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Ausgabe:

Januar/2001

Spalte:

86–89

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Möller, Michael F.

Titel/Untertitel:

Die ersten Freigelassenen der Schöpfung. Das Menschenbild Johann Gottfried Herders im Kontext von Theologie und Philosophie der Aufklärung. Hrsg. von U. Kühn.

Verlag:

Frankfurt-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien: Lang 1998. 158 S. 8 = Kontexte, 26. Kart. DM 54,-. ISBN 3-631-33568-7.

Rezensent:

Heiko Schulz

Bereits 1986 promovierte der Vf. mit der vorliegenden Arbeit bei U. Kühn in Leipzig. Wie dieser als ihr Herausgeber mitteilt, konnte sie aus politischen und wirtschaftlichen Gründen seinerzeit nicht publiziert werden. Nunmehr erscheint sie, nach beinahe fünfzehn Jahren, zugleich als Vermächtnis ihres Autors, der im März 1997 in Bangkok an den Folgen eines Verkehrsunfalls verstarb.

1. Der am durchschnittlichen Umfang neuerer geisteswissenschaftlicher Dissertationen gemessen erstaunlich schmale Band (ca. 130 S. Text) befasst sich mit zentralen anthropologischen Aspekten im Werk Herders. Dabei konzentriert er sich auf dessen sog. Bückeburger Zeit (1771-1776), die, obschon von persönlichen Problemen überschattet, im Vergleich zu Riga (1764-1771) und Weimar (1776-1803) als die fruchtbarste Schaffensperiode im Leben des deutschen Klassikers gilt. Die Ergebnisse seiner Forschungen teilt der Autor in vier Schritten mit: Ein geistes- und theologiegeschichtliches Einleitungskapitel geht den formativen Wurzeln von Herders theologischer Entwicklung zwischen Pietismus, Orthodoxie und Aufklärungsphilosophie nach (11-43). Kapitel zwei erörtert die Forschungslage zur Bückeburger Zeit sowie deren situativen Kontext (45-56). Außerdem erfolgt eine knappe Begründung für die Auswahl der im Folgenden en dÈtail zu interpretierenden Schriften (45-57), wobei diese aus "methodische[n] Gründe[n]" (57) in philosophische und theologische unterteilt werden: Erstere sind in Kapitel drei (59-103), letztere in Kapitel vier (105-130) Gegenstand der Darstellung. Ein kurzer ,Ausblick' (131 ff.), der die vorausgegangene Interpretation noch einmal auf Herders anthropologischen Grundgedanken hin zuspitzt, beschließt den Band.

1.1 Im Rückgang auf den geistesgeschichtlichen Rahmen sowie eine Reihe diesbezüglich einschlägiger Autoren arbeitet M. mit der Anthropologie zunächst die zentrale Fragestellung (vgl. 15) des aufgeklärten Denkens im 18. Jh. heraus.

Herders anthropologisches Interesse kann freilich nur dann angemessen gewürdigt werden, wenn man es als Funktion seines schriftstellerischen Grundanliegens begreift, demzufolge er es "als eine seiner vornehmlichsten Aufgaben angesehen [hat], das Ansehen der Theologie, das durch den Streit zwischen Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung beeinträchtigt wurde, wieder herzustellen" (25; vgl. 23 u. 29). Dabei erweist sich sein Ver- hältnis zu den beherrschenden geistesgeschichtlichen Strömungen als durchaus zwiespältig: Dem unübersehbaren Einfluss des Pietismus (vgl. 24; vgl. einschränkend 126 [A 109]) steht die harsche Kritik an den ,Spinnweben' der orthodoxen Dogmatik gegenüber, wobei diese mit dem selbstbewussten Anspruch vorgetragen wird, "den wahren Geist des Christentums und damit echte Orthodoxie zu vertreten" (29; Hervorh. H. S.). Herders Auseinandersetzung mit einer Reihe prominenter Aufklärer von Baumgarten über Reimarus bis zu Spalding dokumentiert überdies "eine entschiedene Abkehr von den Idealen der Aufklärung nicht nur in den theologischen, sondern auch in den philosophischen Schriften" (42) der Bückeburger Zeit. Gegen eine prominente Forschungstradition plädiert M. allerdings dafür, diese erneut in ihrem sachlichen und werkgeschichtlichen Eigenrecht wahrzunehmen, statt sie als bloßen Rückfall in ein Stadium mystischer Schwärmerei zu diskreditieren.

1.2 Der einer partiellen "Neuorientierung" (53) in dieser Schaffensperiode entsprechende Begriff der "theologische[n] Fundierung" (55) kann nach Meinung des Autors auch zur Charakterisierung der philosophischen Schriften herangezogen werden. Bereits in der Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) ist demnach das anthropologisch-theologische Interesse dem rein sprachgenetischen gegenüber leitend: Dass der Mensch eine (NB: spezifisch menschliche und als solche naturlauttranszendente) Sprache zu erfinden genötigt und durch seinen Schöpfer befähigt wird, kraft derer er der Natur in theoretischer wie praktischer Hinsicht zumindest partiell frei gegenüberzustehen vermag, spricht nämlich nicht nur für dessen irreduzible Sonderstellung im Vergleich zum Tier (vgl. 60), sondern auch für seine Gottebenbildlichkeit (vgl. 68). Im Horizont dieses anthropologisch-theologischen Doppelaspektes kann der Mensch geradezu "als Sprachwesen definiert" (60; Hervorh. H. S.) werden.

Der anthropologische Grundgedanke eines faktisch naturgebundenen, zugleich und seiner Bestimmung nach jedoch gottebenbildlichen ,Mittelwesens' (vgl. 97 u. 131 f.) bestimmt auch die beiden anderen philosophischen Hauptwerke der Bückeburger Zeit: So stellt Herder in Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) dem Perfektibilitätsgedanken der Aufklärung ein allenfalls "vorsichtig optimistisch[es]" (88 [A 144]) Geschichts- und Menschenbild entgegen: Einerseits nimmt dieser zwar "aktiv auf den Gang der Geschichte Einfluß" (86); andererseits aber muss er sich, auch und gerade auf Grund der eigenen Unvollkommenheit (sc. Sünde), ihrem von der Vorsehung bestimmten und daher letztlich undurchschaubaren Ablauf wie eine ,Ameise am Rad des Verhängnisses' fügen. Nicht die partielle, dabei in je individuellen Schüben fortschreitende, wohl aber die vollständige, überdies als erkenntnisirresistent und geschichtsimmanent realisierbar behauptete Humanisierung bzw. Selbstvervollkommung des Menschen schließt Herder aus.

Bestätigt und ergänzt werden diese Ergebnisse durch dessen erkenntnistheoretisches Hauptwerk Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1778): bestätigt durch den Nachweis, dass der Mensch auch durch seine epistemischen Grundvermögen an Natur (Empfindung/Gefühl) und Transzendenz (Erkenntnis/ Verstand) teilhat (vgl. 97 u. 102); ergänzt durch die Einsicht in die irreduzible Einheit und Ganzheit der menschlichen Person als eines Mittelwesens, dessen psychisches Grundvermögen das Verhältnis der Wechselwirkung auf der Basis "nur einer ganzheitlichen Seelenkraft" (92; vgl. 102) bestimmt.

1.3 Für Herder besitzt die Theologie mit der Statuierung eines als Offenbarung (vgl. dazu 106, 114 [A 39] und 124-127) Mitgeteilten einen anderen Ausgangspunkt zur Wesensbestimmung des Menschen als die Philosophie - freilich zugleich den (s. E. berechtigten) Anspruch auf unbedingte Autorität (vgl. 105 f. 118 f.). Im Ergebnis bestätigen allerdings beide Disziplinen einander (vgl. 120). So hat die Älteste Urkunde des Menschengeschlechts (1774 u. 1776) in der biblisch fundierten Verknüpfung des Imago-Dei-Gedankens mit dem der "Eingebundenheit [des Menschen] in die natürliche Welt" (120) ihre genuin anthropologische Pointe. Jener erscheint dabei in der gottgewährten Eröffnung eines sprachlich wie geschichtlich akzentuierbaren Freiheitsspielraums (vgl. 98 f.131 f.), dessen verfehlter Gebrauch den "Rückfall des Menschen in die Tierwelt" (120) nach sich zieht. Im Vergleich hierzu bieten die Fünfzehn Provinzialblätter (1774) wenig Neues. Sie betonen vor allem die unüberbrückbare ontologische Kluft zwischen Tier und Mensch bzw. Mensch und Gott (vgl. 127 f.); ferner enthalten sie christologische Überlegungen, die die anthropologische Bedeutung der Person Jesu als "Vermittlung zwischen Mensch und Gott" (128) wenigstens in Umrissen erkennen lassen.

2. M.s Monographie bietet dem Leser eine knappe und nach Ansatz, thematischer Eingrenzung sowie Durchführung und Ergebnis mit Einschränkungen (s. u.) verdienstvolle Untersuchung zu Herders Anthropologie. Dass diese auf mindestens fünfzehn Jahre zurückliegenden Forschungen beruht und daher jede Auseinandersetzung mit bzw. Profilierung an der jüngeren und jüngsten Herderforschung vermissen lässt, kann dem Autor nicht zum Vorwurf gemacht werden.

Sehr wohl anzulasten sind ihm allerdings eine Reihe sachlicher wie methodisch-formaler Schwächen, die sich mit der Kürze seiner Ausführungen zwar nicht notwendig, aber faktisch verknüpfen: Abgesehen von einer ganzen Reihe teilweise sinnentstellender Fehler (vgl. z. B. 42, 77 [A 82 u. 83], 84 f., 131 sowie ebd. das einleitende, willkürlich verkürzte Herder-Zitat) vermisst der Leser erstens ein methodisches Einleitungskapitel, das über die knappen Begründungshinweise zur Beschränkung auf Herders Bückeburger Phase (vgl. 45) sowie zur Auswahl der behandelten Schriften (vgl. 56f.) hinausgeht. Zweitens begrenzt M. die Diskussion der Forschungslage auf deren sachliche und biographisch-werkgeschichtliche Einschätzung der Bückeburger Zeit, geht aber mit keinem Wort auf den derzeitigen Forschungsstand zu Herders Anthropologie ein. Drittens belässt er es über weite Strecken bei einer gänzlich unkritischen, dabei mitunter recht oberflächlichen und von Zitaten überlasteten Bestandsaufnahme der einschlägigen Texte, deren hermeneutischer Nutzen durch fehlende, rhapsodische und/oder diffus bleibende Erläuterungen wichtiger Textpassagen zusätzlich beeinträchtigt wird (vgl. z. B. 74, 79, 93, 97, 100, 118, 127, 129, 132f.). Diese Bestandsaufnahme scheint viertens auch deshalb unbefriedigend, weil sich ihr Darstellungsgang an der bloßen Abfolge der Herderschen Schriften orientiert anstatt deren anthropologischen Ertrag am Leitfaden organisierender Zentralbegriffe systematisch zu entwickeln und darzustellen - z. B. am Verhältnis von Sprache, Freiheit und Geschichte als Kerndimensionen eines Menschenbildes, das diesen als ,exzentrisches Mittelwesen' zu begreifen sucht. Im Widerspruch zu seiner eigenen, durchaus berechtigten Warnung vor einer gattungsspezifisch oder werkgeschichtlich isolierten Betrachtungsweise (vgl. 49) setzt M. fünftens seine Forschungsergebnisse nicht mit Herders anthropologischen Aussagen der anderen Schaffensperioden ins Verhältnis. Schließlich und sechstens bleibt abgesehen von wenigen, im Wesentlichen wirkungsgeschichtlichen Hinweisen (vgl. 56 f. u. 67) unklar, ob und wenn ja in welcher Weise Herder aus der Sicht des Autors auch im Kontext der gegenwärtigen anthropologischen Debatte einen ernstzunehmenden Beitrag zu leisten vermag.

Fazit: M.s an sich begrüßenswerter Mut zur Knappheit wird durch Mängel erkauft, die den Wert dessen, was der Leser im Gegenzug geboten bekommt, nicht unbeträchtlich herabsetzen.