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Ausgabe:

Januar/2001

Spalte:

64–67

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Förster, Niclas

Titel/Untertitel:

Marcus Magus. Kult, Lehre und Gemeindeleben einer valentinianischen Gnostikergruppe. Sammlung der Quellen und Kommentare.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 1999. XII, 485 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 114. Lw. DM 198,-. ISBN 3-16-147053-2.

Rezensent:

Marco Frenschkowski

Arbeiten über einzelne Gestalten der frühen Kirchengeschichte und insbesondere ihrer Peripherie haben mit Recht Konjunktur. Nach den vielbeachteten Monographien von Christoph Markschies über "Valentinus Gnosticus?" (1992) und Winrich Alfried Löhr "Basilides und seine Schule" (1995) wird man neuerdings etwa auch an Katharina Greschat, "Apelles und Hermogenes" (2000) oder die vorliegende Studie über den valentinianischen Gnostiker Markos denken dürfen. Diesen Arbeiten gemeinsam ist die sorgfältige Sammlung und Kommentierung des erhaltenen, meist fragmentarischen Quellenmaterials und die Emanzipation vom Urteil und auch den Wahrnehmungskategorien der antihäretischen Kirchenväterschriften.

"Marcus Magus" ist nach einer ausführlichen Gesamtsichtung der Quellen (7-53) v. a. ein Kommentar zu Irenäus, adv. haer. I, 13-16, wobei die zweite Hauptquelle (Hippolyt, ref. VI, 39-54) detailliert verglichen wird, wenn sie Eigenes bietet. Besondere Aufmerksamkeit wird auf die Trennung von "Tradition" und "Redaktion" im Markosreferat des Irenäus gelegt. Alle anderen Quellen sind von geringerer Bedeutung und beruhen in ihrem Sondergut meist auf Missverständnissen, was namentlich auch für die recht konkreten Nachrichten Hieronymus, ep. 75, 3 ad Theodoram zu gelten scheint (41 f.). Eigene unabhängige und glaubwürdige Nachrichten finden sich aber immerhin sogar noch bei dem Melkiten Agapius von Hierapolis (Mahbub ibn Qustantin, gest. nach AD 941), auf den in diesem Kontext schon das wichtige Werk von F. Haase, Altchristliche Kirchengeschichte nach orientalischen Quellen, Leipzig 1925 aufmerksam gemacht hat. F. widmet Agapius eine wichtige Analyse (44-52), nach der diese Sondernachrichten vielleicht (wohl über Zwischenglieder) auf Briefen des Irenäus beruhen (von denen sonst nur wenige Fragmente erhalten sind). F.s Analyse des Irenäus nimmt gegenüber älterer Forschung insofern eine wichtige Einschränkung vor, als der Abschnitt adv. haer. I, 17-21, der Markos nicht mehr explizit als Quelle nennt, einer anderen Valentinianergruppe zugeschrieben wird und also als Quelle für Markos entfällt. Das gilt dann insbesondere für die aramäischen sakramentalen Formeln I, 21, 3, die zu den ältesten christlich-aramäischen Texten überhaupt gehören und die F. folglich (leider) nicht behandelt (12 f.). Das will mir nicht völlig einleuchten, denn die Affinitäten beider Abschnitte (der explizit markosischen und der darauf folgenden) sind sehr groß; vielleicht verwendet Irenäus I, 13, 1-16, 2 eine Schrift des Markos, später aber markosisches Gut unklarerer Herkunft (aus der Diskussion mit Markosiern in seiner Gemeinde, deren Existenz er ja bezeugt?). Schon im Vorwort wird als Ziel der Arbeit benannt, "ein deutliches Bild der innersten ,Antriebskräfte' der Markosierreligiosität" (V) zu zeichnen. Dazu wäre vielleicht doch ein wenig mehr Religionspsychologie erforderlich. So ist aber immerhin eine fleißige, sorgfältige Untersuchung im Rahmen herkömmlicher patristischer Fragestellungen und mit einer feinen Sensibilität für die religionsgeschichtlichen Zusammenhänge entstanden. Gegenüber für den Theologen eher entlegenen Gebieten wie der Geschichte der mystischen Buchstaben- und Zahlenspekulation, der Astrologie, der Magie etc. hat F. keine Berührungsängste. Souverän ist auch die Heranziehung antiker Realien, etwa zum computus digitorum, der wichtigsten antiken Rechentechnik (380-388).

Markos - dessen floruit um 160-180 anzusetzen ist - wird als eigenständiger Vertreter valentinianischer Gnosis profiliert, dessen System sich deutlich von dem anderer Vertreter dieser großen Schule unterscheidet und der auch nicht recht in das Schema eines italischen und eines östlichen Zweiges passt. Als wandernder Prediger im kleinasiatischen Raum bewegte er sich offenbar lange im kirchlichen Rahmen, wo seine Anhänger nur in kleinen Schritten eigene Gemeinschaften gebildet haben (und dies wesentlich unter äußerem Druck). Ein Adaptionsprozess an kirchliche Verhältnisse wird durch die Existenz des Bischofsamtes unter römischen Markosiern im 3. Jh. illustriert. Neben valentinianischen Spezifika (den 30 Äonen etc.) rezipiert er neupythagoreische Zahlenmystik (wie Philon, der ihm hierin stark ähnelt), Gematrie und Buchstabensymbolik, Motive ägyptischer Schöpfungstheologie (längst weit verbreitet in der hellenistischen Welt) und anderes Gut aus dem synkretistischen Repertoire (F. spricht 415 vom "Bildungseklektizismus"), zu dessen Kenntnis die vorliegende Monographie einen beachtlichen Beitrag leistet. Auch die allegorische Auslegung biblischer Texte durch Markos ist gut greifbar. Interessanterweise scheint der Gnostiker zwar öfters die Synoptiker und das Alte Testament, aber nicht Johannes und Paulus zu benutzen (143); allerdings ist bei unserer schmalen Überlieferungslage ein sicheres Urteil nicht möglich. Das markosische Weinritual war keine Variante der Eucharistie, sondern hat völlig andere Bezüge (401).

In zwei Richtungen scheint mir nach wie vor eine Weiterarbeit zur markosischen Gnosis erforderlich. Der weite Fragehorizont der "gender studies" hat sich bereits früher der komplexen, betont paradoxen Geschlechtssymbolik des Gnostikers angenommen (Markos sieht sich selbst als "Uterus" für die Offenbarung; alle Gnostiker sind gegenüber ihrem "Engel", d.h. ihrem himmlischen Widerpart, "weiblich").

Mit diesen Arbeiten (vgl. schon E. Schüssler Fiorenza, Zu Ihrem Gedächtnis, 1988, 334-338) könnte das Gespräch weitere Gesichtspunkte zu Tage fördern, welche die soziale Lebenswelt der Markosier neu beleuchten. Kleine und verhaltensdeviante neue religiöse Bewegungen pflegen oft auch im Geschlechtsrollenbereich "aus dem Rahmen" zu fallen. F. hält die diesbezüglichen Vorwürfe des Irenäus (Libertinismus) für üble Nachrede (123-126 u. ö.); vielleicht ist die historische Wirklichkeit hier doch komplexer gewesen. Ein Vergleich mit mirakulösen Phänomenen in neuen religiösen Bewegungen könnte die religionspsychologische Seite aufhellen; die Weinwunder des Markos haben mich an Mirakel erinnert, die z. B. im Umfeld Sai Babas erzählt werden. Andererseits ist es geradezu ein Gesetz des Umganges mit religiösen Minderheiten, dass ihnen Leichtgläubigkeit im Grenzbereich zwischen Religion und Superstition vorgeworfen wird, auch wenn diese selbst "mirakulöse" Phänomene durchaus ambivalenter deuten, als es sich aus der polemischen Sicht der religiösen Mehrheit darstellt. Überhaupt scheint mir, dass es an der Zeit ist, in Bezug auf die Lehr-, Autoritäts- und Gruppenbildungsprozesse am Rande der Alten Kirche stärker den Kontakt zur vergleichenden religionswissenschaftlichen Erforschung neuer religiöser Bewegungen zu suchen, die z. B. in Sachen Stereotypforschung, differenzierter Wahrnehmung von Legitimations- und Autoritätsstrukturen, Konversions- und Apostasieprozessen etc. in den letzten Jahren gewaltige Fortschritte gemacht und die eher schlichten Kategorien kirchlich-apologetischer Wahrnehmung weit hinter sich gelassen hat. F.s Aussagen über die Pfingstbewegung (118, Anm. 268), deren Verständnis und Praxis pneumatisch-prophetischer Rede er mit den Markosiern vergleicht, sind in diesem Zusammenhang unbefriedigend. Erscheinungen wie die Bindung von Mitgliedern durch das Versprechen gesteigerter künftiger Offenbarungen (154) haben viele Parallelen in modernen Bewegungen; ähnlich die sozialgeschichtlich aufschlussreiche Beobachtung, dass sich die Markosier nur langsam von einer innerkirch- lichen auf eine außerkirchliche Mission umgestellt zu haben scheinen. Zu solchen Themen ist weitere Forschung möglich.

Ein methodisches Problem vieler Studien über verschollene homines religiosi ist, dass sie schließlich mehr zu wissen meinen, als wir wissen können. Auch F. entgeht dieser Falle nicht. Ob Markos wirklich den Johannesprolog (191) und die Auferstehung Jesu (405) nie erwähnte, lassen die Fragmente nicht erkennen. Dass Mt 18, 10 sein "Lieblingsvers" war (206 vgl. 233), wird sich aus gerade einmal zwei Erwähnungen schwerlich schließen lassen. Besonders problematisch ist das argumentum e silentio, wenn es um die fehlende Reflexion über das Abhängigkeitsverhältnis zu Valentin geht (407).

Hier spricht zwar der eigene, umfassende Offenbarungsanspruch des Markos und seine fehlende Verortbarkeit in den beiden Hauptzweigen valentinianischer Theologie (395 f.) in der Tat dafür, dass er sich nicht als "Schüler" Valentins sah, aber wirklich wissen können wir auch dies nicht, zumal wir nicht einmal wissen, wie verlässlich Irenäus die Markosier wahrnahm. Hippolyt, ref. VI, 42, 1 - der selbst Markosier kannte - beweist ja, dass das Referat des Irenäus von diesen als durchaus fehlerhaft empfunden wurde (F. weist mit Recht auf diese Stelle mehrfach hin). Das Fehlen des Äonennamens "Sophia" für die Zentralgestalt des gnostischen Mythos im Referat des Irenäus ist doch wohl schwerlich mehr als ein Zufall (211). F. zeigt andernorts, dass Markos ohne Kenntnis valentinianischer "Rahmenvorgaben" kaum verständlich gewesen sein dürfte (212). Etwa die Aufnahme der platonischen Idee einer Weltseele scheint Markos zwar von anderen Valentinianern zu trennen (272-274), wie er in seinem deutlichen Monismus auch sonst Bezüge zum Platonismus hat (299), aber hier leidet unsere Analyse wiederum am ungenügenden Erhaltungszustand des originalen Systems Valentins. Dass die Markosier eine Hyperventilationstechnik zur Erzeugung von ekstatischen Bewusstseinszuständen angewendet haben, ist zwar nicht unwahrscheinlich (bekanntlich beruht die Euphorie stimmtechnisch nicht geübter Chöre auf einem ähnlichen physiologischen Effekt), kann aber schwerlich aus der Erwähnung einer von "leerer Luft erhitzten Seele" in dem Fragment eines antimarkosischen Gedichtes adv. haer. I, 13, 3 (25 f.118-121) geschlossen werden, das sich vielmehr wohl aus dem Repertoire stoischer Psychologie erklärt.

Fünf Exkurse bereichern das Werk: "Wer war Kolarbasos?" (168-173); "Wurden altägyptische Schöpfungsmythen ins Griechische übersetzt?" (186-190); "Spekulationen über die Bedeutung der Buchstabenklassen" (240-242); "Magische Spekulationen über die theurgische Funktion der Buchstaben" (242 f.) und "Funktion und Verwendung der Gematrie" (256-258).

Die Frage, was für eine Persönlichkeit sich hinter dem adv. haer. I, 14, 1 erwähnten Kolarbasos verbirgt, hat schon viele Gelehrte beschäftigt; F. hält ihn für einen Gewährsmann gematrischer Techniken, also nicht für einen anderen Gnostiker wie die antiken Ausschreiber. Dazu versucht er u. a., Kolarbasos mit drei Inschriften als kilikischen Personennamen plausibel zu machen (169 f.), von denen nur eine genau entspricht, auf der K. aber wohl ein Frauenname ist (dazu tritt eine stadtrömische Inschrift sowie Nilus Ep. III, 52, wo ebenfalls ungefähr entsprechende Namen bezeugt sind). Das onomastische Feld ist gerade in Kleinasien freilich komplizierter, als F. ausführt; auch Ortsnamen sind zu bedenken (Kolobrassos, Kolobrasos u. ä. an der pamphylisch-kilikischen Grenze bei Claud. Ptolem. geogr. 5, 5, 9 ed. Nobbe; Varianten und Weiteres vgl. bei Ladislav Zgusta, Kleinasiatische Ortsnamen, 1984, 560). Das ganze bedarf neuer Untersuchung. In Bezug auf altägyptische Schöpfungs- und Emanationsmythen (deren Rezeption in griech. Fassung durch Markos F. 182-192 zeigen will) gibt es noch diverses weiteres Material speziell im Vorfeld der Hermetik (E. Iversen, Egyptian and Hermetic Doctrine, Kopenhagen 1984). Die präzise Dokumentation der auffälligen neupythagoreischen Ideen bei Markos ist auch für die allgemeine (sagen wir: "bildungsgeschichtliche") Verortung solcher gnostischen Systeme in der antiken Philosophie wichtig, die von der Theologie gerne etwas vernachlässigt wird; Spekulationen über Affinitäten zu Numenios drängen sich in der Tat auf (310 f.).

Mehr wüsste der Rez. gerne auch darüber, warum gerade der biblische Dämon Azazel als "engelhafte Kraft" für die Mirakel des Markos verantwortlich sein soll. Dieses Stück vorirenäischer Polemik (adv. haer. I, 15, 6) könnte mit äth. Hen. 9, 6 vgl. 69, 2 (Text unsicher) zusammenhängen. Theodor Hopfner, Griechisch-ägyptischer Offenbarungszauber (unentbehrlich für jeden, der über antike Magie arbeiten will) ist merkwürdigerweise noch nach der von C. Wessely autographierten Erstausgabe 1921-1924, nicht nach der verbesserten (und benutzerfreundlicheren) Neuausgabe durch R. Merkelbach u. a. (I, 1974; II, 1, 1983; II, 2, 1990) verwendet, für die ich hier beiläufig etwas Reklame machen möchte. In eine großkirchlich-harmonisierende Sichtweise verfällt F. einmal, wenn er betont, die "Kirche" habe die Astrologie stets abgelehnt (23), wobei mit "Kirche" hier doch primär die Theologenzunft gemeint ist. Auch manche Redundanzen und Erklärungen von Selbstverständlichkeiten wären vermeidbar ("der Ausdruck ,prahlen' ... ist wahrscheinlich wegen seiner negativen Konnotation gewählt worden" 57). An einigen Stellen wäre ein Hinweis auf die Quellen sinnvoller gewesen als ein solcher auf Sekundärliteratur (61 f. zu Anaxilaus von Larissa, der 28. v. Chr. als Zauberer aus Italien verbannt wurde; 133, Anm. 309 über römische Gesetze gegen magische und pharmazeutische Aphrodisiaka; 125 f., Anm. 295 zum quantitativen Anteil von Frauen in gnostischen Gemeinschaften, etc.).

Diese eher harmlosen kritischen Anmerkungen schmälern aber nicht den überaus günstigen Gesamteindruck des Buches, welches die Erforschung einer weiteren Gruppe altkirchlicher "devianter" Theologie auf eine neue und stabile Grundlage stellt.