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Ausgabe:

Januar/2001

Spalte:

45–47

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bauckham, Richard

Titel/Untertitel:

The Fate of the Dead. Studies on the Jewish and Christian Apocalypses.

Verlag:

Leiden-Boston-Köln: Brill 1998. XVI, 425 S. gr.8 = Supplements to Novum Testamentum, 93. Geb. hfl 220.50. ISBN 90-04-11203-0.

Rezensent:

Jörg Frey

Die vorliegende Sammlung des britischen Neutestamentlers und Apokalyptik-Experten vereint 14 Studien zu Texten und Themen der jüdischen und christlichen Apokalyptik, darunter fünf bislang unveröffentlichte Arbeiten. Die behandelten Texte reichen vom Wächterbuch (1Hen 1-37) bis ins Mittelalter, wobei das vorrangige Interesse hier nicht den kanonischen Texten,1 sondern bislang vernachlässigten Texten wie z. B. der Petrusapokalypse, der Apokalypse der Sieben Himmel oder den verschiedenen Apokalypsen Marias gilt. Die Grundthese der Sammlung ist, dass jüdische und christliche Apokalypsen einen durchgehenden Traditionsstrom bilden, insofern jüdische Apokalypsen überwiegend von Christen überliefert und z. T. christlich bearbeitet wurden und christliche Apokalypsen Formen und Inhalte der jüdischen übernahmen und weiterführten.

Dies gilt auch für Texte, die vom Geschick der Toten handeln. Um sie kreisen die ersten drei Studien. Der Überblicksartikel "Descents to the Underworld" (9-48) behandelt zunächst den weiten Umkreis altorientalischer, iranischer und griechisch-römischer Unterweltsfahrten und beschreibt auf ihrem Hintergrund die jüdischen und christlichen Texte sowie die Tradition vom Descensus Christi im Neuen Testament und in der Alten Kirche. Die materialreichen Einzelstudien "Early Jewish Visions of Hell" (49-80) und "Visiting the Places of the Dead in the Extra-Canonical Apocalypses" (81-96) führen die Details der Sicht des Vf.s weiter aus: Entgegen der einflussreichen These von A. Dieterich2 zeigt B., dass die christlichen Höllenvisionen nicht primär von der Tradition der griechisch-römischen Hadesfahrten geprägt sind (so sehr sich Analogien im Detail finden), sondern aus der seit Henoch gepflegten jüdischen Tradition kosmischer Reisen entstanden sind, wobei die charakteristische Gestalt der Höllenschilderungen erst durch eine veränderte Sicht der Toten ermöglicht wurde: Erst nachdem sich (im 1.-2. Jh. n. Chr.) die Auffassung durchsetzte, dass Lohn und Strafe den Toten nicht erst am Ende, sondern schon vorher zuteil werden, konnten die Reisen in die Unterwelt sich zur Beschreibung der Höllenqualen entwickeln. Als das wohl erste Beispiel dafür kann die Elia-Apokalypse gelten. B. skizziert die Entwicklung der Gattung der Höllenfahrten (79 f.) und die unterschiedlichen Formen kosmischer Reisen in Apokalypsen und in narrativen Kontexten.

Die Befunde werden in zwei Beiträgen für die Interpretation neutestamentlicher Texte nutzbar gemacht. In "The Rich Man and Lazarus: The Parable and the Parallels" (97-118) zeigt B., dass die Parabel Lk 16,19-31 auf dem Hintergrund der Motive kosmischer Reisen zu verstehen ist: Es geht in Umkehrung des Reise-Motivs um die Rückkehr eines Toten zu den Lebenden. Diese Rückkehr wird, und darin liegt die Pointe, gerade verweigert. Die apokalyptische Offenbarung des postmortalen Geschicks ist überflüssig, weil die Lebenden "Mose und die Propheten" haben. Die Studie "The Tongue Set on Fire by Hell (James 3:6)" (119-131) interpretiert die vier letzten Worte von Jak 3,6 neu. Nach B. geht es hier nicht um die "teuflische" Gewalt der Zungensünden, sondern um die Strafe für diese nach dem ius talionis, dem zufolge die Strafe eben das Glied trifft, das gesündigt hat.

Die sechste Studie "The Conflict of Justice and Mercy: Attitudes to the Damned in Apocalyptic Literature" (132-148) geht der Frage nach der Gerechtigkeit der Höllenstrafen und dem Motiv der Bitte der Verdammten um Begnadigung bzw. ihrer Zurückweisung in der apokalyptischen Tradition nach. Das älteste Beispiel für die Fürbitte der Gerechten für die Sünder findet sich in der Petrusapokalypse, deren Aussagen (nach dem griechischen Rainer-Fragment) B. ausführlich erörtert. In "Augustine, the 'Compassionate' Christians, and the Apocalypse of Peter" (149-159) zeigt B., dass die Tradition der Petrusapokalypse von der jenseitigen Fürbitte der Gerechten für die Sünder auch hinter der Argumentation der heilsuniversalistisch denkenden Christen steht, mit denen sich Augustinus (CivDei XXI 17-27) auseinandersetzt.

Weitere Studien gelten der Petrusapokalypse und ihrer historischen Einordnung. In "The Apocalypse of Peter: A Jewish Christian Apocalypse from the Time of Bar Kokhba" (160-258) ordnet B. das Werk dem Judenchristentum der Bar-Kochba-Zeit zu und zeigt damit, dass diese Schrift ein grundlegendes Zeugnis für die Kontinuität der jüdischen und christlichen apokalyptischen Traditionen darstellt. In "A Quotation from 4Q Second Ezekiel in the Apocalypse of Peter" (259-268) macht B. plausibel, dass der Verweis auf Ez 37 in ApkPetr 4,7 f. einer apokalyptischen Tradition entstammt, die in dem Pseudo-Ezechiel-Text 4Q385 ff. aus der Bibliothek von Qumran (konkret 4Q385 fr. 2) belegt ist. "Resurrection as Giving Back the Dead" (269-289) analysiert das in ApkPetr 4, aber auch in Apk 20,13 verwendete Motiv, dass die Erde am Ende die Toten herausgeben muss. Hier zeigt sich die Fruchtbarkeit thematischer Studien in der Erforschung der apokalyptischen Traditionen. In "2 Peter and the Apocalypse of Peter" (290-303) untersucht B. das literarische Verhältnis zwischen 2Petr und der ApkPetr und benennt Gründe dafür, dass - wenn ein literarisches Abhängigkeitsverhältnis besteht - letztere den 2Petr voraussetzt. Da der Vergleich nur anhand der Gestalt der Verklärungstradition in beiden Schriften erfolgen kann, bleibt eine solche Verhältnisbestimmung naturgemäß unsicher.

Die letzten drei Texte befassen sich mit oft vernachlässigten Werken, so mit dem lateinischen Text der (auch altirisch und altangelsächsisch belegten) Apokalypse der Sieben Himmel ("The Apocalypse of the Seven Heavens: The Latin Version"; 304-331), der wiedergegeben, übersetzt und kommentiert wird, den unterschiedlichen Mariaapokalypsen ("The Four Apocalypses of the Virgin Mary"; 332-362) und der Himmelfahrt Jesajas ("The Ascension of Isaiah: Genre, Unity and Date"; 363-390). Diese sieht B. (mit Norielli3) als ein einheitliches frühchristliches Werk, das er - sehr früh - auf die Zeit zwischen 70 und 80 n. Chr. datiert. Wenn diese Ansetzung zuträfe, dann wäre dieses Werk - weit mehr, als die Forschung bisher wahrgenommen hat - ein grundlegendes Zeugnis für die Kontinuität der jüdisch-christlichen apokalyptischen Tradition und als Zeitgenosse wesentlicher neutestamentlicher Schriften für die Auslegung des Neuen Testaments von größter Bedeutung.

Die gelehrte Detailargumentation B.s kann hier nicht näher beleuchtet werden. B. zeigt in seinen außerordentlich kenntnisreichen und solide gearbeiteten Studien, dass die Arbeit an den apokalyptischen Traditionen und gerade an vernachlässigten Texten für die Forschung eine Vielzahl an höchst interessanten Aufgaben bereithält. Aus dem Studium der außerkanonischen Apokalypsen ergeben sich erweiterte Perspektiven für das Verständnis der Apokalyptik, deren Deutung bis heute allzu oft nur von den kanonischen Texten (Dan, Apk) und vielleicht noch den wenigen bekannten Pseudepigraphen (1Henoch, 4Esra, 2Baruch) ausgeht.

Das Buch ist durch ausführliche Indizes erschlossen und bietet (XIII ff.) dankenswerterweise eine Übersicht über die Editionen und Übersetzungen der Texte, die nicht in den klassischen Handausgaben zu finden sind. Dem Vf. ist für seine erhellenden und inspirierenden Detailstudien zu danken, seine Thesen verdienen eine ausführlichere Rezeption und Diskussion.

Fussnoten:

1) Dazu hat der Vf. bereits außerordentlich erhellende Arbeiten vorgelegt, s. R. Bauckham, The Climax of Prophecy: Studies on the Book of Revelation, Edinburgh 1993; ders., The Theology of the Book of Revelation, Cambridge 1993.

2) A. Dieterich, Nekyia. Beiträge zur Erforschung der neuentdeckten Petrusapokalypse, Stuttgart 1913.

3) S. den monumentalen Kommentar: E. Norielli [Ed.], Ascensio Isaiae: Commentarius (CCSA 8, Turnhout 1995); weiter: ders., L'Ascensione di Isaia: Studi su un apocrifo al crocevia dei cristianesimi, Origini NS 1, Bologna 1994; ders., Ascension du prophËte IsaÔe, Turnhout 1993.