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Ausgabe:

Dezember/2000

Spalte:

1334–1336

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Josuttis, Manfred

Titel/Untertitel:

Segenskräfte. Potentiale einer energetischen Seelsorge.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 2000. 267 S. gr.8. Kart. DM 58,-. ISBN 3-579-02655-0.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

"Wo Rituale waren, sind Therapien geworden." (142.184) Mit dieser deskriptiven These variiert Josuttis das bekannte normative Prinzip Sigmund Freuds "Wo Es war, soll Ich werden" und lässt damit gleichzeitig sein eigenes Seelsorgekonzept anklingen: Wo Therapie geworden ist, soll wieder religiöse Handlung werden, in der die Menschen mit der Macht des Heiligen in Berührung kommen.

Auch Seelsorger und Seelsorgerinnen bewegen sich laut J. bisweilen "sehr viel lieber, weil leichter" in psychologischen anstatt in religiösen Kategorien (201). Dem stellt er die These entgegen: "Weil nicht Identität, sondern Konversion im Zentrum ihrer Aufgabe steht, muß Seelsorge nicht vom Selbst, sondern von der Seele reden." (90)

In den Abschnitten I.-III. ("Entwicklungen", "Bewegungen", "Räume", 15-177) wird der Ansatz grundlegend gegen die rein therapeutische und rein kerygmatische Seelsorge profiliert (diese doppelte Kritik liegt bekanntlich im Rahmen des gegenwärtigen Konsenses). Die Stoßrichtung hier wird leicht aus den Überschriften erkennbar: "Von der Identität zur Konversion", "Vom Selbst zur Seele", "Vom Sinn zum Segen", "Vom Theologen zum Geistlichen" (65-124). Es folgt eine spezielle Poimenik mit klassischen Themen wie Beichte, Krankheit, Trauer und Gefängnis (IV. "Felder", 181-262).

J. bleibt in der Poimenik seiner Liturgik (Der Weg in das Leben, München 1990) und Pastoraltheologie (Die Einführung in das Leben, Gütersloh 1995) treu. Praktische Theologie als Reflexion der Begegnung mit den "machtvollen Atmosphären" unter Berufung auf Rudolf Otto und auf den Kieler Phänomenlogen Hermann Schmitz (dem das Buch u. a. gewidmet ist) bildet auch hier das theoretische Gerüst. Neu hingegen ist der Schlüsselbegriff "energetisch" bzw. "Energie". In dem Kapitel "Zu den göttlichen Energien" (47-61) wird eine rein deklaratorisch verstandene Rechtfertigung zu Gunsten eines realen Veränderungsprozesses durch religiöse Kräfte kritisiert (47). Systematisch ist damit das Theosiskonzept der Ostkirche aufgenommen (40 u. 60, zu G. Palamas) und eine Verengung auf die theologia crucis zurückgewiesen: "Die Macht des Heiligen kann auch heute Menschen ergreifen und Heil, Heiligung und Heilung bewirken." (77)

Die These wird wieder religionsphänomenologisch mit verschiedenen Belegen aus Eingeborenenreligionen begründet (etwa 49 zum melanesischen mana als Macht im umfassenden Sinne). Hinzu kommt eine Vielzahl weiterer Theoriebezüge von Wilhelm Reich über Rupert Sheldrake, William James und Kurt Lewin. Am interessantesten ist wohl die relecture der Blumhardtschen Bekehrungsgeschichte der Gottliebin Dittus, die nicht mehr wie einst von Joachim Scharfenberg hermeneutisch verstanden wird (als Befreiung durch das Sprachereignis), sondern als ein Vollzug von Heilung durch Heiligung, der psychologisch und hermeneutisch nicht zu erfassen sei. Es gelte, "auf die cartesianische Illusion eines mündigen Menschen" zu verzichten und vielmehr einzusehen: "Der Mensch ist ein Machtfeld." (44) Das theoretische Problem des gesamten Buches liegt in der Kopula dieses und vieler anderer Sätze (vgl. 28: "Das Heilige kommt in Segenskräften zur Welt."). Wie eine religiöse Phänomenologie von einer vormodernen Ontologie ohne die Denkvoraussetzung der Subjektivität abzugrenzen ist, wird nicht deutlich.

Wenn Poimenik eine Theorie für reflektierende theologische Subjekte ist, dann ist der Rückgriff auf einen vormodernen Begriff des Heiligen nur so möglich, dass ein religiöses "ist" mit einem subjektiven vermittelt wird. Auch eine Kritik an hermeneutischen Sichtweisen kommt nicht ohne Hermeneutik aus, zumal die philosophische Phänomenologie, etwa bei Husserl, vor allem eine Subjekttheorie gewesen ist. Wenn es im Rekurs auf Schmitz heißt, Atmosphären seien transsubjektive Phänomene, die sich "keineswegs psychischen Prozessen, methodischen Prozeduren oder sozialen Techniken verdanken" (166), dann ist eben diese Aussage nicht abgesehen von ihrem Sprecher (als einem in sozialen Codes verwurzelten deutenden Subjekt) möglich, weil das Heilige mindestens eine Sprache braucht, darüber hinaus aber auch eine religiöse Sprache als Deutungstradition. Damit kann die hermeneutische Frage zwar ignoriert, aber nicht umgangen werden. Dies zeigt sich etwa in der Formulierung über die Trauerriten der Callawaya. J. bemerkt: "Bei diesen indianischen Medizinmännern besteht Trauer nicht in einem psychointernen Prozess, sondern gilt als eine externe Macht" (34, Kursivierung MMBl). An diesem Punkt liegt das Erfordernis der Differenzierung.

Zustimmen muss man J. in dem Bemühen, religiöse Rede und Praxis nicht auf psychointerne Vorgänge zu reduzieren, die dann auch psychologisch substituierbar wären. In der Seelsorge gilt der Primat des göttlichen Handelns in, mit und unter psychologisch-hermeneutischen Prozessen. Die erhobenen Geltungsansprüche des Wirkens Gottes oder des Heiligen sind aber nur dann zu kommunizieren, wenn sie sich als solche zu erkennen geben und nicht hinter einer Phänomenologie verborgen bleiben, die sich nicht selbst hermeneutisch ausweist und damit in eine theoretisch unangreifbare Ontologie zurückzufallen droht. Das Zurückweisen von theoretischem Verstehen kann nur zur Folge haben, dass man sich nicht mehr verständigen kann, was im Sinne keiner Theorie sein kann.

Um das berechtigte Anliegen von J. aufzunehmen, muss theoretisch zwischen religiöser Kommunikation selbst und der Theorie religiöser Kommunikation unterschieden werden. Zu beidem muss die praktisch-theologische Theoriebildung anleiten; besonders aber dazu, beides zu unterscheiden. J. ermutigt dazu, die Seelsorge als religiöses Geschehen ernster zu nehmen. Dieses Ernstnehmen jedoch als eine individuell und sozial codierte Deutung wiederum aus der Distanz betrachten zu können, bleibt für die religiöse Profession in der spätmodernen Gesellschaft ein ebenso dringliches Erfordernis. "Vom Theologen zum Geistlichen" (108-124) - diesem Postulat ist beizupflichten. Es bleibt aber zu ergänzen: Der Geistliche muss Theologe bleiben und darf seinen drohenden Bedeutungsverlust nicht dadurch kompensieren, dass er nun nicht mehr zum Therapeuten, sondern zum vormodernen Schamanen zu mutieren versucht.