Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2000

Spalte:

1326 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Obrist, Willy

Titel/Untertitel:

Die Natur - Quelle von Ethik und Sinn. Tiefenpsychologie und heutige Naturerkenntnis.

Verlag:

Zürich-Düsseldorf: Walter 1999. 351 S. m. Abb. 8. Geb. DM 58,-. ISBN 3-530-40058-0.

Rezensent:

Kurt Lüthi

Der Autor weist sich in Studien der Philosophie, Geschichte und Medizin aus und argumentiert mit einer hohen naturwissenschaftlichen Kompetenz. Er hat sich als Facharzt betätigt, ist Absolvent des C. G. Jung-Instituts in Zürich und war dann in freier psychotherapeutischer Praxis tätig. Seine Argumentation ist radikal interdisziplinär (vgl. dazu die Postulate 276 ff.). Seine Ziele sind - in einer Kurzformel gesagt-: Nachweis einer Synthese von physischen und psychischen Erkenntnisweisen. Und inhaltlich: Nachweis einer Synthese der naturwissenschaftlichen Evolution und der Bewusstseins-Evolution. Weiter geht es dem Autor darum zu zeigen, dass Vorstellungen des Geistigen mit dem heutigen Wissen zur Natur kompatibel sind. Dabei wird auch der historische Wandel von archaischen Kulturen zum Mittelalter und zur Neuzeit berücksichtigt; für diesen Wandel übernimmt O. auch den Begriff des Paradigmenwechsels im Sinne von Kuhn (z. B. 175, 241). Wichtig ist ihm schließlich eine "neue Vorstellung des Geistigen" (89 ff.), u. a. mit der Feststellung einer "Innerlichkeit der Lebewesen" (89).

In der Argumentation des Autors hat eine bestimmte Parallelität einen hohen und kritischen Stellenwert: die Parallelität zwischen der natürlich-biologischen Evolution mit der Bewusstseins-Evolution, wobei er einen sehr differenzierten Begriff der Evolution des Bewusstseins vertritt (26.33 ff., ferner 55 ff.68ff.). Damit ergibt sich für das Menschenbild ein bestimmtes Resultat, an dem man nicht mehr vorbeigehen dürfte: der Mensch existiert "bewußt-unbewußt" (28). Dieses Menschenbild bedingt, dass der neuzeitliche Empiriebegriff durch die Bildersprache des Unbewussten ausgeweitet werden muss (239 ff., auch 250 ff.).

Was O. grundsätzlich darlegt, impliziert auch Feststellungen zum Wandel der Zeit und der Epochen und Darlegungen zum Zerfall alter Weltbilder: es gibt eine Krise der Mythen und Werte, und diese Krise zeigt sich im "Unbehagen" des heutigen Menschen. Begriffe wie Offenbarung, Jenseits, Himmel-Hölle beschreiben das aktuelle Erleben von Wirklichkeit nicht mehr: ein "oberes Stockwerk" im Sinne alter Weltbilder gibt es nicht mehr (83 f.); darum muss auch "... die Vorstellung von der Quelle der Ethik vom Himmel heruntergeholt und in die Natur hinein verlegt werden" (283). Welches sind nun die neuen Zielvorstellungen, die das Buch von O. vertritt? Wichtig sind für den Autor "Schulen der Spiritualität, deren Ziel die Hinführung des Menschen zu psychischer Reifung ist" (289). "Lernen" bedeutet hier die Bereitschaft, Wege der Bewusstwerdung zu vertreten; der Lehrer ist "spiritueller Meister" (290). Ethische Haltungen und eine neue Ethik entstehen durch Individuationsprozesse, also durch Wege zum "Selbst" (293). Solche Prozesse sind es dann auch, die aus der heutigen Krise der Werte hinaus führen. Und damit wird dann auch die "Religiöse Dimension wieder erschlossen" (304), wobei eine "Religiosität ohne Religion" entsteht. Im Zusammenhang des eben Dargestellten spielt nun bei O. das Theologumenon der Trinität eine bestimmte Rolle, wobei es ihm nicht um das Dogma, sondern um das Trinitätssymbol geht: "In der Sprache des Unbewußten bedeutet das Auftreten von Trinitätssymbolen, daß der psychische Prozeß an Dynamik zunimmt. Da nun Symbole nicht Psychisches ausdrücken, sondern auch Psychisches bewirken, kann das christliche Trinitätssymbol als Psychomotor für die Entwicklung der abendländischen Kultur angesehen werden ..." (309). Zusammenfassend gilt dann für das Problem der Religion: ",Gotteserlebnisse' beruhen auf unmittelbarem Erleben des Selbst" (310).

M. E. müssten drei Gesichtspunkte ein weitergehendes Gespräch beeinflussen.

Erstens: Die erkenntnisleitenden Interessen des Buches von O. erinnern mich an zwei Positionen, an die von Teilhard de Chardin und an die von Ernst Anrich ("Moderne Physik und Tiefenpsychologie. Zur Einheit der Wirklichkeit und damit der Wissenschaft", Stuttgart 1963). Sicher gibt es heute neue Einsichten der Naturwissenschaften, die O. berücksichtigt. Trotzdem empfinde ich es als Defizit, dass ältere Versuche, in diesen Bereichen Synthesen zu finden, nicht berücksichtigt werden; ein Vergleich wäre sinnvoll. Dieser Vergleich könnte drei Problembereiche berücksichtigen: Die Konvergenz zwischen der biologischen Evolution und der Evolution des Bewusstseins, die Neudefinition des "Geistigen" in Bezug auf die Materie, den Punkt Omega im Sinne Teilhards, der die eschatologische Prägung der biblischen Botschaft integriert.

Zweitens: Die Aussagen von O. zur "Ethik" können einmal mehr individualistisch missverstanden werden, indem hier die eigentlichen gesellschaftlich-politischen Konkretionen nicht thematisiert werden; O. müsste m. E. deutlicher zeigen, welche gesellschaftlichen Implikationen Reifewege des Individuums haben. Ein Vorschlag: es wäre der sog. "erweiterte Armutsbegriff" im Rahmen heutiger Ethik zu berücksichtigen, der die "seelische Obdachlosigkeit" und die ökonomische Armut zusammensieht (vgl. W. Dirks [Hrsg.]: Gefahr ist. Wächst das Rettende auch? Befreiende Theologie für Europa, Salzburg 1991, 103 ff., 106). Damit werden u. a. folgende ethische Konkretionen berücksichtigt: der "Andere" (Fremde) als eigener Schatten, Triebstruktur und Gesellschaft, ökologische Herausforderung usw.

Drittens: Die Qualifikation der "Historisch-Kritischen Methode" der Theologie als ein "tödliches Virus" vermag nicht zu überzeugen; der Theologe empfindet sie als fundamentalistisch und als Rückfall hinter die Epoche der Aufklärung. Der Erkenntniswandel durch das Entmythologisierungsprogramm Bultmanns und die Verstehenstheorie Gadamers (mit dem sog. hermeneutischen Zirkel) ist irreversibel. Allerdings wäre - auch als Konsequenz der Argumente von O. - der Dialog zwischen Theologie und Tiefenpsychologie zu postulieren (vgl. K. Lüthi/K. N. Micskey [Hrsg.]: "Theologie im Dialog mit Freud und seiner Wirkungsgeschichte", Wien-Köln-Weimar 1991). Voraussetzung dieses Dialogs ist die Berücksichtigung des Unbewussten und seiner Wirkung auch in biblischen Texten und in allen Texten religiöser Traditionen. Einmal mehr möchte ich den mit Freud befreundeten protestantischen Pfarrer Oskar Pfister zitieren (wobei ich allerdings eine Kritik der orthodoxen Auffassung der Psychoanalyse voraussetze): "Die psychoanalytische Methode ist ein prachtvolles Mittel, die Religion zu läutern und zu fördern".