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Ausgabe:

Januar/2001

Spalte:

83 f

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Dückers, Stefan

Titel/Untertitel:

Pathos der Distanz. Zur theologischen Physiognomie und geistesgeschichtlichen Stellung Erik Petersons.

Verlag:

Münster-Hamburg-London: LIT 1999. 298 S. gr.8 = Studien zur systematischen Theologie und Ethik, 20. Kart. DM 49,80. ISBN 3-8258-4382-3.

Rezensent:

Barbara Nichtweiß

Leben und Werk des Patristikers, Exegeten und Theologen Erik Peterson (1890-1960), der 1930 zur katholischen Kirche konvertiert war, sind in den zurückliegenden Jahren wiederentdeckt, Teile seines umfangreichen Nachlasses ediert (Der Römerbrief, 1997) bzw. in diversen Darstellungen schon vorläufig erschlossen worden. Stefan Dückers hat sich nun in seiner an der Gregoriana unter der Leitung von Edgar Salmann OSB erstellten Dissertation die mutige Aufgabe gestellt, die "theologische Physiognomie" Petersons in systematischer Perspektive vertieft zu erschließen, deren "Hauptmerkmal" er in einem "Pathos der Distanz" erblickt. Zugleich wird das theologische Werk Petersons als Antwort auf die Orientierungsnöte seiner Zeit interpretiert; der Charakterisierung der nationalen wie kirchlichen Befindlichkeit in ihren beiden konfessionellen Ausprägungen vom ausgehenden 19. Jh. bis zum Nationalsozialismus gilt darum ein breit angelegter erster Teil dieser Arbeit.

Als paradigmatischer Einstieg in die Theologie Petersons dient dessen Theorie der Mystik, wozu dem Vf. das Manuskript einer unveröffentlichten Göttinger Vorlesung von 1923/24 zur Verfügung gestanden hat. Er stellt diese Theorie in den Kontext der damaligen Mystikdiskussion und würdigt Petersons konfessionsübergreifende Weite. Im detaillierten Durchgang durch besagte Vorlesung sowie die daraus hervorgegangenen Veröffentlichungen skizziert er Petersons im Rückgriff auf patristische Traditionen gewonnene Auffassung: Die mystische theoria und theologia ist zu verstehen als Teilhabe an der sich in unaufhörlichem Lobpreis verströmenden Gottesschau der Engel, insofern diese den "Grenzwert" einer metaphysischen Annäherung an den Schöpfer bezeichnen. Diese der Kreatur als solcher gesetzte letzte Grenze wird von D. - Formulierungen Petersons aufgreifend - nun in eine Unterscheidung zwischen "Letztem und Vorletztem" gewendet. Unter dem Leitmotiv des "Pathos der Distanz" dient sie als interpretatorische "Matrize" beim Durchgang durch weitere Hauptthemen der Theologie Petersons (Zeugnis- und Theologiebegriff, Kirchen- und Sakramentsverständnis etc.). In methodischer Hinsicht schenkt der Vf. den streitbaren Zügen der Traktate besondere Aufmerksamkeit. Die Einzeluntersuchungen münden in die These, Peterson verfechte in extremer Weise eine "strikte Trennung von Letztem und Vorletztem": "Die majestas divini, ,die ferne Größe des ganzen Anderen' (W. Becker) steht (urprotestantisch) im Mittelpunkt, sie allein." (275) Petersons Theologie "erstarre" in diesem Trennungspathos, führe in ein "statisches" und "ungeschichtliches" Nebeneinander von Ordnungen, lasse "Juden wie das Dogma und die Sakramente als steife Figuren in einem unbewegten Spiel" erscheinen (276). Angesichts der gegenwärtigen Lage des Katholizismus, den D. weithin im Glaubensabfall begriffen sieht (202), konstatiert er zwar immer wieder den Wert einer so gezeichneten Theologie, beklagt zugleich aber den Ausfall einer aktiven Rolle des Menschen bzw. des Persönlichen und "Lebensgeschichtlich-Subjektiven".

Es ist anzuerkennen, dass sich der Vf. einen weiten zeitgeschichtlichen Horizont erarbeitet, im Ansatz bedenkenswerte Vorschläge zur systematischen Erfassung der oft als Gelegenheitsschriften entstandenen Traktate unterbreitet und einige neue Details zutage fördert (so findet sich Petersons Begriffsprägung vom "eschatologischen Vorbehalt" in der Tat schon vor dem Römerbriefkommentar von 1925 in der Mystik-Vorlesung). In der zentralen Distanz-Matrize hat sich der Vf. jedoch einem abstrakten Schema verschrieben, das nicht der Theologie Petersons entstammt, sondern von außen in diese hineingetragen wird und darum vielfach zu ungeklärten Widersprüchen innerhalb der Arbeit selbst führt. Wenn Peterson die Anerkennung von Phänomenen wie der Mystik fordert, weil wir das "Letzte" des Glaubens doch immer nur "in einer lebendigen dialektischen Spannung gegenüber dem Vorletzten" besäßen, so läuft schon diese Formulierung allen Versuchen einer strikten Trennung von "Kontingentem und Absoluten" ausgesprochen entgegen. Das "Ewige", das "katabatisch" in die Zeit eingeht, löst bei Peterson zudem durchweg eine vorwärtsdrängende Dynamik aus, die den Menschen nicht aus-, sondern einschließt, die ihn auch keineswegs in passive Unterwerfung niederdrückt, sondern seine vielfältigen Kräfte erst in ihrer Tiefe weckt und befreit. Die Behauptung, dass der Christ nach Peterson sowohl zu Christus (243) als auch zu Gott in einem ausschließlich "juridischen" Verhältnis stehe, in dem "innige Herzlichkeit" keinen Platz habe (249), ist nicht nur von Petersons bis in die intimen Fragmente des Alterswerks spürbarer pietistischer Prägung her abzulehnen. Gerade wenn man wie der Vf. die Christologie ins Zentrum der Theologie Petersons stellt, hätte schon ein Blick in den christologisch-anthropologischen Traktat "Was ist der Mensch?" (1935) vor solchen Vereinseitigungen bewahren können: In diesem Manifest gegen alle "Distanztheologie", die glaubt, "Gott könne immer nur Gott und der Mensch immer nur Mensch bleiben" (Theologische Traktate, 135), feiert Peterson die körperliche Berührung des Menschensohnes, die Küsse und Tränen jener Hure, die alle "Scheu vor dem Heiligen" hinter sich gelassen hat.

So erschöpfen sich Petersons pathetische Züge auch nicht in einer polemischen Außenverteidigung "des Auratischen". Der Ausdruck "Aura", den der Autor ebenso durchgängig wie unreflektiert in seine Distanzthese einführt, spielt bei Peterson eine ganz unprofilierte Nebenrolle. Seines Pathos hingegen war sich Peterson nicht nur bewusst, sondern hat als "Phänomenologe des sprachlichen Ausdrucks" verschiedene Spielarten von theologischem Pathos ausdrücklich reflektiert (vgl. z. B. ThT, 19, 110, 143). Diese und andere Belegstellen sind über das Sachregister meiner Petersonarbeit (Erik Peterson, Freiburg etc. 1992/1994) leicht aufzufinden. Sie hätten einen guten Einstieg in eine originelle Fragestellung erlaubt, freilich im Kontext des äußerst vielschichtigen theologischen und stilistischen Instrumentariums Petersons auch zur Erarbeitung einer eigenen differenzierten Begrifflichkeit gezwungen. Von hier aus ließe sich die "theologische Physiognomie" Petersons in der Tat noch weiter auf eine systematische Zusammenschau hin durchdringen, als es mir selbst im ersten Anlauf möglich gewesen ist. Dazu kann man nur herzlich einladen.