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Ausgabe:

Januar/2001

Spalte:

22–24

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Obst, Helmut

Titel/Untertitel:

Apostel und Propheten der Neuzeit. Gründer christlicher Religionsgemeinschaften des 19. und 20. Jahrhunderts. 4., stark erw. u. aktual. Aufl.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000. 627 S. m. 113 Abb. gr.8. Kart. DM 58,-. ISBN 525-55439-7.

Rezensent:

Erich Geldbach

Eine "Warnung" sei gleich vorweg gesagt: Das Buch ist keine "Sektenkunde" und will es auch nicht sein (vgl. 122). Zwar ist zu jeder behandelten Persönlichkeit zu Beginn ein Kurztext über die jeweilige Gemeinschaft kursiv gedruckt zu finden, aber das eindeutige Schwergewicht des Bandes ist durch den Untertitel präzise angegeben. Das umfangreiche Buch bietet eine detaillierte, auf breitem Quellenmaterial und solider, zuverlässiger Interpretation basierende Darstellung der Gründerpersönlichkeiten von christlichen Gemeinschaften im 19. und 20. Jh. Darunter befinden sich Gründer großer und bekannter Sondergemeinschaften wie der Neuapostolischen Kirche, der Mormonen, der Zeugen Jehovas oder der Christengemeinschaft, aber auch Gründer kleinerer Gemeinschaften wie der Lorber-Gesellschaft, der Johannischen Kirche, der Gemeinschaft "Hirt und Herde", oder auch der Siebenten-Tags-Adventisten, die inzwischen ebenso wie das "Apostelamt Juda" zur Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen gehört. Die Gemeinschaften vereint die Tatsache, dass sie im 19. und 20. Jh. von "Aposteln" oder "Propheten" - also von religiösen Außenseitern- gegründet wurden.

Das Buch ist jetzt in vierter, erweiterter Auflage bei Vandenhoeck und Ruprecht erschienen, nachdem es zuvor drei Auflagen im Union Verlag erlebt hatte und in der DDR-Zeit ein unentbehrlicher Ratgeber war, der auch Auskunft über die in der DDR verbotenen Zeugen Jehovas enthielt. Helmut Obst, Ordinarius für Konfessionskunde und Religionsgeschichte an der Universität Halle-Wittenberg, hat keine Mühe gescheut, um ein informatives Buch vorzulegen, das nicht nur viel neues Archiv- und sonstiges Quellenmaterial erschließt, sondern das auch reich bebildert ist und zu jeder Gemeinschaft kurze, aber charakteristische Quellentexte bietet. Bilder und Quellentexte spiegeln in hervorragender Weise die Lehren, das Leben und weitere besondere Anschauungen der Gruppierungen. Sie lassen sich im akademischen Unterricht, aber auch in Gemeindeseminaren sehr gut einsetzen.

Außerdem finden sich zu jeder der Gemeinschaften bzw. Gründerpersönlichkeiten ausführliche Literaturangaben. Hier hätten vielleicht auch neuere Möglichkeiten der Informationsbeschaffung genannt werden können, weil viele der behandelten Gruppen im Internet vertreten sind, z. T. sogar hervorragend. Auch sind manche Texte inzwischen elektronisch verfügbar. So ist z.B. das umfangreiche Schrifttum Lorbers auf einer CD-ROM erhältlich.

Das Buch zerfällt in zwei große Teile. Im ersten werden Personen und Gemeinschaften vorgestellt, die zur Wiederherstellung urchristlicher Zustände das Apostelamt erneuern wollten. Die Endkirche muss der Urkirche entsprechen, daher sind Apostel unerlässlich. Hier werden behandelt die Anfänge der katholisch-apostolischen Gemeinden (21-54), die neuen Apostel der Neuapostolischen Kirche (55-142), Julius Fischer und die Gemeinschaft des göttlichen Sozialismus (143-184) sowie die Apostolische Gemeinschaft mit C.A. Brückner und Peter Kuhlen (185-228). Die Gemeinschaften leiten sich alle von den zwölf englischen Aposteln der katholisch-apostolischen Gemeinden her, doch ist die neuzeitliche Apostelgeschichte durch sich gegenseitig ablehnende und ausschließende Gemeinschaften bestimmt. Außerdem ist charakteristisch, dass das prophetische Amt, das die Apostel berief, nach deren Amtseinsetzung entmachtet oder durch ein Stammapostelamt wie in der Neuapostolischen Kirche völlig verdrängt wurde. Auch hier wiederholt sich, was oft in der Kirchengeschichte zu beobachten ist, dass das Amt flugs zum Charisma erklärt wird und damit die Basis hat, den Geist auszuschließen.

Die Darstellung Obsts verbindet biographische Einzelheiten der Apostel/Stammapostel mit den genauen Darlegungen der Lehren und Sonderlehren der einzelnen Gruppen und Untergruppen bzw. Abspaltungen. Die sozio-kulturellen und politischen Faktoren finden ebenso Berücksichtigung wie die aus den theologischen Besonderheiten der Gruppierungen erwachsene Kirchenkritik, gelegentlich auch die Gesellschaftskritik. Dabei gelingt es Obst treffsicher, die zentralen Besonderheiten herauszuarbeiten und von dort her das lehrmäßige Gesamtgebäude zu entfalten. Darin erweist er sich als Meister seines Faches. Er findet stets den richtigen ("hermeneutischen") Schlüssel, um den Leser in die Lehrgebäude einzuführen.

Was für den ersten Teil zutrifft, gilt auch für den zweiten Teil, in dem die "Propheten" vorgestellt werden. Dieser Teil ist ungleich größer und umfasst sehr disparate Gruppierungen, die aber alle auf Personen zurückgehen, die eine neue Heils- und/ oder Gerichtsbotschaft bringen und damit auf außergewöhnliche Gaben und Kräfte verweisen. Obst spricht davon, dass das Faszinierende nicht zuletzt "im Angebot der irdischen Erfahrbarkeit von Transzendenz" liege. Auch hier gilt aber auch, was schon für die Apostel galt: Außerhalb ihrer Anhängerschaft sind sie Verlachte, oft, besonders in Deutschland, auch Verfolgte. Sie gelten den christlichen Kirchen als "falsche Propheten", als "Lügenpropheten" (231). Obst behandelt Jakob Lorber (233-265), Joseph Smith, den Begründer der Mormonen (266-315), Mary Baker Eddy, die Begründerin der christlichen Wissenschaft (S. 316-350), Ellen G. White, die Prophetin der Siebenten-Tags-Adventisten (351-408), Charles T. Russel und Joseph F. Rutherford, die frühen Vertreter der Ernsten Bibelforscher bzw. der Zeugen Jehovas (409-454), Hermann Lorenz (455-486), August Hermann Hain (S. 487-516), Joseph Weißenberg (517-545), Oskar Ernst Bernhardt (546-574) und schließlich den Erzoberlenker der Christengemeinschaft, Friedrich Rittelmeyer (575-606).

Es ist eher unwahrscheinlich, dass man das Buch von vorn bis hinten in einem Zug durchliest. Es ist vielmehr ein Arbeitsbuch, das zu den unterschiedlichen Gruppierungen und Gemeinschaften zuverlässig die historischen Hintergründe aufschließt. Man wird das Buch also von Fall zu Fall konsultieren und ist dabei in besten Händen, um differenziert und einfühlsam das notwendige Wissen zu erfahren und behutsam auch an eine Bewertung herangeführt zu werden. Denn das ist auch eine Besonderheit des Buches, dass es sich wohltuend von geläufiger "Sektenliteratur" abhebt. Hier ist kein Marktschreier am Werk, wie sie unter Beobachtern der Sektenszene nur zu oft zu finden sind, sondern ein genau beobachtender und ruhig abwägender Wissenschaftler, der weiß, dass die Anhänger der Apostel und Propheten keine "In-Sekten" sind, sondern Menschen, mit denen man das Gespräch suchen kann und suchen sollte.

Ein Personen-, Orts- und Bibelregister sowie ein Verzeichnis der Abbildungen beschließen das Buch, das, obwohl manchmal der Stoff nicht gerade aufregend ist, dennoch nie langatmig oder langweilig wirkt.