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Ausgabe:

Januar/2001

Spalte:

43–45

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Zemer, Moshe

Titel/Untertitel:

Jüdisches Religionsgesetz heute. Progressive Halacha. Mit einer Einleitung von W. Homolka. Bearb. und aus dem Hebr. übers. von A. Birkenhauer.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1999. 224 S. 8. Kart. DM 39,80. ISBN 3-7887-1737-8.

Rezensent:

Aharon Agus

In der deutschen Version dieses Buches (die lediglich einen Ausschnitt des hebräischen Originals umfasst) werden die folgenden Themenbereiche behandelt: die halacha als sich entwickelndes System; der Personenstand; Konversion; die Stellung der Frau; der Staat Israel und die Nichtjuden.

Der Inhalt lässt sich unter zwei Rubriken zusammenfassen: 1. die in der geschichtlichen Entwicklung sowie im Selbstbewusstsein der halacha formulierten Prinzipien für eine zeitgemäße Anwendung der Tradition und deren weitere Entwicklung und Transformation; 2. eine Auseinandersetzung mit der wesentlich israelischen Dimension dieser Problematik, welche sowohl von der juristischen, politischen als auch der gesellschaftlichen Realität in der zweiten Hälfte des vergangenen Jh.s geprägt ist.

Der Autor beginnt mit einer Abhandlung über die spezifischen Mechanismen, welche in der halachischen Literatur enthalten sind, um eine gewisse Flexibilität ihrer Auslegung zu gewährleisten: das Selbstverständnis der individuellen Gemeinden in ihrem Bemühen, individuelle Juden nicht auschließen zu wollen; die Ausbeutung der Hermeneutik, um einer Tyrannei des Wortes zu entkommen; die Anerkennung der Notwendigkeit von "Notfallregelungen"; die Autorität der zeitgenössischen Gelehrten, mit einer in Fiktion übergehenden Annahme einer breiten Akzeptanz ihrer Vorstellungen und Forderungen, um die Trägheit der Vergangenheit zu relativieren; der gewagte Versuch der "Sündhaftigkeit" der Betroffenen, insofern sie behaupten, dass kleine, beabsichtigte Verfehlungen besser wären, als ein zum Scheitern verurteiltes Zusammenprallen mit einer nicht zeitgemäßen Apodiktik vermindern zu wollen.

Nur im zweiten Kapitel stellt der Autor die vorwiegend theoretische Frage hinsichtlich der historischen Natur der Offenbarung und der Religion. Diese Ordnung ist bezeichnend für den Charakter des ganzen Buches. Der Autor will die praxisorientierte halacha nicht von vornherein durch eine abstrakte theoretische Überlegung relativieren: Er geht von einer der halacha inhärenten Logik aus, um hieraus nur in zweiter Instanz eine Metadiskussion zu entwickeln. Der aus den USA stammende Autor, der seit den sechziger Jahren in Israel lebt und sich mit den dort existierenden halachischen Fragen auseinandersetzt, unternimmt den Versuch, die israelische Gesellschaft von der Progressivität des Judentums zu überzeugen. Dies trifft jedoch auf eine Gesellschaft, in welcher der Unwille der "Orthodoxie", eine offene, theoretische Diskussion hinsichtlich dieser Themen zu führen, vorherrscht. Ähnlich verhalten sich die streng säkularen Vertreter, die ebenso die Überzeugung hinsichtlich einer fossilen Natur der Religion teilen; wenn auch nicht aus Gründen eines politischen, so doch auf Grund eines kulturellen Machtanspruches. Theologie und Theorie gelten in diesem Kontext, wenn überhaupt, nur als zweitrangig. Das Buch erscheint deshalb jedoch keineswegs uninteressant, ganz im Gegenteil.

Der konkreten Auseinandersetzung mit dem Grundgedanken dieses Werkes kommt eine große Brisanz zu. Die Konfrontation der Kategorien, welche den "Insidern" der jüdischen Religion geläufig sind, wie zum Beispiel mamser (das Kind einer verbotenen sexuellen Beziehung), mit den Lebensvorstellungen eines aufgeklärten, breiten Publikums bildet ein Phänomen, welches auch europäische Leser in ein wiedererkennendes Erstaunen zu versetzen vermag. Gleich verhält es sich auch mit den Fragen hinsichtlich der Familienplanung, der Abtreibung sowie des tabulosen (aufgeklärten) geschlechtlichen Selbstverständnisses von Partnern in einer vom Staat anerkannten Eheschließung. Die Problematik der Konversion in Israel mag für einen Europäer befremdlich erscheinen. Wenn man jedoch bedenkt, dass in Israel die jüdische Identität mit einer gleichzeitigen Anerkennung als Staatsbürger verbunden ist, dann gelangt man rasch zu der Schlussfolgerung, dass auch eine politische Realität in Deutschland von den progressiven Juden hinsichtlich der Frage lernen kann, wie ein modernes (sic! und wir befinden uns vorgeblich schon in postmodernen Zeiten) Einwanderungsgesetz und dessen praktische Umsetzung zu generieren wäre. Gleichfalls erübrigt es sich zu bemerken, dass ein europäisches Selbstverständnis ebenso in Bezug auf die Gleichberechtigung der Frau innerhalb der religiösen und sozialen Realität einer Weiterentwicklung bedarf. Und was die gewalttätige Auswirkung des Nationalismus angeht, so befürchte ich eine drohende, wenn auch lobenswerte Naivität der hier vertretenen progressiven Religiosität: Ich besuchte Deutschland zum ersten Mal am Ende der Nachkriegszeit. Als Amerikaner und Israeli war ich von der Rolle des deutschen Gedächtnisses in seiner Auswirkung auf das Verständnis gesetzlicher Ordnung im Allgemeinen sowie auf das Verhältnis der deutschen Öffentlichkeit gegenüber Fremden im Konkreten tief berührt, obwohl ich schon damals Zeuge eines Auftrittes einiger Neonazis im Flughafen Frankfurt am Main wurde. Heute, als Bürger der Post-Nachkriegszeit denke ich mitunter, dass dieses Gedächtnis droht, zum Opfer eines kulturellen und historischen Vergessens zu werden. Die Bereitschaft, Gewalttätigkeit anzuwenden, sei es im Bereich der zunehmenden "Polizierung der Welt" oder im Interesse einer "inneren Sicherheit", steigt in vielen Bereichen der Gesellschaft. Sollten die Israelis etwa nochmals Opfer ihres eigenen Glaubens an tatsächliche universale Werte werden, die zwar unser "Universum", jedoch nicht unsere Wirklichkeit teilt? Um so mehr trifft die Zeitgemäßheit dieses Buches zu; obwohl ich eine ausführliche Anerkennung hinsichtlich der Einsicht vermisse, dass unsere eigene Erlaubnis und Zulassung sozialer Ungerechtigkeit die Glaubwürdigkeit von Alibis nachhaltig in Frage stellt. Die (amerikanische) Obsession mit Strafe stellt in diesem Kontext durchaus keinen Beitrag für eine Theologie der Gerechtigkeit dar; sicherlich erst recht nicht seitens des jüdischen Standpunktes.

Darüber hinaus ist dieses Buch von überragender Bedeutung, wenn man die (versuchte) Delegitimierung des progressiven Judentums zu begreifen beabsichtigt. Der Kampf gegen diese Entwicklung des Judentums ist kein Kampf gegen eine Aufhebung der Religiosität des Judentums, im Gegenteil. Diese Auseinandersetzung ist gegen die Lebendigkeit der jüdischen Glaubensgemeinschaft selbst gerichtet. Ich spreche nicht von ultra-frommen Gruppierungen, die sich sowohl aus einer Diskussion der Moderne wie auch der Aufklärung selbst ausschließen und die Bezeichnung als "orthodox" ablehnen: für sie existieren nur "Juden", die in der abgeschlossenen Gemeinde leben (und bereit sind, dafür einen außerordentlich hohen Preis zu zahlen), und "Nicht-Juden", die außerhalb dieses definierten Gemeindeverständnisses existieren. Gemeint sind vielmehr die "Orthodoxen", die sich mit dieser Bezeichnung bereits (wenn auch unbewusst) als "neo-orthodox" verstehen. Deren Ablehnung eines historisch entwickelten Judentums entspricht der Ablehnung einer Religiosität, die a) vom Zwang der Äußerlichkeit befreit ist, und b) von der Leichtigkeit einer wesentlich verneinenden Verdinglichung bestimmt ist. Darüber hinaus verneinen sie ebenso eine befreite Suche nach einer echten, lebendigen Frömmigkeit sowie einer in Freiheit gewählten Gemeindezugehörigkeit. Echte Frömmigkeit entspricht einer Religiosität, die selbst in ihrer organisierten Form im Gegensatz zu einer kirchlichen Religiosität steht, die sich vorgeblich über jeden Zweifel erhaben wähnt und die nur in der Freiheit der Trennung von Staat und Religion gedeihen kann. Das vorliegende Buch von Zemer, so interessant dieses erscheinen mag, da es in der konkreten Auseinandersetzung mit einer in Israel überwältigend auftretenden und möglicherweise historisch bedingten Realität verwurzelt ist, vermag jedoch gerade deshalb kein vollständiges Bild des eigentlichen Potentials der progressiven halacha zu entwerfen, ganz abgesehen von deren Religiosität oder gar Frömmigkeit. Ungeachtet dessen bildet es jedoch eine unverzichtbare Lektüre für Juden wie Nichtjuden, die eine Kenntnis sowohl von den befreienden als auch kreativen Energien der gegenwärtigen Renaissance der jüdischen Religion erhalten wollen - der Wiedergeburt einer Realität, deren Wurzeln im Deutschland der Vorkriegszeit liegen.