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Ausgabe:

Januar/2001

Spalte:

89–91

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Falkenburg, Brigitte

Titel/Untertitel:

Kants Kosmologie. Die wissenschaftliche Revolution der Naturphilosophie im 18. Jahrhundert.

Verlag:

Frankfurt/M.: Klostermann 2000. 419 S. gr.8 = Philosophische Abhandlungen, 77. Lw. DM 138,-. ISBN 3-465-03006-0.

Rezensent:

Günther Keil

"Der Verzicht auf apodiktische Gewissheit in der Naturerkenntnis, den das heutige Wissen über die Struktur empirischer Theorien erzwingt, würde für Kant weniger einen Verlust an wissenschaftlicher Erkenntnis als an Vollkommenheit der wissenschaftlichen Erkenntnis bedeuten. Insbesondere besteht die ,Relativierung des kantischen Apriori', die Reichenbach und Carnap angesichts der Allgemeinen Relativitätstheorie gefordert haben, vor allem in der Einsicht, "dass die Axiome der Newtonschen Mechanik ... weder ... Akroamata oder a priori beweisbare Lehrsätze einer Metaphysik der Natur sind, sondern bloße Hypothesen. Wie Kant angesichts dieser Einsicht sein Projekt einer Metaphysik der Natur revidiert hätte, darüber lässt sich nur spekulieren - aber sicher nicht im Sinne der Metaphysik-Kritik des logischen Empirismus." (305) Dieses Zitat (das freilich nicht an zentraler Stelle dieses Buches steht) fasst vorzüglich den Inhalt des vorliegenden Buches zusammen.

Mit anderen Worten: Die (von der modernen Naturwissenschaft herbeigeführte) Möglichkeit, sich eine logische Sprache und die Axiome beliebig wählen zu können, führt zwar nicht zum Verzicht der Wissenschaftlichkeit (als empirischer Stimmigkeit) wohl aber zum Verzicht der apriorischen Notwendigkeit naturwissenschaftlicher Sätze und damit auch der kantischen apriorischen Naturwissenschaft. Dennoch ist Kants Denken nicht einfach am Ende, sondern es kann und muss revidiert werden, wenn auch nicht im Sinne der Metaphysik-Kritik des logischen Empirismus. Hier bleibt aber nun doch die philosophische Frage offen, ob damit nicht letztendlich alles beliebig wird, und dann auch die Thesen dieses Buches selbst. Doch das betrifft einen großen Teil der heutigen Naturwissenschaft, ja des heutigen Denkens überhaupt, das nur im Blick auf einen klassischen Denker wie Kant besonders deutlich wird. Doch ist es das Recht dieses Buches, von diesem modernen Standpunkt aus zu denken.

In den ersten drei Kapiteln dieser Arbeit ("1 Physik und Metaphysik", "2 Kants analytische Methode", "3 Der Widerspruch in der Individuationstheorie", 25-135) wird der vorkritische Kant vorgestellt samt dem Kontext gleichzeitiger Denker (z. B. Newton, Descartes, Leibniz, Wolff u. a.). Wenn man von einer naturwissenschaftlich-mathematischen Arbeit nicht verlangt, dass wie in der Geisteswissenschaft die geistigen Verstehenshorizonte freigelegt werden, sind die diesbezüglichen Darstellungen ausgezeichnet recherchiert. Damit ist die Ausgangssituation dargelegt, in der dann die kantische Wende auch in der Naturwissenschaft, die "wissenschaftliche Revolution der Naturphilosophie im 18. Jahrhundert" ansetzt.

Kapitel "4 Zur kritischen Wende" (135-177) zeichnet dann die Entwicklung Kants zum kritischen Kant besonders hinsichtlich der Antinomien in der Kritik der reinen Vernunft nach. Hierbei wird besonders betont, dass es nicht Hume war, der diese Wende in Kant erzwungen habe, sondern dass Kants eigener geistiger Entwicklungsgang ihn dazu geführt habe.

Es folgen "5 Die kosmologische Antinomie" (177-263) und "6 Die kritische Metaphysik der Natur" (263-307). Hier analysiert das Buch Kants kosmologische Antinomien und deren methodologische Grundsätze und Folgerungen kritisch. In "5.6 Logisch-semantische Analyse" (213 ff.) werden auch logische Symbole verwendet. Dabei werden die kantischen Gedanken lediglich als Hypothesen anerkannt: "Das Begründungsverfahren der MAN soll die hypothetisch-deduktive Gewissheit, die für eine solche Theorie aus heutiger Sicht höchstens erreichbar ist, in apodiktische Gewißheit" (in heutiger Sicht absolut) "überführen" (Hervorh. Rez.) (264). MAN (= "Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft") bleibt im Buch (wie viele andere Begriffe auch) unerklärt. Über die Tragfähigkeit dieser Kritik haben wir schon oben geschrieben. Aber immerhin: Kant wird nicht völlig verworfen, sondern als Hypothese anerkannt. Bemerkenswert ist vor allem, dass "Metaphysik" und "metaphysische Begründung" nicht von vornherein obsolet sind.

Unter "7 Kant-Rezeption und Kant-Revision" (307-353) kommt nun die durch Kant ausgelöste "wissenschaftliche Revolution der Naturphilosophie" zur Sprache. Dass es dabei um Kant-Revision geht, dürfte nach dem bereits Gesagten deutlich sein. Besonders wird hier der Marburger Neukantianismus und vor allem Hermann Cohen (aber nicht nur er) herausgehoben. Cohen wird in der "naturwissenschaftlichen Revolution" für das Buch zweiseitig gesehen: Er ist einerseits Bahnbrecher der naturwissenschaftlichen Entwicklung, andererseits aber ist er zu den Thesen der modernen Naturwissenschaft noch nicht vorgedrungen. Hier wird besonders die Redukation der cohenschen Gedanken auf das nur Naturwissenschaftliche bedauert werden müssen. Cohen als philosophischer Denker als ganzer ist dabei fast nicht wiederzuerkennen.

Das Buch variiert Kants Antinomie, um der modernen Naturwissenschaft zu genügen. Dabei kommt es zu einem Gegensatz zwischen Laborsicht und kosmologischer Perspektive. "These: Es gibt universell gültige physikalische Gesetze; die Laborsicht und die kosmologische Perspektive der Physik sind miteinander vereinbar." (348) "Gegenthese: Es gibt keine universell gültigen physikalischen Gesetze: Laborsicht und kosmologische Perspektive sind nicht miteinander vereinbar." (349) Das Buch schließt dann mit dem bemerksenswerten Satz: "Würde dies unter Einbeziehung der in diesem Kapitel angesprochenen Überlegungen zu den Geltungsbedingungen empirischer Gesetze und zur Rolle der Anschauung in den exakten Wissenschaften nachgeholt, so könnte die von Kant intendierte ,Revolution der Denkart' auf dem Gebiet der Naturerkenntnis späte Früchte tragen." (352) (Es ist zu bedauern, dass die Kritik der Urteilskraft Kants, 2. Teil, Kritik der teleologischen Urteilskraft nicht beachtet worden ist, die doch zum Thema auch Wesentliches zu sagen hätte.) Es folgt ein Anhang, der Kants eigene Logik darstellt (355-387).

Ein Schlaglicht auf die stark logizistische Sichtweise des Buches wirft eine marginale Bemerkung: "... etwas so Schlimmes wie eine Antinomie." (346) Für Karl Jaspers z. B. wäre die Antinomie nicht "etwas so Schlimmes", sondern eine der Weisen, der Transzendenz begegnen zu können! - Das Buch ist leider so geschrieben, dass es wahrscheinlich nur der verstehen kann, der nicht nur philosophische, sondern ein wenig auch mathematisch-naturwissenschaftliche Vorkenntnisse mitbringt.