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Ausgabe:

Dezember/2000

Spalte:

1333 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Hübner, Ingolf, u. Jochen-Christoph Kaiser [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Diakonie im geteilten Deutschland. Zur diakonischen Arbeit unter den Bedingungen der DDR und der Teilung Deutschlands.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1999. XVII, 251 S. gr.8. Kart. DM 39,90. ISBN 3-17-015758-2.

Rezensent:

Reinhard Turre

Der Berichtsband ist in vier Teile gegliedert: Den Überblicken vorrangig aus der Sicht westdeutscher Historiker (I) folgen nur sporadisch ausgewählte Etappen (II), ausgewählte Einzelthemen (III: Ausbildung, Mission, Schrifttum, ökumenische Diakonie und Öffentlichkeitsarbeit) und im letzten Teil Reflexionen (IV: Geschichtsschreibung und Theologie der Diakonie). Nach jedem Vortrag ist die Diskussion kurz dokumentiert. In ihr sind offenbar die Zeitzeugen aus der DDR besonders aktiv geworden. Der Titel des Buches sowie der Tagung verspricht mehr als er halten kann. Es geht nicht im umfassenden Sinn um die Diakonie im geteilten Deutschland, sondern nur, wie der Untertitel konkretisiert, um Betrachtungen zur diakonischen Arbeit in der DDR, vorrangig in der Perspektive von Historikern. Es ist für die Zeitgenossen reizvoll zu sehen, wie eine junge Generation im nachhinein und von außen Analysen und Bewertungen vornimmt. Es tut sich auch hier das grundsätzliche Dilemma historischer Arbeit auf, dass die vorfindliche Aktenlage nicht zureichend die tatsächliche Sachlage erfasst.

Im 1. Teil ordnet Heinz-Georg Binder als Zeitzeuge mit viel Hintergrundwissen die diakonischen West-Ost-Kontakte in das Gefüge der westdeutschen Ostpolitik in den Zeiten des Kalten Krieges und der Annäherung ein. Arnold Sywottek hat in einer gründlichen und treffenden Studie die Sozialstaatlichkeit in Westdeutschland und in der DDR nach 1945 verglichen. Der Herauslösung aus der Tradition der deutschen Wohlfahrtspflege durch die auf Verstaatlichung gerichtete Sozialpolitik der DDR geht Wilfried Rudloff offenbar nach intensiven Studien, besonders zur Jugendhilfe, nach.

Von den beiden Herausgebern dieses Bandes geht der eine unter dem Titel "Diakonie in der Diktatur" das Thema weiträumig und der andere unter der Überschrift "Diakonie zwischen Selbständigkeit und Kooperation" das Thema konzentriert auf den Zeitraum von 1953-1989 an. Interessant ist, wie im ersten Beitrag von Jochen-Christoph Kaiser wiederkehrende Phänomene für die Diakonie im totalitären Staat aufgezeigt werden: Versuch der Gleichschaltung, Abdrängung in für den Staat uninteressante Arbeitsfelder, Tendenzen zur Verkirchlichung, pragmatisches Handeln.

Im Beitrag von Ingolf Hübner, dem eigentlichen Inaugurator der dokumentierten Konferenz, geht es vor allem um die Frage, in welchem Maße unter den Bedingungen des sozialistischen Staates die Diakonie ihre Selbständigkeit in dem von der Kirche gewährten Schutzraum bewahren konnte. "Die Feststellung, dass die Diakonie diesen Schutzraum gestaltete und dabei begrenzte, gehört wohl ebenso zu einer angemessenen Reflexion wie die Einsicht, dass dieser Schutzraum ... durch eine akzeptierte Funktionalisierung ... die DDR zugleich entlastete und stabilisierte" (88). Damit ist ein Grundproblem beschrieben, durch das es sowohl zu innerkirchlichen Spannungen wie auch zu Konflikten mit den staatlichen Funktionsträgern kam.

Unter den im 2.Teil des Buches aufgenommenen Etappen ist die Darstellung der Entstehung des Werkes "Innere Mission und Hilfswerk der Evangelischen Kirchen in der DDR" in nahem Zusammenhang mit der Gründung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR von Christian Dietrich gut recherchiert. Leider ist Wolfgang Höser nur um einen Beitrag über die Finanzierung des diakonischen Auftrags in der DDR gebeten worden. Er hätte als Zeitzeuge, der zuerst in der Mutterhaus-Diakonie und danach nicht nur als Direktor des Diakonischen Werkes Thüringens, sondern auch als Vorsitzender der Hauptversammlung tätig war, weit mehr zur Thematik beitragen können. Auf die Darstellung der Einzelthemen muss hier verzichtet werden.

Beide Beiträge im letzten Teil des Buches sind von besonderem Gewicht. Kurt Nowaks Versuch, die Geschichtsschreibung der Diakonie endlich als beachtlichen Teil der Kirchengeschichte zu begreifen, kann weit über den in diesem Band behandelten Zusammenhang als bedeutsam angesehen werden. Er ruft dazu auf, die Wahrnehmungsschwäche der Kirchengeschichte für das soziale Leben zu überwinden. Er selbst hat ja vorzügliche Studien über die Behandlung der Behinderten im 3. Reich und ihre Hintergründe vorgelegt. So plädiert er dafür, künftig in der Kirchengeschichte die Sozialgeschichte stärker zu berücksichtigen. So würde auch die Diakonie in allen Epochen künftig einen angemessenen Platz in der Kirchengeschichte bekommen. An den Ausführungen von Kurt Nowak werden künftige Kirchengeschichtsdarstellungen nicht vorbei können. Sie wird ihre Berührungsängste gegenüber der säkularen Sozialgeschichte überwinden müssen.

Der Band findet seinen Abschluss in dem Beitrag des langjährigen Direktors des Diakonischen Werkes in der DDR, Ernst Petzold, über die Theologie der Diakonie in der DDR. Wer sich durch einen Zeitzeugen über das besondere Profil diakonischer Arbeit in der DDR informieren lassen möchte, findet hier in konzentrierter und präziser Form Auskunft. Es wird an die Impulse Heinz Wagners erinnert und auf die Möglichkeiten diakonischer Arbeit durch eine Kirche in der Minderheit aufmerksam gemacht. Die Spannungen in der kleiner werdenden Kirche mit der beachtlich umfänglichen diakonischen Arbeit werden nicht verschwiegen. Sie werden ja ein Thema bleiben.

Druckfehler: S. 234, Anm. 34 muss es heißen: Hans-Joachim Wollstadt.