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Ausgabe:

Januar/2001

Spalte:

74–76

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Bülow, Vicco von

Titel/Untertitel:

Otto Weber (1902-1966). Reformierter Theologe und Kirchenpolitiker.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999. 503 S., 1 Taf. gr.8 = Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte, 34. Geb. DM 118,-. ISBN 3-525-55734-5.

Rezensent:

Wilhelm H. Neuser

Von den früheren Studenten O. Webers und denen, die ihn näher kannten, wurde dies Buch seit langem herbeigewünscht, gibt es doch endlich Antwort auf viele offene Fragen. Der Rez. hatte jedenfalls den Eindruck, dass zwar in den Jahren nach 1945 in Göttingen und auf reformierten Konferenzen bekannt war, dass Weber in den Jahren 1933/34 für kurze Zeit Kirchenminister gewesen war, aber Näheres über sein politisches Engagement im Dritten Reich wusste man nicht; offene Diskussionen darüber gab es nicht. Nach dem Krieg war der Zulauf zu seinen Vorlesungen und Seminaren groß und nicht weniger seine Autorität als theologischer Lehrer. Das vorliegende Buch gibt nun über alle anstehenden Fragen detailliert Auskunft. Bis in alle Verästelungen hinein geht der Vf. dem Leben und Werk Webers nach. Er hat eine erstaunliche Fülle an Quellenmaterial zusammengetragen, um das Vorgetragene zu belegen. Da er zudem behutsam in seinem Urteil über den bedeutenden und einflussreichen reformierten Theologen ist, lesen die, die O. Weber gekannt haben, das Buch mit Spannung, Neugierde und Anteilnahme.

Die auf 500 Seiten vorgelegte, gewaltige Fülle der Informationen erlaubt nicht, die streng chronologisch vorgehende Lebensbeschreibung in einer Rezension nachzuzeichnen. Es seien daher nur Fakten aufgeführt, die bisher unbekannt und dem heutigen Leser besonders wissenswert sein könnten.

Im Jahre 1902 in Mülheim geboren, wird Weber durch Schülerbibelkreis, das Gemeindeleben in der Freien evangelischen Gemeinde und Erweckungsfrömmigkeit geprägt; er stand auch später immer in enger Beziehung zu führenden Gemeinschaftschristen im Siegerland. Unter seinen theologischen Lehrern in Bonn und Tübingen wurde Adolf Schlatters Einfluss für seine kirchenpolitische Stellung im Dritten Reich wichtig, da jener eine natürliche Theologie und Ethik vertrat (37, 49). Im Zweiten Examen (1927) kritisierte Weber Karl Barths Akzentverschiebung "von der Gottesfrage zur Christusfrage" (48). Er wurde im Jahr 1928 erster Leiter der reformierten Theologischen Schule Elberfeld und trat in ein enges Verhältnis zu dem Rheydter Pfarrer Langenohl und zu Professor W. Goeters in Bonn, deren Anliegen die Erneuerung der reformierten Theologie war (53). In der Schülerbibelkreis-Arbeit betonte er "die schöpfungsmäßige Seite des Volkstums" (63, 75 f., 78). In einer Zeitanalyse aus dem Jahr 1932 kritisierte er aus guten Gründen den herrschenden Liberalismus, Parlamentarismus und Kapitalismus (77) und erwartete ein Erstarken des Nationalismus und der Autorität der Obrigkeit (78). Es war daher kein Zufall, dass er am 1. Mai 1933 in die NSDAP eintrat; wenig später schloss er sich der Glaubensbewegung Deutsche Christen (GDC) an, deren anfangs überzeugendes volksmissionarisches Programm damals bei vielen Christen Hoffnung weckte auf ein Wiedererstarken der Kirche (97). Das Ziel, die radikale Richtung Hossenfelders in der GDC zurückzudrängen, ließ Weber kirchenpolitisch aktiv werden; konsequent trat er - wie viele andere Theologen - nach der Sportpalastkundgebung vom 13. November 1933 aus der GDC aus. Unverständlich bleiben seine Äußerungen, getaufte Juden in judenchristlichen Gemeinden zusammenzuschließen (100, 244 f.) und ebenso seine Bereitschaft, sich nach der Sportpalastkundgebung dem Kirchenregiment des Reichsbischofs Müller als reformierter Minister zur Verfügung zu stellen. Kein geringerer als Karl Barth hatte ihn eindringlich davor gewarnt (124). Der Vf. legt viele Zeugnisse vor, die Weber auch in der Folgezeit als Nationalsozialisten ausweisen (163, 171 u. ö.). Die (wenigen) antijudaistischen Bemerkungen in der "Bibelkunde des Alten Testaments" (Bd. 1, 1934) sind aufschlussreich (167 f.). Wann Weber begann, sich von der nationalsozialistischen Politik zu distantieren, ist nicht auszumachen (vgl. 256, Anm. 282); diese Entwicklung sei "stufenweise erfolgt" (347). Der Bruch mit den Führern der Bekennenden Kirche (BK) bestand bis zum Kriegsende; Weber unterstützte die intakten Kirchen. Die Aussöhnung mit Karl Barth im Jahr 1945 ist ergreifend (266), die mit Martin Niemöller im Jahr 1948 nicht weniger (291). Weber hat sich nach dem Krieg schnell als führender Theologe im deutschen Reformiertentum durchgesetzt.

Nach dem Krieg engagierte er sich überraschend gegen die Wiederbewaffnung (310), Stationierung von Atombomben - ohne vom status confessionis zu reden (342 f.) - gegen Militärseelsorgevertrag (357) und für die Anerkennung der DDR (364); er stand der SPD nahe (355). Für die ganze Zeit seiner Wirksamkeit gilt, dass er große organisatorische Fähigkeiten besaß, wie sich aus der Abfassung von zahlreichen Ordnungen, Programmen und Statuten ergibt, eine Begabung, die dem verborgen blieb, der Weber nur als Theologen kannte.

Der Vf. skizziert kurz den Inhalt seiner Aufsätze und Bücher. Ein Gesamtbild seiner Theologie entsteht trotzdem nicht - doch geht dieses Verlangen wohl über das vom Vf. gestellte Ziel hinaus. U. E. bestand Webers grundlegendes dogmatisches Bestreben in der Erforschung und dogmatischen Einbindung der biblischen Aussagen, im Rückgriff auf die Tradition und der Auseiandersetzung mit ihr, insbesondere mit Calvin. Hingegen scheint uns der Einfluss Barths auf seine Theologie einmal stärker, einmal schwächer gewesen zu sein; an diesem Punkte sollte die Forschung nochmals einsetzen. Der Vf. stellt Webers "rezeptive und darstellende Begabung" bei der Einführung in Barths Kirchliche Dogmatik heraus (299, vgl. 327, Anm. 188).

Trotz der biographisch exakten Darstellung wird der Vf. Weber als reformiertem Theologen nicht gerecht. Der dauernde Vorwurf des "Konfessionalismus" übersieht die damalige tatsächliche Lage. Zwar erwähnt er Zöllners Aufruf zur Bildung einer lutherischen Kirche innerhalb einer Nationalkirche und die reformierte Reaktion darauf (88 f.), lässt aber den drohenden Verlust reformierter Minderheitsgemeinden (148) außer Betracht, z. B. in Hessen-Nassau. Webers Gegensteuern wird immer als "Konfessionalismus" gewertet (129 und passim). In Wahrheit wurde im Kirchenkampf dauernd versucht, eine einheitliche lutherische Kirche, auch in den unierten Gebieten, zu errichten. (Vgl. Geschichte der EKU, III, 264 ff. und 368 ff.).

Der Vf. lässt auch eine interessante Wertung unbeachtet, zu der er das Material selbst vorlegt: O. Weber lehnte die Barmer Theologische Erklärung nicht nur kirchenpolitisch und theologisch ab, sondern auch konfessionell. Die Unterzeichnung durch Lutheraner, Unierte und Reformierte bezeichnete er als "unionistisch" (im negativen Sinne) (154, 165, 183, 190, 265). Man beachte, dass der konfessionelle Gegensatz im Jahr 1933 gerade seinen Höhepunkt erreichte. Da er die Entstehung der BK kritisierte, empfand er den Zusammenschluss evangelischer Theologen ohne Rücksicht auf das Bekenntnis als Unionismus. Diese Sicht Webers und seiner Freunde ist kirchengeschichtlich bemerkenswert. Der Vf. verbaut sich allerdings die geschichtliche Beurteilung durch das Hineintragen heutiger Erkenntnisse, so wenn er die Barmer Theologische Erklärung als Bekenntnis bezeichnet (183, 277, 283), oder wenn er seine Sympathie für die BK durchscheinen lässt.

Mit der Genauigkeit im Detail geht eine Zurückhaltung beim Aufweis des geschichtlichen Kontextes einher. Gewiss, die nötigen Daten sind genannt.

Aber man vermisst doch Verständnishilfen wie etwa die Erwähnung der Spaltung und Schwächung der BK seit Bad Oeynhausen 1936, der Zusammensetzung des Reformierten Arbeitsausschusses und des Moderamens des Reformierten Bundes usw. Zu korrigieren ist: S. 45, die Weimarer Verfassung beinhaltet keine "Trennung von Staat und Kirche" - S. 312 Reihenfolge: Gollwitzer - Wolf.

Das Buch wird durch die Überschriften, einen Personenindex, Webers Liste der gehaltenen Vorlesungen und Seminare und eine Bibliographie vervollständigt. Es schließt eine große Lücke in der Erforschung des Kirchenkampfes und auch der Nachkriegsgeschichte.