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Ausgabe:

Januar/2001

Spalte:

79–81

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Sommer, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Politik, Theologie und Frömmigkeit im Luthertum der Frühen Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999. 317 S. gr.8 = Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 74. DM 124,-. ISBN 3-525-55182-7.

Rezensent:

Gerhard Müller

Der Titel spricht klar aus, was mit diesem Band beabsichtigt wird: Methodisch geht es um eine Verbindung von Kirchen- und Sozialgeschichte und zeitlich um die Jahre zwischen 1520 und 1700 (gelegentlich auch darüber hinaus). Der Vf. vermeidet den Begriff "Konfessionelles Zeitalter", der im Moment geläufig ist, den er aber für falsch hält, wenn er die Zeit ab den zwanziger oder vierziger Jahren des 16. Jh.s umfassen soll. Er hält stattdessen Rankes Definition für richtig, der das konfessionelle Zeitalter erst durch den Augsburger Religionsfrieden begründet sah. Auch von den Ausdrücken "Spätreformation" und "Reformorthodoxie" verspricht sich der Vf. keinen Gewinn: Ersterer sagt inhaltlich nichts aus, letzterer impliziert einen Gegensatz zwischen einer "toten Orthodoxie" und einer "lebendigen Reformorthodoxie". Von einer toten theologischen Richtung könne aber keine Rede sein, vielmehr halte sich hier G. Arnolds Urteil hartnäckig und werde nicht hinterfragt. Bedenken gibt es auch gegenüber der Bezeichnung "Konfessionskultur" "für die Entwicklung im Luthertum ... zu immer größerer Vielfalt": "Das Verhältnis von Zentrierung und Weite im Luthertum scheint mir mit dem gegenwärtig inflationär gebrauchten Kulturbegriff nicht deutlich genug ausgesagt werden zu können." Nüchtern spricht der Vf. vom Luthertum der "Frühen Neuzeit", ein Begriff, der zwar "wenig bestimmt und weitgefaßt" sei, der aber "sachliche Schwerpunktsetzungen" ermögliche.

Von den hier vorgelegten zwölf Beiträgen sind drei bisher ungedruckt. Die bereits erschienenen wurden überarbeitet. Die Hauptintention des Vf.s liegt an der "kirchen- und theologieschichtlichen Erforschung der lutherischen Orthodoxie". Aber die interdisziplinäre Zusammenarbeit bei der Erforschung der Frühen Neuzeit fließt in die vorgelegten Arbeiten ein. Der Vf. stützt sich auf "Predigten und Erbauungsschriften ... als Hauptquelle". Er kommt zu dem Ergebnis, dass die lutherische Orthodoxie "Klarheit und Redlichkeit in den gedanklichen Grundlagen des christlichen Glaubens" gesucht habe. Damit verbinde sie "das unablässige Drängen und Suchen nach der Lebens- und Erfahrungsgestalt des christlichen Glaubens". Auf Grund der hier berücksichtigten Quellen wird also ein ganz anderes Bild entworfen, als es bis in unsere Zeit hinein von vielen vertreten worden ist.

Der Autor setzt ein mit zwei Beiträgen über M. Luther. Zunächst steht dessen Auslegung des 101. Psalms im Mittelpunkt, dann die Beziehungen des Reformators zu seinen Landesherren. Im ersten Aufsatz geht es nicht nur um Luthers Ausführungen selbst, sondern besonders um deren Wirkungsgeschichte am Ende des 16. und im 17. Jh. In der 1535 gedruckten Auslegung wendet Luther sich gegen die "Vermessenheit" des weltlichen Standes und kritisiert die "Meister Klüglinge", die das "Feld des Politischen" beherrschen. Er fordert die Beachtung des ersten Gebotes und weist auf die besondere Verantwortung der Regenten hin. Zugleich betont er "Gottes Handeln in der Geschichte". Dadurch erhält alles menschliche Tun seine Würde. In dem zweiten Beitrag wird auf Worms 1521, den Bauernkrieg und das Marburger Religionsgespräch verwiesen und festgestellt, dass Luther sich in Worms nicht berechtigt sah, "sich auf theologische Kompromisse zugunsten nationalpolitischer Aspekte einzulassen". Auch im Bauernkrieg sei sein "leidenschaftlicher Kampf gegen eine Vermischung der weltlichen Angelegenheiten mit dem Evangelium" unübersehbar. In Marburg waren ihm 1529 "alle politischen Bündnispläne" unwichtig gegenüber der theologischen Wahrheit. Er ließ sich also von Bauern und Fürsten politisch nicht missbrauchen. "Auch auf dem Feld der sog. reinen Politik hat sich Luther mit eindeutigen Stellungnahmen hervorgetan", wobei er sich von "der Zuständigkeit seines sozialen Gewissens" leiten ließ.

Die folgenden drei Beiträge sind lutherischen Hofpredigern gewidmet. Zunächst geht es um ihre Stellung "im Herausbildungsprozeß frühmoderner Staatlichkeit und Gesellschaft". Ihre Hauptaufgaben waren Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung am Hof, aber sie waren "auch für die Gottesdienste zuständig, die bei allen öffentlichen Akten des frühneuzeitlichen Staates abgehalten wurden". Ihr Einfluss hing von ihrem Format ab, aber auch davon, wie stark ihr Fürst auf ihren Rat einging. Waren sie zugleich leitende Geistliche, dann war ihr Gewicht beträchtlich. Dies wird am führenden lutherischen Hof, dem Dresdener, exemplifiziert, wo sie bis zur Mitte des 17. Jh.s "quasi-landesbischöfliche Rechte" ausübten. Danach nahm ihr Einfluss ab, weil die Fürsten konfessionell weniger engagiert waren - bis Kurfürst August der Starke 1697 sogar katholisch wurde. Die Hofprediger, die "meist aus dem mittleren bis gehobenen städtischen Bürgertum" kamen, waren wohl "dem Oberhof- bzw. Hofmarschall zugeordnet und dem Einkommen nach etwa den Leibärzten gleichgestellt". Es ist dem Vf. zuzustimmen, dass das Amt der lutherischen Hofprediger in der Forschung zu wenig beachtet worden ist. Um hier gegenzusteuern, werden das Wirken von Justus Gesenius in Calenberg, von Michael Walther in Lüneburg und von Johann Reinhard Hedinger in Württemberg untersucht. Der Calixt-Schüler Gesenius war sehr obrigkeitsfreundlich. Der Staat ist für ihn "keine postlapsarische Notordnung", sondern Gottes "Schutz vor Chaos und Unordnung". Die cura religionis der Obrigkeit wird so weit gefasst, dass Gesenius "wenig ... an einem eigenständigen Kirchenregiment interessiert" ist. Auch für Kirchenzucht durch die Kirche bleibt bei ihm "kein Raum". Es bestätigt sich der Befund, dass Calixt und seine Schüler keine Gegner des Absolutismus waren. Ganz anders M. Walther, einer "der schärfsten Kritiker Calixts". Er warnt vor Caesaropapie, kritisiert das Leben am Hof und die Bereicherung des Staates durch Kirchengut. "Das Wächter- und Strafamt des Predigers gegenüber der Obrigkeit" verstand Walther also als seine besondere Aufgabe. Auch Hedinger gehört in diese Linie. Sein Leitbild war "Jeremia, der als einsamer Wächter und Mahner allein in der Beauftragung durch Gott Trost in seinen Anfechtungen findet". Er nahm seine Arbeit in Stuttgart 1699 auf, starb aber bereits 1704. Der Vf. meint, an ihm lasse sich erkennen, "wie stark die Übergänge und Gemeinsamkeiten zwischen lutherischer Orthodoxie und Pietismus in dieser Zeit noch waren".

In einem weiteren Aufsatz werden Dilherrs Predigten in Nürnberg 1650 zum Friedensfest analysiert. Er lobt, dass der Krieg endlich beendet ist, fordert aber zugleich zur Buße auf. Obwohl "überzeugter Lutheraner", enthielt er sich der sonst weithin üblichen Konfessionspolemik. Der Vf. urteilt: "Lutherische Konfessionalität bedeutet im 17. Jahrhundert nicht geistige Enge, sondern geistige Weite". Höchst aufschlussreich ist auch die Analyse der Prophezeiungen Luthers, die in eigenen Zusammenstellungen von 1548 bis ins 17. Jh. hinein verbreitet wurden. Der Reformator wurde als "GottesWerkzeug" verstanden, "als Apostel, Prophet und Engel der Apokalypse". Er wurde später säkularisiert als "Prophet der Deutschen" interpretiert. Aber das war weit von den Urteilen im 16. und 17. Jh. entfernt, in denen vor allem die "Wiederaufrichtung der reinen Lehre" durch ihn betont wurde. Es folgen interessante Ausführungen über die "Wandlungen des theologischen Höllenbildes in der lutherischen Theologie des 17. und 18. Jahrhunderts".

Vier Beiträge sind J. Arndt gewidmet. Der Vf. greift in die intensive Diskussion über ihn mit gut begründeten Urteilen ein. Er vergleicht ihn mit J. Böhme, von dem ihn mehr unterscheide, als ihn mit ihm verbinde. Arndts Predigten während seiner Tätigkeit in Lüneburg werden analysiert - will man hier keine Schizophrenie unterstellen, dann muss man seine Distanzierung von den kirchenkritischen Spiritualisten als sachgemäß anerkennen. J. Saubert, führender Nürnberger Theologe, trat schon früh für Arndt ein. Er hielt "die Reformbestrebungen Arndts mit dem orthodoxen Luthertum für vereinbar" (M. Brecht), ein Urteil, das der Vf. zustimmend zitiert. Joachim Lütkemann, Generalsuperintendent in Wolfenbüttel, hat sogar seinen "Vorschmack göttlicher Güte" (1653 erstmals erschienen) aus dem 36. Kapitel von Arndts "Wahrem Christentum" heraus entwickelt. Weil bei beiden das "verbum externum der Schrift ... das entscheidende Mittel der inneren Glaubenserfahrung" sei, werden beide Werke als "Klassiker der lutherischen Erbauungsliteratur" gedeutet. Unpolemisch wird in der angeheizten Diskussion Stellung bezogen. Neu sind im Pietismus dann nur die Konventikel und eine "Zukunftshoffnung, die sich von der Eschatologie des nahen Jüngsten Tages abhebt" - ein klares, sicher provozierendes Urteil über Tradition und Wandel.