Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2001

Spalte:

53 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Mell, Ulrich [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Gleichnisreden Jesu 1899-1999. Beiträge zum Dialog mit Adolf Jülicher.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1999. XV, 293 S. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft, 103. Lw. DM 188,-. ISBN 3-11-016753-0.

Rezensent:

Wolfgang Harnisch

Im Jahr 1899 gab Adolf Jülicher erstmalig sein Werk ,Die Gleichnisreden Jesu' als Gesamtausgabe heraus (Teil I [1886] 21899; Teil II 1899). Das Jubiläumsjahr 1999 nahm Ulrich Mell zum Anlass, einen Sammelband mit 12 Beiträgen zum Gespräch mit Jülichers Gleichnisinterpretation herauszugeben.

Nach einem Vorwort, in dem der Hg. auf das Ziel des Jubiläumsbandes aufmerksam macht, "aus theologiegeschichtlicher, forschungsgeschichtlicher, exegetischer, religionspädagogischer und kirchengeschichtlicher Optik" (XI) das Unternehmen Jülichers zu reflektieren, und nach einer Dokumentation der Publikationsgeschichte von Jülichers Gleichnisreden kommen die Verfasser der einzelnen Abhandlungen zu Wort. Kurt Erlemann skizziert kritisch die Gleichnisforschung dieses Jahrhunderts, wobei er sich auf die bei Jülicher akzentuierten Forschungsergebnisse konzentriert und die Themen "allgemeine Satzwahrheiten, rhetorische Zuordnung der Gleichnisse, antiallegorischer Affekt, Missverständnis-These" (7) diskutiert. - Die Pointe des Aufsatzes von Stefan Alkier ist, dass sich Jülicher bei der Wesensbestimmung der Gleichnisse weniger auf die Rhetorik und Poetik und schon gar nicht auf die Metaphysik des Aristoteles stützte. Zwar versteht er die Gleichnisse im Sinne des Aristoteles als ,argumentative Überzeugungsmittel' (66), was seine Sicht des Materials aber motiviert, ist ,die Logik des Ursprungsdenkens' (49), die über die Gleichnisreden die Stimme Jesu zu rekonstruieren erhofft, und was ihn in formgeschichtlicher Hinsicht leitet, sind eher Lessing und Herder. - FranÁois Vouga fragt in redaktionskritischer Hinsicht nach dem Verständnis von parabole. Während das MkEv den Begriff kommunikationstheoretisch in Ansatz bringt, das MtEv mit ihm eine Gattungsanzeige und einen Verweis auf "die eschatologischen Geheimnisse der Verstockung Israels" (88) verbindet, bezeichnet die Wendung nach dem LkEv eine literarische Gattung und "ein rhetorisches Mittel" (91), das das Gesagte als Gottes Wort ausgibt, welches den Leser zum Glauben anhält und zu einer entsprechenden Praxis verpflichtet. - In einer Erörterung, die den Titel trägt ,Verstehen durch Metaphern', befasst sich Hans Weder mit dem Gleichnis von den ,spielenden Kindern'. Im Unterschied zu Jülicher und seinem tertium comparationis hebt er auf den erkenntnistheoretischen Gewinn ab, den die Zumutung des Gesagten enthält. Im vorliegenden Fall lässt sie ,die erfüllte Zeit' als ,Zuspielphänomen' (109) entdecken: "Sache des Kairos ist das Aufspielen, Sache der Menschen das Mitspielen. Sache der Gottesherrschaft ist das schöpferische Wirken, Sache der Menschen das vernehmende Tun" (110). - Nach Ulrich Mell, der Lk 10,30-35 als selbständiges Stück auslegt, macht Jesus mit dem Gesagten eine Hiobparabel geltend: Mit dem Samaritaner fordert er "von seinen jüdischen Glaubensgenossen die Umkehr in eine Gegenwart, in der Gott glaubend und hoffend als Frage nach seiner Gerechtigkeit in einer gewalttätigen Welt ausgehalten und erfahren wird" (147). - Jürgen Becker zeigt, dass in Joh 10,7-18 Allegorese eines Gleichnisses (10,1-5) vorliegt, wie sich Joh 15,9-17 als paränetische Exegese einer Allegorie (15,1-8) versteht, wobei in beiden Fällen joh. Schultheologie für das Aufkommen der ,wachsende[n] Texte' (178) verantwortlich ist. - Silke Petersen erklärt den auffälligen Sachverhalt, dass im EvThom Gleichnistexte begegnen, "die nach den Kriterien der Formgeschichte früher und ursprünglicher sind, aus redaktionsgeschichtlichem Blickwinkel aber sekundär" (205), mit dem "Konzept der ,sekundären Mündlichkeit'": In den synoptischen Evangelien schriftlich gesammelte Tradition wurde "auch später noch mündlich weitertradiert ..., um dann im EvThom wieder in eine schriftliche Form einzugehen" (206).

Die Frage nach der Didaktik Jesu, von Jülichers Gleichnishermeneutik zugleich angeregt und verstellt, treibt Ingo Baldermann um. Er ist von der Abstraktheit der von Jülicher empfohlenen rhetorischen Argumentation ebenso enttäuscht wie von der Fremdheit des metaphorischen Prozesses. Anhand von Mk 4,3-9parr. zeigt er, dass Gleichnisse die Wahrnehmung von ,Hoffnungsmustern' (217) erlauben, die keineswegs autoritär, sondern einladend sind. - Peter Lampe, der die ,Gleichnisverkündigung Jesu im Lichte konstruktivistischer Wissenssoziologie' untersucht, weist nach, "dass das von Jesus prägnant formulierte Gleichniswort lediglich den Anstoß gab für eine Reihe kognitiver Verknüpfungen und Konstruktionen, die die Hörer selber aufgrund des Gleichnisses vornehmen mussten" (236). - In seiner auf ,Erzählen und Begreifen' abgestimmten Erörterung legt Eckart Reinmuth dar, dass z. B. der Begriff ,Auferstehung' kein Philosophem darstellt und auch nicht ,historische facta bruta' zu verstehen gibt, sondern auf ,Erzählinhalte', ,Gegengeschichten' (253 f.) abzielt, die von menschlicher Erfahrung berichten, dabei aber das Erzählen vom Handeln Gottes intendieren. Das darin "wirksame Zusammenspiel von Erzählen und Erörtern ... hält die Sprache des Glaubens lebendig; es ermöglicht, dass die Metaphern des Glaubens zu Metaphern des Lebens werden" (254). - Schließlich skizziert Jochen-Christoph Kaiser ,Adolf Jülicher als Zeitgenosse', wobei nicht nur die Berufung nach Marburg, sondern u. a. auch seine Rektoratsrede von 1901 und seine Schrift über ,Die Entmündigung einer preußischen theologischen Fakultät in zeitgeschichtlichem Zusammenhange' (1913) eine gebührende Berücksichtigung finden.

Der Wert der Jubiläumsschrift bemisst sich daran, ob es ihr gelungen ist, den Dialog mit Jülicher erneut in Gang zu bringen. In dieser Hinsicht genügen nur die Beiträge von Erlemann, Alkier, Weder, Mell, Baldermann und Kaiser den in sie gesetzten Ansprüchen. Im Übrigen hat man den Eindruck einer gequälten oder allzu bemühten Bezugnahme auf den Titel des Unternehmens.