Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2000

Spalte:

1336 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Krüggeler, Michael

Titel/Untertitel:

Individualisierung und Freiheit. Eine praktisch-theologische Studie zur Religion in der Schweiz.

Verlag:

Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag 1999. 274 S. m. Abb. 8 = Praktische Theologie im Dialog, 19. Kart. DM 59,-. ISBN 3-7278-1231-1.

Rezensent:

Christoph Müller

Mit seiner Freiburger Dissertation hat sich der Autor das Ziel gesetzt, Notwendigkeit und Chancen einer Vermittlung und Versöhnung von römisch-katholischer Kirche und moderner Freiheitskultur plausibel zu machen.

Der Titel markiert die leitende Hypothese, dass die Individualisierungstheorie als genuiner Bestandteil einer Theorie der modernen Gesellschaft sowohl die Möglichkeit biete, "Kontinuität und Diskontinuität zwischen einer klassischen und der jetzt ins Spiel gebrachten ,Zweiten Moderne' (Ulrich Beck) darzustellen", als auch die Chance eröffne, "die moderne Entwicklung der Religion als Bestandteil des allgemeinen sozialen Wandels zu analysieren" (15).

Der Autor skizziert zuerst Struktur und Semantik moderner Individualisierung anhand dichter und zitatenreicher Referate von G. Simmel, N. Luhmann, N. Elias, J. Habermas und U. Beck (Kap. 1). Spannend ist die in Kapitel 2 gebotene Darstellung der "Erosion konfessioneller Milieus", wie sie in der Auflösung des festgefügten Sozialmilieus der Schweizerischen katholischen Kirche manifest geworden ist. Die religiöse Individualisierung als Folge der Auflösung der katholisch-kirchlichen Sondergesellschaft erweist sich von daher als eine der zentralen Dimensionen des jüngsten Modernisierungsschubs überhaupt. Komplementär dazu zeigt sich die "Deinstitutionalisierung der kirchlichen ,Gnadenanstalt' die auf der klerikalen Monopolisierung der Heilswahrheiten und Heilsgüter beruht" (89, als Zitat von M. N. Ebertz).

Die Kapitel 3 und 4 präzisieren den Begriff der "religiösen Individualisierung" in Auseinandersetzung mit der Problematik des modernen Religionsbegriffs und anhand einer Zusammenfassung des entsprechenden Datenmaterials der 1993 von A. Dubach und R. Campiche herausgegebenen Studie "Jede[r] ein Sonderfall? Religion in der Schweiz. Ergebnisse einer Repräsentativbefragung in der Schweiz, Zürich/Basel". Von großer Bedeutung scheint mir die Einsicht zu sein, dass nicht Religion (hier verstanden als transzendenzbezogener Umgang mit dem Kontingenzproblem) obsolet wird, sich wohl aber "ihre gesellschaftliche Form von einer institutionell und disziplinär kontrollierten Religion hin zu einer nach individuellen Bedürfnislagen jeweils mehr oder weniger konturierbaren und aktualisierbaren Religion" verschiebe (105).

Das Kapitel 5 "Religion und Jugend (in der Schweiz)" greift nochmals auf die "Sonderfall"-Studie zurück und stellt sie in den weiteren Kontext neuerer (vor allem deutscher) Forschungsergebnisse. Zu handliche Urteile auf Grund fragwürdiger empirischer Verfahren und ebenso fragwürdiger Auswertungen werden hier in überzeugender Weise korrigiert und in verschiedene Richtungen differenziert.

Im Anschluss an lehramtliche Dokumente, an Einsichten neuer praktisch-theologischer Theoriebildung und des transzendentalphilosophischen Ansatzes von Th. Pröpper wird unter dem Leitbegriff "Solidarische Freiheit" ein Konzept von "Evangelisierung im Kontext von (religiöser) Individualisierung" entfaltet (Kap. 6). Eine sehr knappe und abstrakt gehaltene Skizze von "praktischen Dimensionen des christlichen Freiheitsdenkens" sowohl im Blick auf innerkirchliches Handeln wie auf die gesellschaftliche Praxis der Kirche(n) beschließt die Arbeit.

Die Dissertation öffnet durch ihre interdisziplinäre Anlage wichtige theologische Perspektiven. So votiert der Autor für ein Verständnis von "Evangelisierung" als offenes Kommunikationsgeschehen im Dialog des Glaubens mit der jeweiligen Zeit. Damit soll Evangelisierung als Einwegkommunikation überwunden werden, die beansprucht, eine im depositum fidei zeitlos festgeschriebene Wahrheit in eine Welt zu transferieren, die als "säkularisiert" und monolithisch vorgestellt wird.

Erhellend ist die Einsicht, dass fundamentalistische Einstellungen und die Tabuisierung religiöser Fragen komplementär gelesen werden können: "Anstelle absoluter Setzungen werden hier religiöse Fragen, Entscheidungen oder Antworten latent gehalten und hinausgeschoben, damit der letzte Sinn der Religion nicht als von der eigenen Wahl abhängig erscheinen muss" (125). Plausibel und weiterführend erscheint die Sicht der Praktischen Theologie als Rekonstruktion der primären Inkulturation des Glaubens, wie sie sie als religiöse Praxis immer schon vorfinde.

Ein Reihe wichtiger ekklesiologischer Perspektiven bleibt unausgeführt, wie etwa die "Deinstitutionalisierung" der Kirche als "Gnadenanstalt" - oder die Frage, inwiefern die Pluralisierung der Kirchen weiterhin mit einem Universalitätsanspruch kompatibel ist.

Aufschlussreich wären insbesondere Anschlussarbeiten, in denen die in manchem noch recht abgehobenen Thesen der Dissertation auf ihre Validität geprüft werden könnten, zum Beispiel in fallbezogener Auseinandersetzung mit konkreten Konflikten, wie sie im Problemfeld Individualisierung - Freiheit - römisch-katholische Kirche der Schweiz nicht lange gesucht werden müssten. Der Autor könnte auf vielfältige Erfahrungen in zwei für seine Fragestellung wichtigen Tätigkeiten zurückgreifen: einerseits als Mitarbeiter im Schweizerischen Pastoralsoziologischen Institut in St.Gallen - hier vor allem an der "Sonderfall"-Studie; andererseits in der Pastoralplanungskommission der Schweizer Bischofskonferenz.

Corrigenda: Im Literaturverzeichnis fehlen Riesebrodt (92) und Schwab (236); 133 (mit Anm. 5): wörtliche Wiederholung von 108 (mit Anm. 8); 205 f.: Zeilenverdoppelung.