vandenhoeck. Kart. DM 46,-. ISBN 3-525-01375-2.

Rezensent:

Sigrid Mühlberger

Die hier vorgelegte geistes- und wissenschaftsgeschichtliche Studie ist in ihrer substantiellen Untersuchungsmethode und Darstellungsweise von großer Bedeutung für das Verständnis geistiger Strömungen und Entwicklungen des 19. Jh.s. Die Arbeit wurde im Herbst 1997 als Habilitationsschrift an der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften der Universität Hannover angenommen. Die Autorin stellt mit ihrer Analyse den Entwicklungszusammenhang zwischen Materialismus, Utilitarismus und Rechtspositivismus dar. Dabei zeichnet sie die einzelnen Schritte der zunehmenden Bedeutung des Materialismus im 19. Jh. mit großer Akribie, historischer Exaktheit und an Hand von Quellenstudien nach. Faszinierend an ihrer Darstellungsweise ist, dass sie die entscheidenden Persönlichkeiten, die in diesem Prozess die Weichen stellten, nicht nur aus ihrer eigenen Perspektive interpretiert, sondern sie durch ausführliche Zitate quasi selbst zu Wort kommen lässt.

Aus dem Bewusstsein heraus, dass der Begriff Materialismus heute ein Schlagwort ist, das je nach dem weltanschaulichen Standort der Leser und Leserinnen einen positiven oder negativen Beigeschmack hat, ging das Bemühen der Autorin dahin, durch die Wissenschaftlichkeit ihrer Analyse für eine sachliche Auseinandersetzung mit der Entstehung und Wirkung des Materialismus im 19. Jh. die Basis zu schaffen.

In ihrer Einleitung legt die Autorin das ihrer Untersuchung zu Grunde gelegte Verständnis von Materialismus1 dar und weist darauf hin, dass materialistische Weltdeutungen bereits in der Antike eine Vorgeschichte haben. Sie reichen von den Vorsokratikern und der späteren Philosophie der Antike, über variierte Formen in der Philosophie des Mittelalters, der frühen Neuzeit und der Aufklärung. "Aber der Begriff ,Materialismus' trat erst im 18. Jh. und zwar fast gleichzeitig im deutschen, englischen und französischen Sprachraum auf." (14) Das Besondere am deutschen Materialismus des 19. Jh.s war, dass er von den Einsichten der empirischen Naturwissenschaften ausging. "Der unmittelbare Rückgriff auf die empirischen Naturwissenschaften verschaffte dieser neuen Variante der materialistischen Weltdeutung dabei eine bis dahin unbekannte Überzeugungskraft und Breitenwirkung." (15)

Im ersten Teil der vorliegenden Untersuchung wird die Entstehungsgeschichte dieser spezifischen Spielart materialistischer Weltdeutung näher beleuchtet. Bei der Darstellung der Entstehung des Materialismus in den Naturwissenschaften werden die Spekulationen über die Entstehung des Lebens in Form der Lehre von der Urzeugung, die entscheidende Zäsur der Entdeckung der Bedeutung der Zelle sowie die Frage nach den weltanschaulichen Folgerungen dieser Entdeckung behandelt. In einem eigenen Kapitel wird die materialistische Deutung des Phänomens ,Leben' durch Carl Vogt und deren Konsequenzen für Ethik und Politik dargelegt. Ein weiterer Abschnitt ist der Zurückweisung dieser materialistischen Auslegung des Lebens von Seiten christlicher Naturwissenschaftler (am Beispiel Rudolf Wagners) gewidmet. Vogts Replik, die er in Form einer Streitschrift publizierte, wird ausführlich dokumentiert. Nicht nur christliche Naturwissenschaftler lehnten die materialistische Deutung des Lebens ab, sondern auch erkenntniskritische Naturwissenschaftler erhoben Einwände, was am Beispiel Rudolf Virchows dokumentiert wird. Virchows Zielsetzung war es, die empirische Naturwissenschaft gegen jeglichen weltanschaulichen Übergriff abzuschirmen. In Anlehnung an Kant wollte er nachweisen, dass es zwischen dem begrenzten Bereich der empirischen Wissenschaft und dem Bereich der Religion oder Weltanschauung keine Übergänge gebe. Der Glaube beziehe sich auf eine Dimension der Wirklichkeit, welche die Wissenschaft nicht erfassen könne. Es liege demnach nicht in der Kompetenz der Naturwissenschaften, darüber zu entscheiden, ob es Gott gebe oder nicht. Vier Jahre nach der Materialismus-Kontroverse zwischen Wagner, Vogt und Virchow erschien 1859 ein Werk, das gerade auf dem Hintergrund des Streits der Materialisten und der theologisch argumentierenden Forscher über Schöpfung, Seele und Willensfreiheit enorme Resonanzen hatte. Es war das Jahrhundertwerk des englischen Naturforschers Charles Darwin "On the Origin of Species by Means of Natural Selection". In der hier entwickelten Evolutionstheorie wurde die Vielfalt der Tier- und Pflanzenarten als das Ergebnis einer natürlichen Zuchtwahl der am besten angepassten Individuen im Kampf ums Dasein dargelegt. Darwins These hatte einen ökonomischen Bezugspunkt, den er allerdings aus aktuellen politischen Gründen nicht explizit verdeutlichte. In der Differenzierung der Arten sah Darwin eine Parallele zum Prinzip der Arbeitsteilung, wie es der schottische Ökonom Adam Smith 1776 in seinem Werk "An Inquiry into the Nature and the Causes of the Wealth of Nations" dargelegt hatte.

Darwin war mit ökonomischen Überlegungen nicht nur von der Theorie her befasst. "Seinem Onkel und Schwiegervater Josiah Wedgwood gehörten die berühmten Keramik-Werke, und seine Wedgwood-Cousins ,zählten zu den Pionieren der Fabrikorganisation.' Gerade in den Jahren, in denen Darwin über den Ursprung der Arten nachdachte, waren sie damit beschäftigt, Smith' Prinzipien praktisch umzusetzen und die Produktivität ihrer Werke zu steigern, indem sie jedem ihrer Arbeiter nur eine einzige spezialisierte Tätigkeit zuwiesen.

Darwin wusste also aus eigener Anschauung, was Spezialisierung für die Steigerung der Produktivität bedeutete." (130 f.) Die durch den Kampf ums Dasein bedingten Entwicklungsveränderungen der Individuen einer Art bedingte ein Fortschreiten zu immer neuen Formen. "Darwin stellte sich die Tierwelt (und ebenso auch die Pflanzenwelt) wie einen großen alten Baum vor. Den Stamm bildeten die gemeinsamen, prähistorischen Vorfahren, die Urformen, aus denen alle Tiere hervorgegangen waren. Dann kamen die Äste, dicke Äste zunächst in Gestalt der Klassen und Unterklassen der Tiere; dann die weiteren Verzweigungen in Ordnungen, Familien und Gattungen. Und schließlich kamen als dünne Zweige die Arten. Dieser ,Lebensbaum' war ein Modell, das die Entwicklungsgeschichte des Lebens auf der Erde erklärte. Und es war ein Modell, das ohne Gott auskam." (133) Darwin legte somit eine weltimmanente Erklärung für die Entstehung der Arten vor.

Den Wandel seiner persönlichen religiösen Überzeugungen bis hin zum Glaubensverlust schilderte er in seiner 1876 erschienenen Autobiographie. Gegen Ende seines Lebens bekannte er sich schließlich zum Agnostizismus. "... diese grundlegende Veränderung der weltanschaulichen Vermutung, die sich in seinem eigenen Leben während der Entwicklung der Evolutionstheorie vollzog, sollte beispielhaft werden für die weltanschauliche Wirkung, die seine Theorie in den folgenden Jahren ausüben sollte: Unter dem Eindruck von Darwins Theorie sollte sich bei vielen Skeptikern eine Abwendung von der metaphysischen Vermutung und eine Hinwendung zum Materialismus vollziehen." (150)

Der zweite Teil der Studie ist der Wirkungsgeschichte des Materialismus auf Ethik und Jurisprudenz gewidmet. Hier wird dargelegt und ausführlich dokumentiert, wie der Materialismus Breitenwirkung erlangte. Dies geschah "nicht in seiner dogmatisch-aggressiven Variante, wie etwa bei Vogt, sondern in der skeptischen Variante Darwins: als Agnostizismus mit materialistischer Vermutung." (156) Darwins Theorie ergab neue Voraussetzungen für die Ethik, indem sich durch sie eine absolute Autonomie des Menschen begründen ließ. Die Vorstellung von der Würde des Menschen trat hinter einer metaphysikfreien und utilitaristischen Kosmologie zurück. Die Ausbreitung der utilitaristischen Ethik hatte eine zunehmende Verbreitung einer positivistischen Rechtsauffassung zur Folge. Interessante Abschnitte sind der Wirkung Darwins auf Marx und Engels sowie auf Nietzsche gewidmet. Die letzten Kapitel gehen auf den sozialen Liberalismus (John Stuart Mill) und den Sozialdarwinismus (Herber Spencer) ein und gehen der Ausbreitung des Materialismus innerhalb des Rechtsdenkens nach.

Zum besseren Verständnis der Tragweite der mit dem Materialismus zusammenhängenden geistesgeschichtlichen Entwicklungen kann diese hervorragende und gut lesbare Studie nicht nur Fachwissenschaftlern, sondern auch interessierten Laien empfohlen werden.

Fussnoten:

1) "Unter ,Materialismus' verstehe ich dabei eine Weltanschauung, nach der es keine andere Wirklichkeit gibt als die Materie, so dass auch Bewusstsein, Denken und Geist des Menschen als Kräfte oder Bewegungen der Materie aufgefasst werden. ,Materialismus' bedeutet also eine nach dem Sprachgebrauch der antiken Philosophie ,metaphysische' Position. Er geht über den Bereich der sinnlichen Erfahrung hinaus und gibt eine Weltdeutung. Inhaltlich bildet die materialistische Weltdeutung dabei aber zugleich die Gegenposition zu den verschiedenen Formen metaphysischer Weltdeutungen, die eine Unabhängigkeit des Geistes von der Materie und ein geistiges Prinzip als Ursprung der uns umgebenden Wirklichkeit annehmen. Zu den metaphysischen Weltdeutungen gehören in diesem Sinne der Idealismus ebenso wie der Deismus, das Judentum, das Christentum und andere mehr." (13 f.)