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Ausgabe:

Januar/2001

Spalte:

34–36

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Witte, Markus

Titel/Untertitel:

Die biblische Urgeschichte. Redaktions- und theologiegeschichtliche Beobachtungen zu Genesis 1,1-11, 26.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1998. XII, 388 S. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 265. Lw. DM 198,-. ISBN 3-11-016209-1.

Rezensent:

Erhard Blum

Bei allen Turbulenzen der neueren Pentateuchdiskussion hält sich im Blick auf die "Urgeschichte" (Gen 1-11) ein grundständiger Konsens, wonach in diesem Textbereich zwei literarische Hauptschichten zu unterscheiden sind, eine "priesterliche" und eine "nicht-priesterliche". Kontrovers diskutiert werden vor allem die literargeschichtliche Zuordnung und Verbindung der beiden Textgruppen sowie der kompositionelle Kontext der nicht-priesterlichen Schicht. Auf diese Fragen konzentriert sich die Marburger Habilitationsschrift (1997) mit einer erneuten literargeschichtlichen Analyse von Gen 1-11.

Ihr Hauptziel bildet dabei "die redaktionskritische Herausarbeitung und theologiegeschichtliche Einordnung der Hand, die als letzte kompositionell und theologisch prägend auf die Urgeschichte gewirkt hat." (46) Dieser "Endredaktion der Urgeschichte" wird insbesondere die redaktionelle Verknüpfung der "priesterlichen Urgeschichte" mit der ursprünglich selbständigen Komposition einer (nachexilischen) "weisheitlichen Urgeschichte" zugeschrieben. Gegenüber herkömmlichen Sichtweisen gewinnt dabei freilich die "Endredaktion" erheblich an Substanz, vor allem zu Lasten der traditionellen "jahwistischen" Schicht. So werden ihr (in vereinfachter Notierung und ohne punktuelle Ergänzungen) zugewiesen: Elemente der vorliegenden Paradieserzählung (2,1b-9b-15.17aa*.19agb. 20aa*; 3,18b. 22.24 und generell: die Hinzufügung von 'lhjm zum vorgegebenen Tetragramm), der Seth-Stammbaum 4,25-26; die Deutung des Noah-Namens 5,29b; Elemente der Fluterzählung (6,7agb; 7,1b.3.8-9.10b.16.22*.23aa*b; 8,21aa) sowie die Einfügung (und Bearbeitung) von "Vorlagen" "unterschiedlicher Herkunft": die Engelehen 6,1-4; die Entsendung des Raben 8,7; Noah, der Weinbauer 9,18b.20-27 (Vorlage: "Noah und seine Söhne Sem und Kanaan" 9,20*.21.22*.23*.24-25.26*); die nicht-priesterlichen Teile der Völkertafel 10,4b.8-19.21.24-30 (Vorlage: "diverse Listen"); die Turmbauerzählung 11,1-9 (Vorlage: "Babelätiologie" in 11,2* ["es geschah im Land Sinear"].4a.5a.b[?].8b[?]. 9aa). Außerdem hätte der Endredaktor die ursprüngliche Toledot-Überschrift vor Gen 1,1 nach 2,4a versetzt und 2,1 hinzugefügt.

Die Zuordnung dieser Elemente zu einer Hand, ihre vorgeblich P und nicht-P verknüpfende Funktion, darüber hinaus ihre zeitgeschichtliche Verortung werden nicht zuletzt aus bestimmten inhaltlichen Profilierungen abgeleitet. So thematisiere 2,1 ("aller sb' "von Himmel und Erde[!]) die Erschaffung des himmlischen Hofstaates, der in 1,26; 3,22; 11,6 f. angesprochen werde, in 6,2 ff. (und 3,24 [Cheruben]) agiere. Die Deutung des Noah-Namens in 5,29b ("dieser wird uns trösten [MT] bzw. ruhen lassen (LXX) [von unserer Arbeit und der Mühsal unserer Hände vom Ackerboden, den JHWH verflucht hat]") ziele zum einen auf die Noah-berit von 9,1 ff. (P), nehme zum anderen (mit der vom Vf. bevorzugten LXX-Lesart) das "spät-dtr" Theologumenon von der (von JHWH verliehenen) Ruhe auf und lasse Noah in die Rolle eines universalen stellvertretenden Heilsmittlers einrücken. Die zionstheologische Dimension des Ruhe-Motivs verbinde sich sodann mit der angeblichen tempeltheologischen Profilierung der Paradieserzählung durch die "Endredaktion" in den Elementen der Weltströme (2,10 ff.), den Ausdrücken c und smr (2,15) und den Motiven von Lebensbaum und Cheruben (3,22.24).

In einer synthetisierenden Interpretation ergibt sich aus solchen Elementen als "Kerygma" des Redaktors "die Vorstellung vom Heil in der Gestalt des Tempels als gegenwärtig erfahrbarem Ersatz für das verlorene Paradies, der urzeitlich verankerten Jahweverehrung als Gottesnähe und des durch Noah vermittelten Segens und ewigen ,Bundes' als Surrogat für das ewige Leben" (331). Ausweislich der alttestamentlichen "Paralleltexte" zu den implizierten Gottes- und Menschenbildern, zur Angelologie und zum "Heilsverständnis" sei das angenommene Amalgam von ",priesterliche[n]', spätprophetische[n] und (spät-) deuteronomistische[n] Vorstellungen auf der Basis eines weisheitlichen Hintergrundes zu einer auf Jerusalem konzentrierten Theologie" "am ehesten im Umfeld spätnachexilischer Weisheitskreise des ausgehenden 4. Jh.s v. Chr. zu suchen" (326). Dem korrespondiert die zeitgeschichtliche Verortung von 9,27 (Japhetspruch) und 11,1-9 in der Alexanderzeit (315 ff.320 ff.).

Auch wenn es bei einem Text wie der Urgeschichte kaum eine Überlegung geben dürfte, die in der Forschung nicht bereits einmal formuliert wurde, kann die vorliegende Arbeit einen eigenständigen Erklärungsansatz präsentieren, gestützt auf eingehende Textanalysen und die umfassende Verarbeitung der einschlägigen Literatur (bis 1996). Manche Einschätzungen gewinnen mit der Arbeit zusätzliches Gewicht, etwa die Spätdatierung von 6,1-4 oder die Annahme einer späten Bearbeitung des Noah-Segens in 9,26 f. Gleichwohl bleiben mit Blick auf die zentrale "Endredaktor"-Hypothese und ihre weitreichenden theologischen Deutungen nicht geringe Bedenken, auch methodische.

Insbesondere fällt ins Auge, dass tragende Belege für die behauptete red. Verknüpfung von P und nicht-P erst über die (unbemerkte?) syntaktisch-semantische Atomisierung sprachlicher Elemente ,gewonnen' werden. Das gilt für das (nach der LXX rekonstruierte) Verb in 5,29b ebenso wie für die "dtr" und "priesterlichen" Verortungen der Ausdrücke in 2,15b, in gewissem Maße auch für die aus 2,1 herausgelesene Angelologie. (Kreative Rekontextualisierungen atomisierter Textelemente haben zwar einen legitimen Ort im traditionellen Midrasch - wenn es denn sein muss, auch in postmoderner De-konstruktion -, historisch kontrollierte Exegese hebt sich damit jedoch selbst auf.) Triftiger mit Blick auf die redaktionsgeschichtliche These erscheint demgegenüber vor allem die Möglichkeit, die Seth- und Enosch-Genealogien in 4,25 f. als red. Brücke zum Seth-Stammbaum in Kap. 5 zu erklären, der dadurch als positiv besetzte Linie dem Kainiter-Stammbaum entgegengesetzt werden sollte (63 ff.). Freilich bleibt daneben auch die alte Annahme eines genuinen (nicht vollständig erhaltenen) Seth-Stammbaums der nicht-P-Schicht möglich. So wird weiterhin zu diskutieren sein, ob sich die deutlich "redaktionellen" Stücke nicht doch auf "priesterlich" geprägte Elemente beschränken (z. B. 2,4a; 7,8 f.; die "P"-Elemente in der Völkertafel).

Bei den Konsequenzen ihrer Analyse im Blick auf die Pentateucherklärung insgesamt übt die beachtenswerte Arbeit weise Zurückhaltung (47, 329 f. - in wohltuendem Kontrast zu manch neuerer, z. T. inflationärer Rede vom "Pentateuchredaktor"). Gleichwohl verstärkt sie im Konzert mit neuesten Arbeiten zur Erzeltern- bzw. Exodusüberlieferung (K. Schmid, J. C. Gertz) den Abschied von einer durchgehenden "jahwistischen" Quelle, und damit von der Urkundenhypothese.